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Geisterwahlen

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Am 25. Oktober begeben sich in der Schweiz die Wähler zu den Urnen. Gattin, Braut oder Schatz bleiben auch an diesem Sonntag schön sittsam daheim, denn es gibt noch immer kein Frauenwahlrecht auf eidgenössischer Ebene. Aber auch das Interesse der Männer ist an den kommenden Bundesratswahlen recht gering. Kein Wunder — wo doch alle Zeitungen voraussagen, daß vermutlich nur kleine Verschiebungen in der parteimäßigen Zusammensetzung des National- und des Ständerates eintreten werden. Man wird sogar in der neuen Bundesversammlung die meisten Gestalten Wiedersehen können, denen man in den vergangenen vier Jahren dort begegnete. Von den 196 Nationalräten, die im Jahre 195 5 gewählt wurden, dürften — sofern langjährige Erfahrungen sich wieder bewahrheiten — an die 150 nach Bern zurückkehren. All dies klingt nicht eben revolutionär. Ebensowenig aufregend ist die Wahlpropaganda der Parteien. Sie spielt sich fast ausschließlich in mehr oder weniger guten Versammlungslokalen ab, wo ein hinlänglich bekanntes Parteiprogramm Besuchern erläutert wird, die ohnehin entschlossen sind, ihrer Partei treu zu bleiben. Plakate, Straßenumzüge gibt es keine. Wozu auch? Es kostet Geld und stört den gewohnten Verlauf des Alltages. Der Schweizer rechnet sehr genau mit dem Rappen und hat es nicht gerne,

wenn man ihm mit allzuviel Nachdruck eine Meinung aufdrängen will. Eine Partei, die dieser Einstellung nicht Rechnung tragen wollte, würde Sympathien und Stimmen verlieren, anstatt zu gewinnen. Es gehört viel Geduld dazu, einen Schweizer umzustimmen. Diese Arbeit kann man nicht während weniger Wochen vor den Wahlen verrichten. Man muß Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hindurch ausdauernd die gleichen Ansichten vertreten. Erst wenn sich die Richtigkeit durch konkrete Tatsachen nachweisen läßt, kann man den einen oder anderen Wähler aus seinem Lager herauslocken.

Der Kampf geht daher nur um die Eingliederung der „neuen“ Wähler, der Jahrgänge, die jetzt zum ersten Male ihre Stimme abgeben dürfen. Hier tappt man in der Schweiz ebenso im dunkeln wie in allen anderen Ländern. Nur von dieser Seite können kleinere Ueberraschungen kommen, die Verschiebungen von einigen wenigen Mandaten zur Folge haben können. Aber auch das kann .weittragende Folgen auf das politische Leben in den kommenden vier Jahren haben.

Gegenwärtig sitzen im Nationalrat 53 Sozialdemokraten, 50 Freisinnige, 47 Katholisch-Konservative, 22 Mitglieder der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, 10 Mitglieder des Landesringes das ist die Partei Duttweilers, und der Rest verteilt sich auf Splittergruppen oder Unabhängige. Im Ständerat, also der Länderkammer, liegen die Verhältnisse anders, dort haben die Sozialdemokraten von insgesamt 44 Sitzen nur 5, und an der Spitze stehen die Katholisch-Konservativen mit 17 Räten, gefolgt von den Freisinnigen mit 12, wogegen sich die restlichen zehn Sitze zersplittern.

Nach den Regeln des demokratischen Parlamentarismus müßten also die Sozialdemokraten, als stärkste Partei des Nationalrates, in der Regierung eine führende Position innehaben. In Wirklichkeit sind sie aber im Bundesrat seit 1953 gar nicht vertreten. Dieser setzt sich aus drei Katholisch-Konservativen, drei Freisinnigen und einem Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei zusammen. Diese merkwürdige Sitzverteilung im Bundesrat hat zum Teil historische Gründe, die sehr deutlich die Abneigung des Schweizers vör ‘ allzu Taschen Aenderungen widerspiegeln.. Die Sozialdemokraten sind nämlich eine verhältnismäßig junge politische Partei, ihr Aufstieg begann erst nach dem ersten Weltkrieg, und es brauchte auch dann noch gute zwei Jahrzehnte, bis sie einen der Ihrigen in den Bundesrat entsenden konnten. Zehn Jahre hindurch lag das Portefeuille der Finanzen in ihren Händen, und ihr letzter Vertreter trat im Jahre 1953 zurück, weil seine Finanzreform bei der Volksabstimmung „bachab geschickt" wurde, wie man in schweizerischer Mundart das Verwerfen eines Gesetzes nennt.

Nun finden sie aber, daß sie nicht endlos in der Opposition verharren sollten. Es fragt sich bloß, ob sie sich mit einem Sitz begnügen oder das arithmetische Verhältnis heranziehen, um zwei Sitze zu beanspruchen. Hier eben wird das Endergebnis der Wahlen entscheidend sein. Sollten sie ihren Besitzstand nur wahren oder gar einen Abstrich verzeichnen, so werden sie mutmaßlich mit einem Sitz vorliebnehmen, andernfalls aber bestimmt zwei beanspruchen.

Wie sollen hernach die anderen fünf oder sechs Sitze verteilt werden? Die Bundesräte werden fast immer für die neue legislative Periode bestätigt, es sei denn, daß sie selber zurücktreten wollen. Dieses Mal trifft dies gleich auf drei Bundesräte zu. Einer unter ihnen ist katholisch-konservativ, die beiden anderen freisinnig. Wenn die Sozialdemokraten zwei Sitze erhalten sollen, wird jede von ihnen einen Sitz abtreten. Was aber, wenn diesen nur ein Sitz zufallen soll? Welche von den beiden anderen Parteien soll dann ihre paritätische Stellung opfern? Von diesen beiden historischen Gegenspielern sind die Freisinnigen traditionell ein Sammelbecken für die Protestanten, allerdings auch für die fortschrittlich gesinnten katholischen Wähler. Es könnte also dazu kommen, daß die Partei, die dem protestantischen Volksteil näher steht, im Bundesrat die katholische Partei überflügelt.

Lieber die weitere politische Linie würde das aber nicht viel besagen. In den grundlegenden Fragen sind die Unterschiede zwischen den Parteien ganz unbedeutend. Sie stehen alle entschlossen zur ewigen Neutralität, zum westlichen Kulturkreis, und selbst in Wirtschaftsfragen treten bei den Sozialdemokraten nur noch Spuren ihres marxistischen Ursprunges zu Tage. Die weitgehende soziale und finanzielle Nivellierung im Privat- und im Berufsleben kennzeichnet auch die parlamentarische Lage: die Schweizer sind ein einig Volk von Brüdern.

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