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Gehorsam oder Gewissen?

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Die versprochene Entsatzoperation ließ auf sich warten, weil erst Verbände aus Frankreich herangebracht werden mußten; doch holte man für einen durchschlagenden Erfolg um zwei Panzerdivisionen zuwenig heran. So blieb die Befreiungsoffensive von Generaloberst H o t h, die am 12. Dezember begonnen hatte, am 19. Dezember etwa 50 Kilometer vor Stalingrad stecken. Der Kommandierende General des LI. AK., von S e y d 1 i t z, den unser Bild zusammen mit General Pfeffer auf dem Divisionsgefechtstand der 297. ID. in der Kalmückensteppe zeigt (Abb. 2), hatte ein Jahr zuvor entscheidend an der Befreiung der im Kessel von Demjansk eingeschlossenen Soldaten mitgewirkt. Er galt deshalb als „Spezialist“ für solche Unternehmungen und wußte, daß Stalingrad nicht mit Demjansk zu vergleichen sei. Seine Alternative lautete: Ausbruch oder Untergang der 6. Armee! In einem mutigen und sachlieh unwiderlegbaren Dokument forderte er Paulus auf, gegen die Weisungen Hitlers auszubrechen; überdies erbat er Weiterleitung seiner schriftlichen Stellungnahme an Hitler. Paulus ließ die Beurteilung des angesehenen Generals an Feldmarschall M a n-stein weiterleiten, den einzigen Zwischenvorgesetzten zwischen ihm und Hitler. Dort blieb das Dokument aber liegen — der Ausbruch blieb verboten. Feldmarschall Manstein wünschte zwar den Ausbruch, er befahl ihn aber nicht direkt und vertröstete Paulus auf dessen ausdrückliche Bitte um die Ausbruchsgenehmigung auf einen späteren Termin.

Es besteht wohl kaum ein Zweifel, daß eine geschlossene Masse von 22 deutschen Divisionen, an einer Ausbruchsstelle konzentriert, im Kampf auf Leben und Tod 50 Kilometer unbefestigte Kalmückensteppe bezwungen hätte, um den Anschluß an Hoths Entsatztruppen zu finden. Diese Möglichkeit gab es aber nur vom 19. bis 23. Dezember 1942; denn bald zeichnete sich die Gefahr eines „Super-Stalingrad“ für den gesamten Südteil der deutschen Front ab, als die Russen am westlichen Donufer durchbrachen und in Richtung Rostow rasch vorstießen. Schon hatten sie das große Verpflegungs- und Nachschublager der 6. Armee in Tatzinskaja mit ihren Panzern erreicht: riesige Bestände an Lebensmitteln, Winterbekleidung, Munition und Benzin wurden durch Feuer zerstört, zahlreiche Transportmaschinen auf dem Flugplatz vernichtet.

Verhängnisvolles Zögern

In dieser Situation, die man 2000 Kilometer entfernt im „Führerhauptquartier“ kaum so genau kannte, hätte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Feldmarschall Manstein, sich zu einer sofortigen Und klaren Entscheidung aufraffen müssen: in den Kessel hineinzufliegen oder durch Funkspruch Paulus klar und unver-klausuliert den Ausbruch zu befehlen. Wenn auch Paulus vom Kessel aus die große Lage nicht übersehen konnte — Manstein hatte diesen Einblick und wußte, daß nun, um den 20. Dezember herum, die Entscheidung über Rettung oder Untergang der 6. Armee getroffen werden mußte. In seinem Buch „Verlorene Siege“ versucht Feldmarschall Manstein, sich zu rechtfertigen: er hätte Paulus gedeckt, falls dieser dem Schein nach Hitlers Befehl durchgeführt, das heißt, einen Korridor von Stalingrad zur Entsatzarmee gebildet (Deckname „Wintergewitter“) und dann während dieser Operation gemeldet hätte, er müsse Stalingrad aufgeben und ausbrechen (Deckname „Donnerschlag“), wenn nicht seine gesamte 6. Armee verlorengehen solle. Halbe Maßnahmen konnten aber diese durch eine Fehlplanung Hitlers verfahrene Situation nicht mehr retten. Es gab, wie Seydlitz richtig erkannt hatte, nur zwei Möglichkeiten: das große Risiko eines Ausbruchs zur Entsatzarmee hin oder den sicheren Untergang von etwa 200.000 Soldaten.

Die „Madonna von Stalingrad“

Große Niedergeschlagenheit, dumpfe Resignation und bittere Enttäuschung kennzeichneten die Stimmung der eingeschlossenen Truppe zu Weihnachten 1942. Ihre tiefste Sehnsucht drückten die drei Worte: „Licht, Leben, Liebe“, aus, die unter der von einem Arzt und einem Pfarrer im Kessel gezeichneten „Madonna von Stalingrad“ standen. Ein Offizier, der die Gefangenschaft überlebte, schildert den Eindruck dieses Bildes auf ihn: „Inmitten der Not und des Grauens eines hoff-nungs- und erbarmungslosen Geschehens, in der Nachbarschaft des Todes, strömte von diesem eindrucksvollen Bild die Kraft und der Trost einer überirdischen Geborgenheit'.“

Darf ein „Führer“ 200.000 Menschen opfern?

Das Führerhauptquartier war wiederholt durch Augenzeugen über die wahre Lage im Kessel ganz nüchtern und sachlich informiert worden. So wurde zum Beispiel der 1. Ordonnanzoffizier der Armee, ein Ritterkreuzträger, noch Mitte Jänner direkt nach Rastenburg zur „Wolfsschanze“ geflogen, mit der Bitte um eine klare Entscheidung, ob mit wirkungsvoller Hilfe zu rechnen sei. Diese offizielle Anfrage der 6. Armee erfolgte bei Hitler, nachdem dieser ein russisches Ultimatum zur Kapitulation unter ehrenvollen Bedingungen am 8 Jänner abgelehnt hatte.

„Nähmaschinen“, wie wir die russischen Flugzeuge wegen ihres charakteristischen Geräusches nannten, hatten tausende Flugblätter über dem Kessel abgeworfen, in. denen die militärische Lage der 6. Armee richtig geschildert wurde, ebenso die Schwierigkeit ihrer Versorgung und die Aussichtslosigkeit eines Entsatzes. Für den Fall der Kapitulation garantierten die Russen jedem Offizier und Soldaten: Leben, Sicherheit, persönliches Eigentum, sofortige normale Verpflegung sowie ärztliche Betreuung der Verwundeten, Kranken und Frostgeschädigten. Die Annahme dieser durchaus' menschlichen und höchstwahrscheinlich ernstgemeinten Bedingungen war die letzte Chance für ein Überleben jener Stalingrad-Kämpfer, die nicht schon zu schwer gesundheitlich geschädigt waren. (Die Veröffentlichung wird fortgesetzt)

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