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Geistiger Strukturwandel in der deutschen Sozialdemokratie

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Die deutsche Sozialdemokratie steht in einem geistigen Umwandlungsprozeß. Bereits nach dem ersten Weltkrieg erklärten die Kritiker in gleicher Weise des sozialistischen wie des nichtsozialistischen Lagers, daß im historischen Prozeß die sozialistischen Parteien versagt haben. Diese Kritiker mehrten sich während der Herrschaft des Faschismus und nach dem zweiten Weltkrieg. Arthur Köstler, der jetzt häufig zitierte sozialistische Journalist, schreibt nach seinen Erfahrungen in Europa und besonders in der Sowjetunion: „Was für eine ungeheure Sehnsucht nach einer neuen menschlichen Ordnung lag zwischen den beiden Kriegen in der Luft und was für ein klägliches Versagen, sie zu verwirklichen! Der Fasdiismus war der Nutznießer dieses Versagens.“

Während die einen ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Sozialismus erschüttert sahen oder ihren Glauben an die Wirksamkeit der von Marx aufgestellten revolutionär-sozialistischen Gesetzmäßicg-keiten für verloren geben, versuchen die anderen — und das ist noch immer ein beträchtlicher Teil von Sozialisten — einen neuen Weg zu finden. Mit der stets geübten und von allen Sozialisten anerkannten dialektischen Methode unternehmen sie es, eine Synthese aus Enttäuschung und Hoffnung, aus Idee und Materie,“ aus persönlicher Freiheit und historischer Gebundenheit zu gestalten.

Den stärksten Einbruch in die marxistische Ideenwelt vollzogen die nach dem zweiten Weltkrieg aus dem religiösen Lager in die Reihen der sozialdemokratischen Partei Gekommenen. Es waren insbesondere Persönlichkeiten der „Bekennenden Kirche“, die sich um eine Klärung ihres Verhältnisses zur Sozialdemokratie bemühten. Unter der Führung des niedersächsischen Landesbischofs Lilje und des aus der Nazizeit bekannten Pfarrers Niemöller trafen, sich etwa dreißig führende Vertreter der Bekenntniskirche mit einer gleich großen Anzahl Vertretern der sozialdemokratischen Partei in Detmold zu einer Aussprache. Die sozialistischen Vertreter waren durchgängig ebenfalls überzeugte Christen. Nach dem Bericht über diese Aussprache bekannten die erschienenen kirchlichen Vertreter offen, daß das offizielle Christentum in Deutschland zwei große geschichtliche Möglichkeiten versäumt habe: das Verständnis für das Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts zu gewinnen und eine ' positive Hältung zur. deutschen Demokratie und zur Weimarer Republik nach dem Jahre 1918 einzunehmen. Damit in der Gegenwart die berufenen Kräfte des Christentums nicht noch einmal, und dieses Mal in ungleich schwerwiegenderem Falle, die bedeutungsvolle Stunde versäumen, erklärten die anwesenden Mitglieder des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands, daß sie einzutreten gewillt seien für Sozialisierunig, Bodenreform, Lastenausgleich auf Sachwertbasis, für positive Flüchtlingshilfe, ja sogar für das Prinzip der Gemeinschaftsschule.

Als Ergebnis der Besprechung wurde weiterhin festgestellt, daß der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nicht erwarte, daß sie eine kirchlich bestimmte Partei werde. Die Sozialdemokratie wiederum verlangt von der Evangelischen Kirche Deutschlands nicht, daß sie sich als sozialdemokratische Filiale etabliere. Aber die Sozialdemokratie werde im Namen der weltanschaulichen Toleranz für die Freiheit der Verkündigung des Evangeliums eintreten, und der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands werde aus christlicher Überzeugung soziale Forderungen unterstützen. Es ist sehr offen darüber gesprochen worden, daß sowohl in den Reihen der Kirche wie auch in den Reihen der Sozialdemokratie starke Widerstände zu überwinden sein würden, wenn ein positives Freundschaftsverhältnis zwischen der Kirche und der Sozialdemokratischen Partei tatkräftig hergestellt werden solle.

Diese Besprechungen in Detmold, an der Dr. Kurt Schumacher teilnahm — die „Furche“ hat davon kurz Kenntnis gegeben —, lag auf dem Wege der Bemühungen um die geistige Neufundlcrung der Sozialdemokratie in Deutschland. Sie wurden im Spätsommer auf einer Tagung sozialdemokratischer Kulturpolitiker in Ziegenhain in Hessen fortgesetzt. Hier wurde eine Resolution gefaßt, die über Deutschland hinaus Aufsehen er-t regte. Dabei ist es bemerkenswert, daß die Leitsätze der Resolution, die einen Angriff auf die bisherigen marxistischen Theorien der Sozialdemokratie darstellen, als eine Art politisches Glaubensbekenntnis von der Öffentlichkeit aufgenommen wurden. Sie fanden die Zustimmung eines großen Teils der außerhalb der Sozialdemokratischen Partei Stehenden, heftigen Widerspruch innerhalb der Partei und scharfe Ablehnung von seiten der Linken. In der Sozialistischen Einheitspartei, die sich in der sowjetischen Ostzone gebildet hat, haben sich die stärksten Vertreter des wissenschaftlichen Marxismus gesammelt und eine gut fundierte Schule gebildet, die sehr heftig gegen die neue Revision der marxistischen Lehre Stellung nimmt. Es ist weiterhin bemerkenswert, daß die neue politische, theoreti-scheGrundlage derSozialdemo-kratischen Partei Deutschlands heute nicht von den Parteiinstanzen vorbereitet und erarbeitet wird, sondern von den Kulturpolitikern, die mit wissenschaftlichen, ethischen und religiösen Mitteln das geistig-politische Fundament der Partei neu zu bauen versuchen. „Die Sozialdemokratie kämpft für die Demokratie und*ihre Voraussetzung, den Sozialismus, um des Menschen willen“ — so heißt der erste Satz der Ziegenhainer Ent-jchließung. „Damit wird der Mensch in alen Mittelpunkt des politischen Geschehens gestellt, nicht die Klasse im soziologischen Sinne, sondern der Einzelmensch, die Persönlichkeit... Um des Menschen willen will die Partei für die Verwirklichung der Gerechtigkeit auf allen Lebensgebieten und iür die Gestaltung des Volkslebens im . Geiste der Freiheit und Gemeinschaft, unter Bmfaltung aller kulturellen Kräfte des ein-ielnen und der Gesamtheit, kämpfen.“

In der Kritik des Marxismus ieißt es dann: „In diesem Kampf bedient äch die Sozialdemokratische Partei der Er-ienntnisse von Marx und seiner Schüler. Aber sie wurden gewonnen im Zeitalter Jes Historismus. Sie beanspruchten Wahr^ Seit auf Grund einer vermeintlichen Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung, in ier das Proletariat lediglich bestimmt sei, die Gesetze des dialektischen Geschichtsprozesses vollstreckend zu erfüllen. Diese Gesetze sollten vorwiegend solche der ökonomischen Entwicklung, der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse sein. Der Verlauf der Geschichte seit Karl Marx hat die Einseitigkeit einer nur ökonomischen Betrachtung enthüllt“ — erklärt die Resolution weitey. „Die Erfahrungswissenschaften vom Menschen und von der menschlichen Gesellschaft haben in steter Vertiefung die Vielseitigkeit des menschlichen Verhaltens und damit des gesdiiehtlichen Prozesses durchsichtig gemacht. Heute sind die Ergebnisse der marxistischen Methode für die Sozialdemokratie noch immer eine unverzichtbare Quelle politischer Einsicht. Sie sind jedoch nicht alleinige u n*d absolute Grundlage aller Erkenntnisse. Vielmehr werden die geistige Freiheit des Menschen und seine sittliche Verantwortlichkeit als gestaltende Faktoren des geschichtlidicn Prozesses anerkannt.“

Bei der Begründung dieser Leitsätze, die vorläufig keinerlei parteioffiziösen Charakter besitzen, sondern in der Mitgliedschaft zur Diskussion gestellt werden, wurden besonders die letzten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung herangezogen. Die neuen Begriffe von der Materie gipfeln vor allem in dem Gesetz von der Äquivalenz von Masse und Energie, das sich aus der Feststellung ergab, daß Materie sich in Licht und Licht sich in Materie verwandelt. Darum folgert einer der führenden sozialistischen Kulturpolitiker: „Der alte Streit zwischen Wissenschaft und Religion ist beigelegt durch die exakte Natur-forschun g.“

Die geistige Freiheit des Menschen wird wiederum exakt naturwissensdiaftlich aus den Vorgängen des Atoms belegt. Die sittliche Verantwortung jedoch ist der Appell an die Persönlichkeit, an die Freiheit des Einzelmenschen, an den Sozialismus aus innerer Verantwortung.

Der bekannte Publizist F. J. S c h ö-n i n g h bemerkt in der „Süddeutschen Zeitung“ über die Stellung von Christentum und Sozialismus, das Christentum sei nicht eine Summe bequemer Konventionen und dürfe — indem er ein bekanntes päpstliches Wort aufnimmt — kein Wandschirm für materielle Interessen sein, die als Skandal empfunden werden müssen; das Christentum dürfe nicht von neuem in den Augen der Armen und Enterbten in Mißkredit bracht werden. Mit Bestimmtheit hofft Schöningh, daß das Verhältnis von Christentum und Sozialismus bald eine zufriedenstellende Klärung finden wird.

Auch innerhalb der Christlich* Demokratischen Union, die neben der Sozialdemokratischen Partei die stärkste Partei Deutschlands ist, spielt die Frage des christlichen Sozialismus, wie er von Jakob Kaiser, dem Berliner Vorsitzenden der CDU, vorgetragen wird, eine starke Rolle. Dieser Sazialismus bedeutet, auf einen kurzen Nenner gebracht, „soziale Haltung aus christlicher Veranwor-t u n g“.

Der Marxismus als die Theorie der sozialdemokratischen Parteien aller europäi-sdien Länder ist nach diesem Kriege erneut in Frage gestellt. Die Diskussion geht weiter. Sie ringt um die Frage der Stellung der Persönlichkeit in der Politik und dem geschichtlichen Ablauf des Geschehens. Der Zwang der Determination des gesdiiditlichen Prozesses nach marxistischer Deutung soll gelockert werden. Prometheus greift zur Fackel, die er den Göttern entrissen hat, die die ewigen ehernen Gesetze bestimmen. Wird das Feuer wohltätig oder vernichtend sein?

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