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Geographie ungengend

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Landkarten werden meist in Farbdruck hergestellt. Die ineinandergreifenden lichtblauen, hellgelben oder zartgrünen Flächen deuten dann einprägsam die geographischen Formen der einzelnen Länder an. Mit Hilfe einer guten Landkarte kann daher jeder halbwegs gebildete Mensch (in der Geographie sind die meisten unter uns nur halbwegs gebildet) genau sagen, wo der Franken Geltung hat und wo das Reich der Lire oder des Schillings beginnt. (In Wirklichkeit sind diese Grenzen nicht so unverrückbar, wie man annimmt. Der Franken hat nämlich überall in der Welt Geltung, und es gab Zeiten, wo der Schilling oder die Lire nicht einmal im eigenen Lande eine solche hatte.)

Besonders irreführend kommt mir die oft verwendete Bezeichnung „Politische Landkarte“ vor. Man würde meinen, daß so eine Landkarte etwas über die politischen Verhältnisse in den abgebildeten Ländern aussagt. Sie wird aber mit sogenannten „konventionellen Zeichen“ gedruckt und diese gelten in gleicher Weise für Spanien, wo einer befiehlt und niemand arbeitet, für Frankreich, wo niemand befiehlt und niemand arbeitet, für Deutschland, wo niemand befiehlt und alles arbeitet, und für Sowjetrußland, wo einer befiehlt und alles arbeitet. Das sind doch ganz gewaltige Unterschiede, zumindest im Gesichtswinkel der Menschen, die in diesen Ländern leben; und dennoch gehen die sogenannten „Politischen Landkarten“ darüber glatt hinweg. Man müßte entweder die Benennung abändern, was leicht wäre, oder die politischen Systeme der einzelnen Länder einander angleichen, was aber schwieriger durchführbar sein dürfte.

Die Unzulänglichkeit der verfügbaren Landkarten entschuldigt übrigens teilweise die politischen Fehlentscheidungen der verantwortlichen Staatsmänner. Nicht zur Gänze, und nicht alle Irrtümer, die sie begehen, denn diese Belastung könnte auch eine auf Leinwand aufgezogene Landkarte nicht ertragen. Aber immerhin begreift man, daß sich Minister und Parlamentarier nicht mit solchen Lappalien wie Landkarten abzugeben wünschen, wenn sie über so wichtige Fragen, wie es die Grenzziehungen sind, Beschlüsse zu fassen haben. Vor allem die russischen Staatsmänner erweisen sich in erstaunlichem Maße frei von jeglicher beschwerender Fachkenntnis, wenn es heißt, die Grenzen ihres eigenen Landes zu ziehen. Wie die Skier dem ungeübten Fahrer läuft diesen überaus geschickten Diplomaten in solchen Augenblicken der Bleistift weg . ..

Wo Hertza liegt, wissen die wenigsten Menschen. Das beruht auf Gegenseitigkeit, denn die Leute in Hertza wissen wieder recht wenig über die Umwelt. Sie leben in der Abgeschlossenheit ihres Marktfleckens in der nördlichen Moldau, waren Jahrhunderte hindurch Untertanen der moldauischen Fürsten und hernach des rumänischen Königs (was an ihrem Los nicht viel änderte). Sie blickten neidisch auf das benachbarte Bukowina, wo die österreichische Verwaltung immerhin annehmbare Verhältnisse schuf, und freuten sich vielleicht insgeheim im Jahre 1918, als auch die Bukowina rumänisch wurde: warum sollten es die Leute im nächsten Dorf, jenseits der Grenze, immer besser haben? Nun kam das Jahr 1940 und mit ihm kamen die Russen. Sie nahmen Rumänien die Bukowina weg, weil dort auch Ruthenea lebten. Dabei rutschte einem Staatsmann in Moskau der Bleistift auf der Landkarte aus, oder verrechnete sich ein Major der russischen Armee an der Front um etliche Kilometer, jedenfalls aber rückten russische Truppen auch in Hertza ein. Das war den „Hertzanern“ (der Duden besagt nichts über die genaue Benennung der Einwohner dieses Städtchens) nicht gleichgültig und sie ließen die Bukarester Regierung wissen, daß ihnen die einheimische Korruption noch immer lieber war als die fremde Ordnung. Auch sonst war die Bukarester Regierung aufgebracht. Nicht genug, daß man dem Lande zwei Provinzen — die Bukowina und Bessarabien — nahm, auch Hertza mußte mitwandern! Man intervenierte, sandte diplomatische Noten und vor allem Landkarten, alte und neue: auf allen zeigte der Farbfleck deutlich, daß Hertza nie zur Bukowina gehörte und immer rumänisch war. Aber was können Landkarten gegen die Bürokratie ausrichten? Hertza blieb russisch ...

Ueber die Ostgrenzen Deutschlands ist es seit einiger Zeit still geworden, offenbar, weil man abwarten wollte, wo die Ostgrenze der NATO verlaufen wird — am Rhein oder an der Elbe. In Wirklichkeit gab es aber nur im Westen eine offene Frage, nämlich die Wahl zwischen zwei Flüssen, um zwei Welten voneinander abzugrenzen. Im Osten haben die Russen längst ihren endgültigen Beschluß gefaßt, wo „ihr“ Polen enden und das immerhin etwas weniger verläßliche Ostdeutschland beginnen soll. Sie hatten alles Interesse daran, die kritische Linie möglichst weit nach dem Westen zu verlegen. Aber auch die Nachgiebigkeit der zu Kriegsende in weltpolitischen Belangen noch etwas naiven Amerikaner war nicht im gleichen Maße dehnbar wie der russische Expansionismus. Also verfiel man in Moskau auf den Gedanken, die Neiße als Grenzlinie vorzuschlagen. Warum? Weil es deren zwei gibt: die Glatzer und die Lausitzer Neiße, und wenn man nicht von Anbeginn klar sagte, welche man meinte, ließ sich nachträglich die Sache gemäß den eigenen Interessen „deuten“. Auch im Handel verwenden ja Kaufleute diesen Trick, und um eben solchen ärgerlichen Praktiken einen Riegel vorzuschieben, gibt es für jede Ware sogenannte Handels-usancen. Diese besagen genau, wie die Ware beschaffen und verpackt sein muß, wann die Lieferung zu erfolgen hat und noch einiges, was man sonst immer klar zum Ausdruck bringen müßte. Aber in der Geographie gibt es keine Usancen: man muß sie kennen, bevor man Grenzlinien zieht. Wie aber sollten die unglücklichen Diplomaten aus dem innersten Texas wissen, daß es zwei Neißen gibt? Sie kauften die russische politische Ware ungesehen und dringen jetzt mit der Qualitätsbeanstandung nicht durch.

Formosa — bis vor kurzem eine kaum beachtete Insel — ist so plötzlich zu einem Star der Weltpolitik geworden, wie es selbst in Hollywood kaum vorkommt. Politisch gibt es für sie drei Anwärter: Tschiang, der dort bleiben, und Mao, der dorthin gelangen möchte; daneben die Vereinten Nationen, denen man sie vielleicht anvertrauen wird, falls man sich auf irgendeine Neutralisierung wird einigen können. Juristisch ist aber die Insel herrenlos, denn im Vertrag von San Franzisko hat Japan auf sie verzichtet. Aber es wurde weder dort, noch in irgend einem anderen Dokument gesagt, wem sie zugeteilt werden soll. Gewiß hat man zehn Jahre vorher, im Vertrag von Kairo, den Grundsatz ausgesprochen, daß Japan alle seine Eroberungen seit dem Jahre 1895 zurückerstatten muß. Aber zurückerstatten kann man etwas nur demjenigen, dem man es wegenommen hat. Nun hat Japan seinerzeit Formosa nicht Rotchina weggenommen, das es damals noch nicht gab, sondern dem kaiserlichen China, das längst verschwunden ist. Die Landkarten haben dem keine Rechnung getragen. China — ob kaiserlich-rückständig, republikanisch-korrupt oder volksrepublikanisch-geknechtet — wurde immer als hellgelbe Fläche dargestellt. So konnten die drei führenden Staatsmänner der Welt in Kairo die Faustregel anwenden: „Was gelb ist, gehört zueinander.“ Damit wollten sie inmitten des Weltkrieges kurzerhand ein Problem lösen, das erst zehn Jahre später in seiner ganzen Kompliziertheit erkannt wurde. Schuld an allem ist also wieder die Landkarte ..

Es gibt aber auch andere Inseln in Ostasien,über deren politische Zugehörigkeit man nicht einig ist. Vom Norden Japans bis zum Südzipfel von Kamtschatka ziehen sich im Pazifischen Ozean Felsgipfel, als hätte einst eine Riesenschaufel mit kosmischem Schwung Schlacke gegen eine spätere weltpolitische Ausgleitgefahr hingestreut. Teile dieser Inselwelt gehörten immer Japan, andere seit jeher den Russen; nur die südliche Hälfte von Sachalin hat in den letzten Jahrzehnten ein politisch bewegtes Schicksal gekannt. Auch für diese Inselwelt sollte die Regelung von Kairo gelten und die Russen nahmen sich nach der Kapitulation Japans den Südteil von Sachalin auch zurück. Es passierte dabei ihrer Flotte das gleiche „Mißgeschick“ wie ihren Truppen einige Jahre früher bei Hertza — die Kriegsschiffe drangen zuweit vor und Landungstruppen besetzten irrtümlich auch Shikotan, die Habomai-Inseln und Kunashiri, eine Insel, die in Sichtweite vor der japanischen Insel Hokkaido liegt. Diese Inseln waren auf der Landkarte nie grün dargestellt, wie Sibirien, sondern immer braun, wie Japan. Hier kann man der Landkarte gar keinen Vorwurf machen, sie hat die Verhältnisse richtig wiedergegeben. Der Fehler lag einzig auf Seiten der russischen Staatsmänner und Offiziere. „Geographie ungenügend“ — werden die amerikanischen Examinatoren verkünden. In der Weltpolitik (wie auch oft im Leben) kommt es aber weniger auf Schulzeugnisse, als auf tatsächliche Leistungen an. Und „wo der russische Soldat steht, von dort bringt ihn keine Macht der Welt weg“.

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