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Generation im Windschatten

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Am 24. Jänner geht es auf den österreichischen Hochschulen seltsam zu. Für vierundzwanzig Stunden ruht das akademische Leben. Hörsäle verwandeln sich in Wahllokale, aus einem cand. phil. wird ein Kommissionsvorsitzender, während ein stud. med. vor den Toren der Alma mater Stimmzettel verteilt. Kein Wunder: statt dem Historischen Proseminar oder den physikalischen Ueb'ungen stehen an diesem Tag Hochschulwahlen auf dem Vorlesungsverzeichnis.

Alle zwei Jahre wählen die österreichischen Studenten ihre Wortführer. Seit den „Sturmwahlen“ des November 1946, als kommunistische Demonstranten den Abbruch der Wahlen erzwingen wollten und eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Studenten tätlich angegriffen wurde, ist es ruhig geworden um die Studenten und ihren Urnengang. Den im „Wahlblock österreichischer Akademiker" vereinigten christlichdemokratischen Verbänden und Fachlisten konnte der Führungsanspruch seither nie ernstlich streitig gemacht werden. Vor zwei Jahren holten sie sich sogar die absolute Mehrheit im Zentralausschuß der österreichischen Hochschülerschaft — der obersten Körperschaft der studentischen Selbstverwaltung — zurück. Die Erwartungen des „Ringes freiheitlicher Studenten“, der das „nationale Element“ auf Hochschulboden vertritt, erfüllten sich nicht. Es gab keine „Normalisierung“, keine Rückkehr zu den dubiosen Zuständen der Zwischenkriegszeit. Die Zeiten der dominierenden Stellung der nationalen Korporationen und völkischen Vereine auf österreichischem Hochschulboden sind Vergangenheit. Endgültig. Die sozialistischen Studenten bilden mit ungefähr 12 Prozent eine Minderheit, während die Kommunisten aus den Hörsälen und Instituten überhaupt so gut wie verschwunden sind.

Auch von den Hochschulwahlen dieser Woche sind — bei aller Vorsicht mit Prophezeiungen — zwar vielleicht da und dort kleinere Korrekturen der Stimmanteile der einzelnen wahlwerbenden Gruppen zu erwarten: weittragende Veränderungen stehen jedoch nicht ins Haus. Auf den österreichischen Hochschulen herrscht Windstille.

Lenützen wir jedoch die Gelegenheit der Hoch schul wähl dieses Jahr, um uns ein wenig mit der Generation vertraut zu machen, die in dem Windschatten der gegenwärtigen geistigen und politischen Situation durch die Hörsäle und Institute herauf sich der Verantwortung für Staat und Volk nähert, der sich bisher noch keine akademische Generation entziehen konnte.

Generation im Windschatten!

Seid nicht böse über dieses Wort, junge Freunde. Aus ihm spricht keine negative Wertung oder gar Geringschätzung. Eher zunächst vielleicht so etwas wie ein wenig Neid. In dem Alter, als ihr das'erstemal eure „Nationale“ ausfülltet und stolz akademische Bürger wurdet, bevölkerte eine andere Generation die Schlachtfelder des zweiten Weltkrieges. Ihre Vertreter kämpften vor Welikije Luki oder Monte Cassino. Sie starben bei Bastogne oder im Weichselbogen. Und wenn ihr vielleicht schon demnächst oder erst in ein, zwei Jahren bei der Promotion ein feierliches „Spondeo“ sprecht, so denkt ihr — Hand aufs Herz — bestimmt nicht an jene, die vor nun schon wieder mehr als einem Jahrzehnt in damals eiskalten, überbelegten Hörsälen sich zunächst ein wenig ungeschickt wieder mit Büchern und Skripten vertraut zu machen begannen oder sich gar erst in einem sogenannten „Ueber- brückungskurs“ mit der nachzuholenden Reifeprüfung abplagten.

Die, von denen ich spreche, bildeten die österreichische Studentengeneration des Jahres 1945. Eine merkwürdige „Generation“, meine Generation. Familienväter mit zwei und mehr Kindern saßen neben Achtzehnjährigen, die als Flakhelfer gerade noch davongekommen waren, auf einer Studierbank. Es wurde viel diskutiert in jenen Jahren — und auch studiert. (Professoren stellten das schmeichelhafte Zeugnis aus, daß kaum vorher so intensiv gearbeitet wurde wie in jenen Jahren). Das war auch kein Wunder bei dem „Nachholbedarf“. Das größere Wunder war vielleicht schon, daß nicht wenige damals neben ihrem Fachstudium mit Feuereifer ans Werk gingen, mitten zwischen den geistigen Trümmern — sie waren vielleicht noch größer als die materiellen — die Grundlagen für ein neues akademisches Leben zu schaffen. Und es war ein kraftvolles, ein pulsierendes Leben in jenen Jahren. Seine äußeren Formen haben 'den Aufenthalt der Generation von 1945 auf Hochschulboden überdauert.

Akademische Generationen altern rasch. Nur wenige Jahre ist ihnen Frist gegeben. Dann müssen sie abtreten. So ein „Schichtwechsel“ geht freilich nicht von heute auf morgen vor sich. Eher ähnelt er Haydns berühmter „Abschiedssymphonie“. Wenn nun ein Vertreter der „Alten“ — wie rasch man im akademischen Raum zu einem Repräsentanten der „alten Generation" avancieren kann —, sei es auf der Hochschule, sei es bei einem Besuch in seiner früheren studentischen Gemeinschaft, den Jungen begegnet, so wird er bald merken, daß deren Gedanken und Vorstellungen doch etwas andere sind, als man sie selbst vor einem Jahrzehnt hegte und pflegte. Sie haben bestimmt auch kein sorgenfreies Leben, die Studenten des Jahres 1957. Das haben Studenten in Oesterreich zu keiner Zeit gehabt. Aber ihre Sorgen gelten neben den Prüfungen und der späteren Karriere ausschließlich — wo es notwendig ist — dem eigenen Fortkommen. Dabei ist die klassische Ausgabe des „Werkstudenten“ — nach 1945 der dominierende studentische Typus — seltener geworden. Seinen Platz hat der Kollege eingenommen, der sich von Zeit zu Zeit durch einen — wie man heute gerne sagt — „guten Job“ einige hundert oder auch tausend Schilling verdient. Ein Doppelleben als Nachtwächter oder Babysitter ist daher nicht so häufig mehr ein letzter Ausweg für den sich ständig durchs Leben schlagenden Studenten. Wir sehen ihn vielmehr mitunter zum Beispiel als Croupier in der Hochsaison in Velden oder Badgastein auf- treten. Auch hat eine stärkere soziale „Differenzierung“ eingesetzt. Drängte sich vor einem Jahrzehnt noch ein jeder, gleichgültig ob Hofratstochter oder Kleinbauernsohn, in den verschiedenen Mensen, so finden wir doch heute — wiewohl das Schlagwort vom „sozialen Numerus clausus“ durch die Statistik einwandfrei widerlegt wird — auch so etwas wie einen bescheidenen Wohlstand unter den Studenten. Der neuartige tägliche „Farbenbummel“ der Motorroller verschiedenster Typen vor der Rampe der Universität spricht für sich. Daß ein Student gar im Auto zur Vorlesung fahren könnte, wäre einmal als Scherz aufgenommen worden. Heute ist es in Einzelfällen Wirklichkeit — wenn auch das Auto, um der Wahrheit die Ehre zu geben, das des Herrn Papa ist.

Blickt man in die studentischen Gemeinschaften hinein, so wird einem noch deutlicher,

daß hier mit dem Einzug der „Nachkriegsgeneration“ ein nicht unbeträchtlicher Wandel stattgefunden hat. Trumpf ist das gesellschaftliche Leben! Klubabende mit Tanz verfehlen ihre Anziehungskraft nie. Sie füllen totsicher die verschiedenen Heime und „Buden“. Es ist auch beachtlich, welche Mühe und Sorgfalt für ihre Ausgestaltung auf gewendet wird. Viel weniger Gedränge herrscht schon, wenn irgendeine Diskussion angekündigt ist. Wie ist es aber, wenn ein politisches Thema — oder was danach aussieht — auf der Tagesordnung steht? Warum es verschweigen? Damit haben vor allem jene Verbände, die kein „hochoffiziell“ kennen, nicht selten ihre liebe Not. Nicht, daß unsere jungen akademischen Bürger in der Regel etwas gegen Politik oder gegen Politiker haben — aber das Thema „greift“ einfach nicht an. Zuhören, ja vielleicht noch. Aber selbst — sei es auch nur im kleinen Rahmen — etwas aus eigener Initiative und eigener Verantwortung beginnen: das ist zuviel verlangt. Das Bedürfnis aller früheren jungen Generationen der letzten Jahrzehnte, gleichgültig, ob diese unter linksextremen, rechtsradikalen oder demokratischen Fahnen antraten, sich selbst eine Welt zu bauen, ist weitgehend unbekannt. Man übernimmt die von früher geschaffenen Formen, Verbände und Institutionen, man richtet sich in ihnen halbwegs gemütlich ein. Im Windschatten. Hier ist es wieder, das ominöse Wort. Dabei sprechen wir von keinem österreichischen Sonderfall. In seinem Buch „Die letzten dreißig Jahre" gibt der Erlanger Geisteswissenschafter Prof. Dr. Hans Joachim S c h o e p s folgende Impression einer Begegnung mit der studentischen jungen Generation Deutschlands wieder:

„Es fällt mir bei den heutigen Jugendjahrgängen immer wieder das Ausmaß der seelischen Vereinsamung auf. Wenn man sich des schöpferischen Ueberschwangs erinnert, der die alte Jugendbewegung ausgezeichnet hat, empfindet man die Jungen heute als nicht sehr jung. An die Stelle der einstigen Hochgestimmtheit ist eine illusionslose Nüchternheit getreten, die oft als Vorzug angepriesen wird, im Grunde aber eher einen Kalorienmangel der Seele von recht beträchtlichem Ausmaß offenbart. Die größte Sorge aber, die der Umgang mit diesen juftgen Menschen eingibt, ist ihre weitverbreitete Abneigung, aus eigener Bestimmung und vor eigener Verantwortung das leben gestalten zu wollen, wenn das Erfordernis einer Stellungnahme an sie herantritt, die über das Private hinaus ins Oeffentliche und Gemeinschaftliche hinüberreicht. Intellektuelles Interesse, das häufig vorhanden ist, auch an politischen Dingen, führt noch keineswegs zum Engagement.“

Diese Abstinenz gegenüber dem politischen Engagement mag vielerlei Erklärungen haben.In Oesterreich kommt eine hinzu: Eine der Tugenden der heutigen studentischen Generation ist besonders ihre Wachheit. Dieser konnte es nicht verborgen bleiben, daß die akademische Generation vor ihnen in der Wirtschaft, der Verwaltung und auch in der Publizistik ihren festen Platz eingenommen hat, daß aber die österreichische Politik offenbar keinen Bedarf an Akademikern zu haben scheint. Niemand anderer als der Unterrichtsminister gab gelegentlich einmal freimütig seiner Ueberzeu- gung Ausdruck, daß bei der gegenwärtigen Konstruktion unseres Parteiwesens ein Mann des Geistes wie Ignaz Seipel nie hätte den Weg in die Politik finden können. Die Jungen sind Realisten. Mit dem Kopf gegen eine unsichtbare, aber nicht weniger harte Wand anzurennen, kommt für rie nicht in Frage. Noch eine letzte Frage haben wir an die junge akademische Generation, die heute die österreichischen Hochschulen bevölkert. D i e Gretchenfrage: Wie haltet ihr es mit Oesterreich? Unsere jungen Freunde werden stumm auf die Ergebnisse der studentischen Wahlgänge der letzten Jahre hinweisen. In ihnen wurde jedesmal allen radikalen Gruppen eine klare Absage erteilt. Und selbst der „Ring freiheitlicher Studenten“, in dem noch am ehesten der „Deutschnationalismus“ vergangener Jahrzehnte ein Refugium gefunden hat, ist, gemessen an der Haltung der in ihm zusammengefaßten Verbände und Korporationen in der Vergangenheit, wenn man seinem Programm trauen dürfte, beinahe so etwas wie eine patriotische Organisation. Oesterreich ist für die jungen Akademiker kein Diskussionsgegenstand mehr. Oesterreich ist eine Selbstverständlichkeit. Das war nicht immer so. Generationen, die im Kampf für und leider oft auch gegen Oesterreich reif und etwas gescheiter geworden sind, möchten sich gerne dieses Geisteswandels freuen. Als vom Schicksal etwas unsanfter behandelte Kinder können sie es jedoch nicht, ohne mit der Genugtuung auch eine Hoffnung zu verbinden: die nicht ausgeschlossene Probe aufs Exempel möge dasselbe Ergebnis zeitigen wie die Beobachtungen des Tages.

Einmal kommt für jede Generation der Tag, an dem sie aus dem Windschatten heraustreten muß.

Besonders in unserer alles andere als wind- und wettergeschützten Weltecke.

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