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Gegenwartsnahe Kirche

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.Der Lutherische Weltbund hat in den ersten fünf Jahren seines Bestehens für die in ihm vereinigten lutherischen Kirchen der Welt eine doppelte Aufgabe erfüllt: er hat den Grund für ihre geistige und geistliche Einheit gelegt und zugleich ihre praktische Zusammenarbeit in weltweiten Hilfsaktionen verwirklicht." Mit diesen Worten charakterisierte der Präsident des Lutherischen Weltbundes, Bischof DDr. Anders N y g r e n (Lund), auf der letzten Sitzung des bisherigen Exekutivkomitees die erste Fünfjahresperiode des Weltbundes.

Unter diesen Gesichtspunkten kann die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover (25. Juli bis 3. August 1952) als Beginn eines neuen Abschnittes in der kirchengeschichtlichen Entwicklung angesehen werden. Dazu kommt, daß diese bisher größte ökumenische Tagung auf deutschem Boden in einem Zeitpunkt stattfand, da die Spannungen zwischen Ost und West aufs neue gewachsen sind; die Vertreter und Besucher aus der deutschen Ostzone — man hatte 5000 erwartet — erhielten mit ganz wenigen Ausnahmen keine Ausreis ebe willigung.

Mit einem feierlichen Gottesdienst in der erst kürzlidi wiederaufgebauten Marktkirche, einem gotischen Backsteinbau aus dem 14. Jahrhundert, wurde die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes eröffnet. Der Einzug der Delegierten, ihrer Stellvertreter und der offiziellen Besucher aus 24 Ländern bot ein eindrucksvolles Bild des weltumspannenden Charakters der Tagung. Das Evan-

gelium wurde in deutscher, englischer und schwedischer Sprache verlesen, mehrsprachig erklang auch der von Posaunen begleitete Gemeindegesang. Landesbischof Dr. L i 1 j e (Hannover) begann seine Predigt mit einer Fürbitte für „die Brüder, die nicht bei uns sein können". „Wir gedenken ihrer“, sagte er, „ohne Furcht vor den Mächtigen dieser Welt, sondern in der Verbundenheit, die keine weltliche Macht lösen kann." Im weiträumigen Kuppelsaal der Stadthalle wurden die Beratungen der Vollversammlung mit einem grundlegenden Vortrag von Bischof Nygren, Lund, über das Leitwort der Tagung „Das lebendige Wort in einer verantwortlichen Kirche“ eröffnet. „Die Konferenz sei", so sagte er unter anderem, „nicht dazu da, nur die Formulierung der Reformation zu wiederholen, sondern ihre Aufgabe sei es, von einem neuen Gesichtspunkt aus das eine, einheitliche Evangelium wieder zu durchdenken und in neuen Worten auszudrücken; es gelte den Schritt vom Apostel Paulus, auf dem bei Luther der Akzent lag, zu Johannes zu tun."

Ein Festakt in der Oper bot den Repräsentanten von Staat und Kirche Gelegenheit, dem Lutherischen Weltbund ihre Grüße zu übermitteln. Ein Schreiben des westdeutschen Bundespräsidenten Prof. Heuß gab dem Dank des deutschen Volkes für das „Samariterwerk der Weltchristenheit an einem geschlagenen Volk“ Ausdruck. Als Sprecher der Bonner Regierung erklärte Innenminister Dr. Lehr: „Die Zeiten sind vorbei, in denen Religion Privatsache war." Gottes Wort schaffte die Verantwortlichkeit für alle Bereiche des persönlichen und öffentlichen Lebens. Der Ministerpräsident des Landes Nieder sachsen würdigte die Tatsache, daß schon zwei Jahre nach Beendigung der Kampfhandlungen auf der Weltbundtagung in Lund Deutschland zur Stätte der nächsten Vollversammlung ausersehen wurde, als ein Zeichen für die völkerverbindende Kraft der Kirche. Der bayrische Landesbischof D. Meiser wies darauf hin, daß es hier nicht um eine Luther-Verherr- lichung ginge, sondern daß die Hauptsache in die Mitte gehöre, daß „Christus ist aller Völker Heil, aller Gewaltigen König und Herr .

Uber „Staat und Kirche in lutherischer Sicht" sprach in der Vollversammlung der norwegische Bischof Dr. Eivind Berg- grav, der als Vorkämpfer der norwegischen Widerstandsbewegung weithin bekannt geworden ist. Von zwei Fragen ausgehend, wo im Luthertum die Grenze zwischen echtem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und verwerflicher unbiblischer Servilität liege, und wie sich die Kirche zum modernen Wohlfahrtsstaat stellen solle, rückte Berggrav nachdrücklich von der Meinung ab, als müsse der Christ jeder Obrigkeit, auch der tyrannischen, gehorchen. Einer Obrigkeit gegenüber, die in Tyrannei und Gesetzlosigkeit verfallen ist, gelte immer: „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen." Andererseits sei es nicht Aufgabe der Kirche, einen Aufruhr zu organisieren und zu leiten. Sie müsse aber unerschrocken dem Unrechttäter die Wahrheit aus dem Evangelium und dem Gesetz Gottes verkündigen. Wenn sie ohne Gefahr leben wolle, wäre sie keine christliche Kirche. — Den modernen Wohlfahrtsstaat charakterisierte der Bischof dahin, daß er einerseits ohne jede Anerkennung Gottes seine Aufgabe ausübt, andererseits aber sich berechtigt glaubt, in alle Gebiete des Menschenlebens einzugreifen und dabei auch nicht vor dem Gewissen halt macht.

In vier Punkten faßte Bischof Berggrav die Forderungen zusammen, die die Kirche in legitimer Weise an den Wohlfahrtsstaat stellen müsse: Die volle Freiheit der Verkündigung des Wortes und die Betätigung christlicher Liebe am Mitmenschen; die Kirche dürfe nicht zum Werkzeug irdischer Machtpolitik werden; das Erziehungsrecht müsse prinzipiell bei den Eltern bleiben, wie auch die freie Zeit der Jugendlichen nicht restlos von den staatlichen Organen beschlagnahmt werden darf; niemandem, weder Eltern noch Kindern, darf durch den Staat etwas aufgezwungen werden, was gegen Gottes klares Gebot ist. Abschließend warnte Bischof Berggrav nachdrücklich vor der Bindung der Kirche an eine bestimmte politische Partei. — Politische Betätigung aber stehe nicht nur jedem frei — auch den Geistlichen, obwohl man den Pfarrern besondere Wachsamkeit empfehlen müßte —, sondern sei Pflicht aller verantwortungsbewußten Christen.

Während die Beratung grundlegender Fragen, wie etwa das Wesen des kirchlichen Gottesdienstes, Theologie und Weltmission, Flüchtlingsdienst und anderes der in den Vormittagsstunden tagenden Vollversammlung Vorbehalten blieb, war die eigentliche Kleinarbeit den nach Sachgebieten geordneten Sektionen übertragen worden. Es gab deren sechs: Theologie, Weltmission, Innere Mission, Haushalterschaft und Zeugendienst, Studenten und Jugend, Frauenarbeit in der Kirche. Besonderes Interesse fand die Arbeit der Sektion 3 (Innere Mission), in der die Abkehr von dem „Ein-Mann- System" und die Aktivierung der Laien gefordert wurde. Sehr lehrreich für die europäischen Vertreter war die Aussprache mit den Amerikanern in der Sektion 4 (Haushalterschaft und Zeugendienst). Der wichtigste Unterschied zwischen den Kirchen Amerikas und Europas, erklärte Präsident Stoughten (USA), sei die ehrenamtliche Mitarbeit der Laien in der christlichen Gemeinde. Was man drüben mit „stewardship" und „Every member Visitation" praktiziert, steht in Europa weithin erst in den bescheidensten Anfängen. Es ist die radikale Absage an das „Ein-Mann-System" in der Kirche und die Verwirklichung des Grundsatzes „Wir alle sind im Dienst“.

Die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes wollte kein Parlament kirchlicher Fachleute sein, sondern die Gemeinden in weitestem Maße an dem Geschehen in Hannover beteiligt sein lassen. Darum wurden in Ergänzung des eigentlichen Tagungsprogramms noch besondereVeranstaltungen, Vorträge und kulturelle Darbietungen als „Lutherische Woche" weiteren Kreisen zugänglich gemacht. Da konnte man erleben, wie etwa die Vertreter der „jungen“ Kirchen aus Asien und Afrika packend und überzeugend davon sprachen, daß man in Europa sehr viel von den „jungen" Kirchen lernen könne. Es könne sein, daß es sich als nötig erweise, Missionare aus dem Osten nach Europa zu schicken, um hier Mission zu treiben.

Oder man nahm sich Zeit, um an dem Internationalen Filmtreffen teilzunehmen und sich durch Fachleute über das kirchliche Filmschaffen der Gegenwart unterrichten zu lassen.

Oder man hörte in den Abendstunden alte Kirchenmusik, von deutschen und amerikanischen Chören dargeboten. Daß auch Vertreter der Jugend aus

24 Ländern in Hannover zusammengekommen waren und ebenso wie die Frauen aus aller Welt in besonderen Veranstaltungen und Arbeitsgruppen Gegenwartsfragen von der Sicht des Evangeliums her besprachen, darf nich! unerwähnt bleiben.

So war die Erklärung des neuen Präsidenten des Lutherischen Weltbundes Dr. Lilje bei der letzten Pressekonferenz am 3. August: „Dies war eine historische Tagung" wohl berechtigt. Schon die Tatsache, daß inmitten einer ungeordneten Weltlage auf dem Boden der im Weltbund zusammengeschlossenen Kirchen trotz mancher Spannungen eine solche Gemeinsamkeit möglich war, stellt einen Beitrag zum Frieden dar, den andere problematischere Unternehmungen unserer Tage kaum leisten können.

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