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Gelber Drache, Roter Stern,Weißes Kreuz

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Rot leuchten die Rubine, die Rubine in den Sternen auf den'Türmen des Kreml: über Moskau im heißen Juli des Jahres 1963. In diesem Monat begab sich gleichzeitig dies: die Auseinandersetzungen zwischen China und Rußland über die Führung und die Formen der kommunistischen Weltrevolution, über Krieg und Frieden von Morgen; die Besprechungen der Vertreter der angelsächsischen Mächte mit sowjetrussischen Repräsentanten über Atomrüstungsstopp und manche andere große Aufgaben, die in Europa und der Welt nur durch Übereinkommen der Weltmächte zu lösen sind; zum Dritten vollzog sich, mit allem alten Schaugepränge der von Byzanz überkommenen Feierwelt, ein Treffen der Führer der orthodoxen autokepha-len Kirchen, anläßlich des goldenen Priesterjubiläums des Patriarchen Alexej.

Kein Kremlastrologe des kalten Krieges im „wilden Westen“ hat in den fünfzehn Jahren, in denen sich der Kalte Krieg krebsartig ausgebreitet hat, eine solche Vision gewagt, wie sie hier geschichtliche Wirklichkeit geworden ist.

„Sie machen die .friedliche Koexistenz' zu einem allumfassenden, mystischen .himmlischen' Buch und tragen die Erfolge aller Kämpfe der Völker der Welt und alle Verdienste in dieses himmlische Buch ein. Außerdem bezeichnen sie alle diejenigen, die dieser ihrer Verdrehung der Ansichten Lenins nicht zustimmen, als Gegner der friedlichen Koexistenz, als Leute, die keine Ahnung von Lenin und vom Leninismus haben, und als Ketzer, die das größte Verbrechen begangen haben. Wie können die chinesischen Kommunisten derartigen Auffassungen und Handlungsweisen zustimmen? Nein, das ist unmöglich.“

In diesem emphatischen, von religiös-politischem Fanatismus beseelten Vorwurf verdichtet der Brief des

Zentralkommitees der KPCh, der Kommunistischen Partei Chinas, alle Vorwürfe, die Peking wider Chruschtschow und die roten Sterne des Kreml seit Jahren gesammelt hat und nun daran geht, in explosiven Ladungen in Afrika, Asien, Lateinamerika, ja Europa, an den Mann zu bringen. „Die breiten Gebiete Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sind Gebiete, wo sich die verschiedensten Widersprüche der heutigen Welt konzentrieren, es sind Gebiete, in denen die Herrschaft des Imperialismus am schwächsten ist, es sind die wichtigsten Gebiete der Stürme der Weltrevolution, die dem Imperialismus direkte Schläge versetzen.“

Die Stimme Pekings fährt fort: in allen diesen Gebieten verrät Moskau die Weltrevolution, und hat dies im Falle Kubas drastisch bewiesen. Der gelbe Drache tritt offen für den nächsten Weltkrieg ein, sieht in ihm das Mittel, die Weltrevolution zum Siege zu führen. „Es gibt Frieden verschiedenster Art, und es gibt Kriege verschiedenster Art. Die Marxisten-Leninisten müssen klären, um was für Frieden und um was für einen Krieg es sich handelt. Es ist eine bürgerliche und pazifistische Auffassung und keine marxistisch-leninistische, wenn man gerechte und ungerechte Kriege ohne Unterschied in einen Topf wirft und samt und sonders dagegen auftritt.“

Neun Jahre nach dem Korea-Krieg wirft Peking Chruschtschow und seinen Mitarbeitern vor, als bürgerliche Pazifisten den „Heiligen Krieg“, die Weltrevolution, schändlich verraten zu haben.

Der Brief des ZK der KP Chinas vom 14. Juni 1963, ein weltgeschichtliches Dokument, bekennt sich zu Stalin und zum Personenkult, tritt für die charismatische Führung der Massen durch große Führer ein, im Namen des „demokratischen Sozialismus“. Denn nur Heilsführer können Menschenopfer unerhört — die Opferung von 100 Millionen Menschen — heischen, und gleichzeitig versichern, nach der großen Ausrottung aller Unreinen eine Zivilisation zu schaffen, die tausendmal höher ist als die jetzt bestehende.

Hier setzt, im Herzkern, der „Offene Brief des ZK der KPdSU vom 14. Juli an die Parteiorganisationen, an alle Kommunisten der Sowjetunion“ zum Gegenangriff an:

Die Atomwaffe sei kein Papiertiger, wie die chinesischen Genossen behaupten, die erklären, sie sei „gar nicht so schrecklich“. „Es sei die Hauptsache, möglichst bald mit dem Imperialismus Schluß zu machen. Wie aber, mit welchen Verlusten dies erreicht werden soll, das sei eine Frage von zweitrangiger Bedeutung. Für wen ist sie, die Frage sei gestattet, von zweitrangiger Bedeutung? Für hundert Millionen von Menschen, die im Falle eines thermonuklearen Krieges zum Tode verdammt sind? Für die Staaten, die gleich in den ersten Stunden eines solchen Krieges vom Erdboden hinweggefegt werden? — In dem Schreiben des ZK der KPCh vom 14. Juli wird viel von .unvermeidlichen Opfern', angeblich um der Revolution willen, gesprochen. Manche verantwortliche chinesische Führer erklärten ferner, es sei möglich, hunderte Millionen von Menschen in einem Krieg zu opfern. ,Die Siegervölker werden in überaus raschem Tempo auf den Ruinen des untergegangenen Imperialismus eine tausendfach so hohe Zivilisation schaffen, wie sie unter der kapitalistischen Ordnung bestand, sie werden ihre wahrlich schöne Zukunft aufbauen', wird in dem vom ZK der KPCh gebilligten Sammelwerk ,Es lebe der Leninismus' behauptet. Es sei gestattet, die chinesischen Genossen zu fragen, ob sie sich dessen bewußt sind, was für .Ruinen' ein weltweiter Raketen- und Kernkrieg zurücklassen würde?“

Hier stellt das Zentralkommitee der Ko'vnnHiiM'scV:;! Partei der Sowjetunion die klassische Frage des Abendlandes an die Adresse Asiens, an die Zentrale Peking: wie hältst du es mit dem Menschen? Ist dir die Person gleichgültig? Asien, Peking — und dies deutet die Höhe des weltpolitischen Konflikts an — kann auf Grund seiner tausendjährigen Traditionen diese Frage gar nicht verstehen: nicht als eine sinnvolle Frage verstehen, wohl aber als eine bösartige Fangfrage. Was bedeuten Millionen, Milliarden Menschen in den Kreisläufen, in denen, fernöstlicher Weisheit und Frömmigkeit zufolge, die Geschlechter und Weltalter der Menschen auf- und untergehen? Was ist der einzelne, der neben etwas Kamelmist verendet, in Kriegs- und Naturkatastrophen seit Jahrtausenden untergeht?

Der Kreml sucht den chinesischen Stoß in die — in den Augen der kommunistischen Welt — wundeste Stelle seiner Weltpolitik direkt zu parieren: „Dank der mutigen und weitblickenden Haltung der UdSSR“ ist es gelungen, in der Kuba-Krise die Menschheit vor einem Weltkrieg zu bewahren. Die Weltrevolution kann nur durch den Kampf für den Frieden gewonnen werden. Moskau wirft Peking Unglauben an den roten Fortschritt vor: „Was ist das? Unglaube an die Fähigkeit der sozialistischen Länder, den Kapitalismus im ökonomischen Wettbewerb zu besiegen? Oder ist das die Haltung von Menschen, die durch die Schwierigkeiten des Aufbaues des Sozialismus enttäuscht sind und keine Möglichkeit sehen, vor allem mit ihren Wirtschaftserfolgen, mit dem Beispiel eines erfolgreichen Aufbaues des Sozialismus in ihren Ländern auf die internationale, revolutionäre Bewegung einzuwirken? Sie wollen schneller die Revolution auf anderen, wie es ihnen scheint, kürzeren Wegen erreichen. Die siegreiche Revolution kann aber nur durch die Arbeit des Volkes ihre Erfolge verankern und entwickeln, die Vorzüge des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus beweisen.“

Karl Marx hatte, im Anschluß an Hegel, das hohe Lied der Arbeit gesungen: durch die Arbeit wird der Mensch zum Menschen, wird der Mensch frei. Von der Höhe seiner Schlote, seiner industriellen Voll-Macht — seine industrielle Ausrüstung ist für den Kreml ein „Gottesbeweis“, mit ein Beweis, geschichtsmäßig und geschichtsrichtig der wahre Führer des Weltkommunismus zu sein, da er sich befähigt weiß, die USA und die ganze westliche Welt industriell zu überflügeln — von dieser Höhe seiner industriellen Heilsmacht spricht Moskau Peking an: diese Chinesen, die wie einst die Pharaonen mit hunderttausend Sklavenhänden ihre Pyramiden bauen, heute mit Millionen Frauen- und Kinderhänden ihre Hochöfen und Fabriken aufbauen ...

Die gescheiterten Kampfgespräche zwischen Vertretern der KPCh und der KPdSU in Moskau im Juli 1963 eröffnen eine neue Etappe im Ringen zwischen Peking und Moskau um die Führung des Weltkommunismus.

Angesichts dieser Fakten rückt die bedeutendste Rede, die Präsident Kennedv während seiner ganzen Amtszeit gehalten hat (ein Jahr vor den

Neuwahlen), in ihr weltpolitisches Licht: die Rede vor der American University in Washington am 10. Juni (drei Tage vor dem Brief des ZK der KPCh). Diese Rede ist zugleich eine Resonanz auf die Enzyklika „Pacem in terris“. Kennedy führt über den Weltfrieden aus: „Welche Art Frieden meine ich? Nach welcher Art Frieden streben wir? Nicht nach einer Pax Americana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird Nicht nach dem Frieden des Grabes oder der Sicherheit der Sklaven. Ich spreche hier von dem echten Frieden — jenem Frieden, der das Leben auf Erden lebenswert macht, jenem Frieden, der Menschen und Nationen befähigt, zu wachsen und zu hoffen und ein besseres Leben für ihre Kinder aufzubauen, nicht nur ein Friede für Amerikaner, sondern ein Friede für alle Menschen. Nicht nur Friede in unserer Generation, sondern Frieden für alle Zeiten. Ich spreche vom Frieden, weil der Krieg ein neues Gesicht trägt. Ein totaler Krieg ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem Großmächte umfassende und verhältnismäßig unverwundbare Atomstreitkräfte unterhalten können und sich weigern, zu kapitulieren, ohne vorher auf diese Streitkräfte zurückgegriffen zu haben. Er ist sinnlos in ' einem Zeitalter, in dem eine einzige Atomwaffe fast das Zehnfache an Sprengkraft aller Bomben aufweist, die von den gesamten alliierten Luftstreitkräften während des zweiten Weltkrieges abgeworfen wurden. Und er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem die bei einem Atomkrieg freigesetzten tödlichen Giftstoffe vom Wind und Wasser und Boden und Saaten bis in die entferntesten Winkel des Erdballs getragen und sich selbst auf die noch ungeborenen Generationen auswirken würden.“

Kennedy plädiert für eine Einstellung des kalten Krieges und für eine Begegnung zwischen Rußland und Amerika: „Unter den vielen Zügen, die den Völkern unserer beiden Länder gemeinsam sind, ist keiner ausgeprägter als unsere beiderseitige Abscheu vor dem Krieg. Unter den großen Weltmächten haben wir — und dies ist beinahe einzigartig — niemals gegeneinander im Krieg gestanden, und wohl kein anderes Volk in der Geschichte der Kriege hat mehr gelitten als das russische Volk im Verlauf des zweiten Weltkrieges. Wenigstens zwanzig Millionen gaben ihr Leben. Zahllose Millionen von Häusern und Bauernhöfen verbrannten oder wurden zerstört. Ein Drittel des russischen Gebiets, darunter nahezu zwei Drittel seiner Industriegebiete, wurde verwüstet; ein Verlust, der der Verwüstung unseres gesamten Landes östlich von Chicago gleichkäme. Sollte heute ein totaler Krieg ausbrechen, dann würden unsere beiden Länder die Hauptziele darstellen.“

Man muß diese Sätze vergleichen mit den Hinweisen des „Offenen Briefes“ des ZK der KPdSU vom 14. Juli an die Adresse der Chinesen, die hunderte Millionen Opfer riskieren wollen. Chruschtschow hat in Ost-Berlin Kennedys Rede aufgenommen. Die Rede vor der American University vom 10. Juli wurde vollinhaltlich von der „Istwestija“ gebracht.

Die Regierung Kennedy hat höchst behutsam vermieden, aus dem Konflikt Moskau—Peking publizistisch Kapital schlagen zu wollen. „Wenn zwei sich streiten, gibt es einen lachenden Dritten“: dieser hausbackene Satz gilt nur für sehr provinzielle Themen. In Weltkonflikten gibt es keinen lachenden Dritten: dieser muß ein Höchstmaß an Rücksichtnahme auf die Schwächen und die Stärken seiner Partner und Gegner aufwenden.

Im Zeitalter der Weltraumfahrt, in dem sich ungeheure Möglichkeiten und Aufgaben dem Menschen zeigen, dürfen wir nicht mehr an den provinziellen Konflikten der Vergangenheit kleben: das erklärte der Bischof von Lausanne, Charriere, in Moskau, als Kommentar zu der persönlichen Botschaft des Papstes Paul VI. an den Patriarchen Alexej. Erstmalig in der Weltgeschichte spricht da ein römischer Papst einem Kirchenfürsten der Ostkirche gegenüber von neuen, brüderlichen Beziehungen zwischen den beiden Kirchen.

Das globale Zeitalter hat begonnen. In ihm gibt es, im ersten und letzten, nur zwei Gruppen von Menschen: die einen sind bereit, im Banne ihrer provinziellen Bindungen, Menschenopfer unerhört zu bringen; die anderen wissen: der Mensch ist für das Leben des Menschen, für die Zukunft des Lebens verantwortlich; er sei, wer er sei, er stehe in welchem Lager auch immer.

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