Gegen Politik am Rande des Abgrunds

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Albert Schweitzers Appelle zur Bewusstmachung der Atomkriegsgefahr haben leider nach wie vor nichts an Aktualität verloren

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Albert Schweitzers Appelle zur Bewusstmachung der Atomkriegsgefahr haben leider nach wie vor nichts an Aktualität verloren

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Ein Krieg zwischen zwei Atommächten wäre gleichzusetzen mit gegenseitigem Selbstmord". Im April 1957 richtete Albert Schweitzer über den norwegischen Rundfunk drei Appelle zur Bewusstmachung der Atomkriegsgefahr an die Menschheit. Weltweit schlossen sich 140 Radiostationen dieser Übertragung an.

Wie recht Schweitzer hatte und an welch seidenem Faden der Weltfrieden seitdem hing macht unter anderem eine Ende August vorgestellte Nixon-Biographie deutlich. "Die Arroganz der Macht: Das Geheimnis von Richard Nixon" titelt das Werk des amerikanischen Autors Anthony Summers, das nicht nur Sensationelles, sondern noch mehr Erschreckendes offenbart. US-Präsident Nixon soll neurotisch gewesen sein und in rauen Mengen Anti-Depressiva geschluckt haben. Aufgrund der öffentlichen Kritik an seiner Person ging es Nixon vor allem während des Krieges gegen Vietnam und Kambodscha besonders schlecht Noch lebende Zeugen gaben nach der brisanten Veröffentlichung ausgiebig Interviews und bestätigten Summers Enthüllungen. Nixons Verteidigungsminister James R. Schlesinger erklärte, das gesamte Militär 1974 angewiesen zu haben, auf Kommandos aus dem Weißen Haus nicht mehr zu reagieren. Zu besorgt sei er über den "geistigen Zustand" des Präsidenten gewesen.

Arnold Hutschnecker, der Psychiater des Präsidenten, veröffentlichte nach Nixons Rücktritt eine Kolumne in der "New York Times". Im Lichte heutiger Erkenntnisse sagt sie um einiges mehr aus, als vor gut 25 Jahren. Die Ärzte, schrieb Hutschnecker damals, müssten am Regieren beteiligt werden. Sie wären in der Lage, "ihre Stimme zu erheben, wenn menschliches Streben nach Macht außer Kontrolle zu geraten scheint."

Einer der Ärzte, der seine Stimme erhoben hat, war der "Urwalddoktor" Albert Schweitzer. Seine Rede aus 1954 anlässlich der Überreichung des Friedensnobelpreises 1952 über "Das Problem des Friedens in der heutigen Welt" sorgte für großes Aufsehen und erfuhr weltweite Verbreitung.

Trotzdem, Schweitzers Weltformel "Ehrfurcht vor dem Leben" war in den vergangenen Jahrzehnten weniger erfolgreich als jene Formel der Supermächte, die auf der jeweiligen Furcht vor dem anderen beruht. Die bereits erwähnte Nixon-Biographie und die folgenden Beispiele sollen jedoch zeigen, auf welch unsicheren Füßen die - leider bis heute von sehr vielen akzeptierte - Abschreckungstheorie steht.

Schon im Koreakrieg 1950 bis 1953 wollte der damalige Oberbefehlshaber der UNO-Truppen, General McArthur, die Masseninvasion der chinesischen Armee in den Süden durch den Einsatz von Atomwaffen aufhalten. Dieser Plan wurde durch US-Präsident Truman verhindert, und die UNO konnte letztlich sehr verlustreich durch konventionelle Kriegsführung siegen.

Zu einem weiteren gefährlichen Zwischenfall kam es 1962 während der Kuba-Krise. Der Kalte Krieg war auf einem seiner Höhepunkte angelangt. Nikita Chruschtschow ließ Atomraketen auf Kuba positionieren, die unmittelbar die USA bedrohten. Eine direkte Bedrohung mit Atomwaffen sozusagen vor der Haustür war für den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy absolut unakzeptabel. Kennedy drohte offen mit der Auslösung eines Atomkrieges - und Chruschtschow zog die Atomraketen wieder ab.

Dreimal Kriegsgefahr Obwohl der Nato-Krieg gegen Jugoslawien nur wenig mehr als ein Jahr zurückliegt, ist es vielen gar nicht mehr in Erinnerung, dass sich im ersten Halbjahr 1999 die ganze Menschheit gleich mehrere Male in Weltkriegs-(Atomkriegs-)gefahr befunden hat. Vor allem haben viele Menschen den Wutausbruch des russischen Präsidenten Boris Jelzin am ersten Kriegstag, dem 24. März 1999, einfach nicht ernstgenommen. "Er spinnt halt wieder einmal ..." Jelzin sei empört über die grobe Verletzung der Uno-Charta durch die Nato-Truppen, war den Nachrichten zu entnehmen. Und die offene Drohung von Seiten Russlands wurde gleich nachgereicht: "Es wird daran gedacht, taktische Atomwaffen in Weißrußland zu stationieren."

Nur sieben Wochen später gab es die nächste Gefahrensituation. Am 10. Mai wurden durch einen gezielten Bombentreffer die chinesische Botschaft in Belgrad zerstört und vier Botschaftsangehörige getötet.

Der dritte, weitaus gefährlichste Zwischenfall ereignete sich am 11. und 12. Juni 1999. Nachdem eine russische Panzereinheit überraschend den Flughafen von Pristina besetzte, erklärte der britische General Michael Jackson, er sei nicht bereit, den Dritten Weltkrieg durch die Eroberung des Flugplatzes und das Niederwerfen der russischen Truppen zu beginnen.

Was wäre geschehen, hätte es weniger umsichtig handelnde Militärs gegeben, wären die Sicherungen vor einem atomaren Weltkrieg doch eines Tages durchgebrannt? Dazu ein paar Zahlen über den Stand der Bewaffnung in der heutigen Welt: Die USA und Russland besaßen 1998 zusammen (fast paritätisch) 13.180 einsatzbereite Atomsprengköpfe. Die sechs "jüngeren" und kleineren Atommächte teilen sich den Besitz von 1.200 nuklearen Sprengköpfen. Die Militärausgaben der ganzen Welt beliefen sich 1998 auf 842 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen auf die USA rund ein Drittel (275 Milliarden US-Dollar) und auf Russland 11,2 Milliarden US-Dollar. Der im Vergleich lächerlich niedrige russische Betrag darf aber nicht zur Unterschätzung des immer noch vorhandenen nuklearen Vernichtungspotentials Russlands verleiten.

Rüstung stagniert Als "Politik am Rande des Abgrunds" bezeichnete die Abschreckungsstrategie der frühere amerikanische Außenminister John Foster Dulles. Letzten Endes zielt Abschreckungspolitik darauf, den politischen Gegner vor die Wahl zu stellen, entweder nachzugeben oder - wie von Albert Schweitzer anfangs zitiert - "gegenseitigen Selbstmord zu begehen". Die Meldung, dass die weltweiten Rüstungsausgaben nach zehn Jahren erheblicher Kürzungen wieder zu steigen beginnen, deutet ebenfalls auf einen Fortbestand der Abschreckungspolitik hin. Wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut "Sipri" in seinem Jahrbuch 2000 zu Rüstung und Abrüstung angibt, sind die Militäretats aller Staaten 1999 im Vergleich zum Vorjahr um 2,1 Prozent gestiegen. Bleibt die Hoffnung, Sipri-Chef Adam Daniel Rotfeld behält mit seiner Prognose Recht: Der erneute Anstieg der Militärausgaben darf seiner Meinung nach nicht überbewertet werden. Grundsätzlich sei eine Stagnation zu bemerken. Und vor allem: Auch in den kommenden Jahren ist laut Rotfeld keine Explosion der Rüstungsausgaben zu erwarten.

Der Autor ist Mitglied der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) und Vorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes - Österreichischer Zweig.

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