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Gelehrte pilgern nach Weimar

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Ich will keine ,Gläubigen', ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen ... Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tages heilig spricht.” Die Angst des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) war begründet. Er, der nie Schüler wollte, hat eine Vielzahl gegensätzlichster Gruppierungen beeinflußt: Avantgardisten und Esoteriker, Anarchisten und Erzkonservative, Männerbünde und Frauenvereine, Nationalsozialisten, Marxisten, Vegetarier, Sozialisten, Anhänger der Freikörperkultur sind nur einige der Gruppen, die ihn auf ihre Fahnen schrieben und ihren je eigenen Nietzsche-Mythos kultivierten.

Schon 1929 erschien eine französische Studie, die Nietzsches Einfluß in Frankreich untersuchte. Heute gibt es Arbeiten, die seine Aufnahme in den USA darstellen, in Bußland, Italien, England. Bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde er in Japan gelesen. Dort erkannte man in ihm einen Vertreter jenes Individualismus, der der traditionellen japanischen Kultur so fremd ist.

Der Grund für eine solche Breitenwirkung - das unschöne Fachwort für das Phänomen ist „Nietzscheanismus” - ist darin zu sehen, daß Nietzsche kein Denksystem schuf, sondern Aphorismen; keine Ideologie kann sich ohne Interpretations-Artistik auf

ihn als Vater berufen. Freilich, einen Versuch gab es, dem Nietzscheanismus eine offizielle Heimstätte zu verschaffen: Das Nietzsche-Archiv in Weimar unter der Leitung seiner Schwester. 1902 beauftragte sie den bedeutendsten Bauhausarchitekten, Henry van de Velde, im Parterre des Nietzsche-Sterbehauses den architektonischen Aufbahrungsrahmen für den Bruder zu schaffen: Elegante Buchenholzmöbel, Bücher, Bilder des Philosophen, und, als Blickfang auf einem vom Boden aufragenden Sockel, eine Büste Nietzsches, der Philosophenkopf, gemeißelt von Max Klinger. In diesem Rahmen ließ sie die Werke des Bruders edieren: hier entstand auch ihre fatale Fälschung des „Hauptwerks”, „Der Wille zur Macht”, das zur NS-Bibel wurde - ein Konstrukt, von Nietzsche lediglich in Form von Aphorismen hinterlassen. Das Haus wurde zum nationalsozialistischen Reiseziel. Hitler und andere Granden des Dritten Reiches kamen und ließen sich mit der rührigen Schwester fotografieren. Haken-kreuzfahnen schmückten die Straße, wenn deutsche und italienische Jugendgruppen zu Weihestunden einzogen.

1945 beschlagnahmte die sowjetische Militäradministration 111 Kisten mit Archivalien, transportierte sie aber dann doch nicht ab. Die DDR-Führung war überhaupt nicht an der Erforschung des Nachlasses von Bruder und Schwester Nietzsche interessiert. Das Forschungstabu bra-

chen erst in den sechziger Jahren zwei Italiener, Colli und Montinari. Sie erhielten die besonderen Schlüssel zu den Giftschränken, denn ihnen war zu trauen, standen sie doch der italienischen kommunistischen Partei nahe. Aus deren jahrelanger, geduldiger und wissenschaftlich sauberer Arbeit entstand die erste verläßliche historisch-kritische Ausgabe der Werke des unfreiwilligen Weimaraners. Damit fand, ganz allmählich, auch eine „Entnazifizierung” Nietzsches statt.

Dennoch: Für DDB-Forscher blieb er ein Tabu-Thema, während westliche Gelehrte sehr wohl Zugang zu sei -nen Schriften erhielten. Seit dem Fall des Kommunismus ist die große Wende eingetreten. Für 1999, wenn Weimar Kulturhauptstadt Europas sein wird, ist die erste große biogra-

phische Ausstellung zu Friedrich Nietzsche geplant. Sie soll keine Reli-quienvereffrung werden, sondern das Spannungsfeld zeigen zwischen Nietzsches kümmerlichem Leben, der aus Spargründen auf seinen ständigen Reisen in dürftigsten Quartieren hauste, und dem Anspruch seiner Ubermenschen-Philosophie.

Die Stiftung Weimarer Klassik, in deren Obhut die Häuser von Goethe, Schiller, Herder und auch das Nietzsche-Haus und der Nachlaß stehen, veranstaltet seit 1994 ein jährliches

internationales Nietzsche-Forum, bei dem Philosophen aus aller Welt den neuesten Stand der Nietzsche-Forschung diskutieren. Im Jahr 2000 wird ein eigenes Nietzsche-Institut eingerichtet werden. Seit 1996 setzen sich jedes Jahr unter dem Titel „Impuls Nietzsche” Schriftsteller mit jenem Mann auseinander, der schon Kafka, Musil, Thomas Mann und Stefan George angeregt hat.

Ein Projekt der Volksbankstiftung läuft seit 1996, das den völlig ungeordneten Nachlaß .der Schwester Nietzsches innerhalb von drei Jahren der Forschung erschließen soll. Und Nietzsches Bibliothek, die sich in der Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek befindet, wird derzeit in einer eigenen Bibliographie erfaßt und kommentiert, denn Nietzsche war ein temperamentvoller Leser, der auch lustige und wütende Reaktionen als

Randbemerkungen in die Bücher schrieb, die er las, etwa: „Du Esel!”

Hundert Jahre dauert nun schon die Verbindung der Klassikerstadt mit ihrem ungebetenen Gast. Allmählich weicht die ideologische Verkrampfung gegenüber einem Mann, der in Frankreich zum großen Befruchter modernen philosophischen Denkens wurde und der in den USA derzeit die akademische Jugend mehr denn je in seinen Bann schlägt. Nietzsche und kein Ende? Weimar stellt sich darauf ein.

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