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Geschichte annehmen Nachbar sein

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Am 9. November jährt sich die „Reichskristallnacht” 1938: Antisemitismus, der zur Judenvernichtung führte, fordert heraus -und macht Gegenmodelle wichtig. Ein Beispiel: Der Kibbuz „Nes Ammim” in Nordisrael.

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Am 9. November jährt sich die „Reichskristallnacht” 1938: Antisemitismus, der zur Judenvernichtung führte, fordert heraus -und macht Gegenmodelle wichtig. Ein Beispiel: Der Kibbuz „Nes Ammim” in Nordisrael.

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Die Erschaffung des Menschen” ist ein Fehler Gottes, durch Egoismus und Habgier wird die Schöpfung zerstört”, meint meine Freundin in Haifa, bei der ich zum Essen eingeladen bin. Diese rigorose Aussage kann ich ihr nicht verübeln, denn sie hat in ihrem Leben Schweres durchgemacht, und ihr Land schwebt in der ständigen Gefahr von Terror und Krieg. Aber dennoch muß ich ihr widersprechen, denn ich habe auch anderes kennengelernt, nämlich Idealismus, Aufopferung und Hilfsbereitschaft und das gar nicht so weit von Haifa entfernt.

Zwischen Nahariya und Akko, zirka zehn Kilometer von der Küste entfernt, wurde 1964 von europäischen Christen ein Kibbuz gegründet, der als Stätte der Begegnung und Versöhnung von Christen und Juden dienen sollte. Dieser Kibbuz heißt Nes Ammim, der Name ist dem Alten Testament entnommen (Jesaja 11,10) und bedeutet „Zeichen der Völker”.

Die Idee, Nes Ammim zu gründen, entstand Ende der fünfziger Jahre in Gesprächen des niederländischen Arztes Johan Pilon mit israelischen Freunden und fand Unterstützung in den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz und den USA. Förderkreise entstanden, arabische Freunde halfen, ein geeignetes Stück Land zu finden, und 1964 gab die israelische Regierung die Zustimmung zur Errichtung der Siedlung. Anfangs stießen die Bewohner Nes Ammims bei der jüdischen Bevölkerung auf Reserviertheit und Ablehnung. Die Erfahrungen aus der jüngsten Geschichte und tiefes Mißtrauen gegenüber befürchteten missionarischen Absichten erschwerten den Anfang. In einem Schreiben an den damaligen Premierminister Levi Eschkol versicherten die Gründer aber ausdrücklich, daß sie Missionierung prinzipiell und praktisch ausschlössen und bekannten sich zu folgenden Grundsätzen:

■ Das Volk Israel war und ist Gottes erwähltes Volk und Partner in Gottes Bund.

■Daß Jesus von Nazareth als Jude lebte und starb, ist konstitutiv für den Glauben der Kirche. Durch die Mißachtung des Judentums hat der christliche Glaube seinen eigenen Kern schwer verletzt.

■Die jüdische Auslegung der Heiligen Schrift wird anerkannt als Tradition, die der christlichen gleichwertig ist.

■ Die Christenheit trägt nach dem Holocaust eine gemeinsame geschichtliche Verantwortung für eine umfassende christliche Neubesinnung in Gottesdienst, kirchlicher Lehre und ethischem Verhalten.

■Das Hören auf die Stimme von Juden und das Wahrnehmen der östlichen Kirchen ist dabei eine wichtige Hilfe.

■ Antisemitismus ist auch heute noch ein Reservoir von Vorurteilen gegen das jüdische Volk und Israel als Staat, und er bleibt eine Herausforderung für Christen.

Auch europäische Christen und Kirchen hatten Mühe mit den Prinzipien der Nes Ammim-Bewegung. Zu neu waren in jenen Jahren die Absage an die Judenmission und der Gedanke an Dialog und Versöhnung, der jetzt auch bei den Christen von breiten Kreisen getragen wird. Heute ist das Dorf ein anerkannter Nachbar in der Region des westlichen Galiläa mit seinen jüdischen und arabischen Dörfern und Städten und wird als Ort internationaler und interreligiöser Be-gegnung benützt. Gruppen aus allen Teilen der Erde machen hier Station, und seitdem das Gästehaus koschere Küche anbietet, nutzen religiöse Gäste aus Israel gerne die Räume und die Synagoge für jüdische Feiern wie Bar Mizwa oder das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana Erst vor kurzem berichtete die „Jerusalem Post” in großer Aufmachung vom „christlichen Dorf in Galiläa” und von einem Besuch von Rabbi Eliyahu Bakshi Doron, des religiösen Oberhaupts der sephardischen (i.e. orientalischen) Juden und des Äthiopischen Oberrabbiners, Kes Raphael Hadana.

Pionier im christlichjüdischen Gespräch

Ungefähr 90 Menschen - vorwiegend aus Holland und Deutschland - leben und arbeiten als Volontäre für ein bis vier Jahre in Nes Ammim. Sie sorgen durch ihre Arbeit in der Rosenzucht, im Avocadoanbau, im Gästehaus, durch technische, kaufmännische und andere Dienstleistungen oder als pädagogische Mitarbeiter im internationalen Studienbüro für den Bestand der Gemeinschaft. Dafür wird ihnen neben der Verpflegung und einem Taschengeld ein Lern- und Begegnungsprogramm angeboten. Sie haben die Möglichkeit Hebräisch zu lernen, verschiedene Aspekte des Lebens in Israel kennenzulernen, sowie als christliche Gemeinde in Israel das Verhältnis zwischen Christen und Juden zu reflektieren. Durch den Rosen- beziehungsweise Avocadoverkauf und die Einnahmen des Gästehauses sind die Kosten für den Aufenthalt und für das Studienprogramm der Bewohner zu zirka 75 Prozent abgedeckt. Den Rest trägt die internationale Nes-Ammim-Bewegung mit Vereinen und Freundeskreisen in verschiedenen Ländern. Jährlich kom men zirka 30 junge Leute nach Nes Ammim, um für mindestens ein Jahr hier zu arbeiten und zu studieren. Es gehört viel Idealismus dazu, trotz der 40 Arbeitsstunden pro Woche (Arbeitszeit von 6 bis 16 Uhr) noch abends das Studienangebot zu nutzen.

Im Studienkalender finden sich Veranstaltungen wie: Kennenlernen der Nachbarschaft von Nes Ammim (Führung durch die arabische Stadt Mazra'a, Resuch der griechisch-katholischen Gemeinde Mi'ilya anläßlich einer Prozession zum Fest der Kreuzauffindung), Gespräche mit Rabbi Micha Peled über Kaschrut (die jüdischen Reinheitsvorschriften und Speisegesetze), Einführung in die rabbinische Literatur, Strandwanderung mit Übernachtung im Freien am Wochenende, Hebräischkurse, Seminar über den Holocaust...

Junge Ehepaare bleiben meist mehrere Jahre, besonders wenn sie Kinder haben und sie diese nicht so häufigem Ortswechsel aussetzen wollen. Sie wohnen in Einfamilienhäusern und für ihre Kinder gibt es bis zu einem Alter von vier Jahren eine ortseigene Kinderkrippe, später besuchen sie den israelischen Kindergarten beziehungsweise die israelische Schule in Nahariya. Zusätzlich erhalten die Schulkinder fünfmal wöchentlich Hebräischunterricht und ebensolchen Sprachunterricht in ihrer Muttersprache. Momentan bevölkern 13 Kinder den Spielplatz beziehungsweise das große Schwimmbad von Nes Ammim.

Das Zusammenleben der Nes Am-mimer orientiert sich an den Ideen und Erfahrungen der Kibbuzbewegung: ge nossenschaftliche Wirtschaftsführung und soziale Sicherung, gemeinsame Mahlzeiten, Möglichkeiten gemeinschaftlicher Freizeitgestaltung und Taschengeld, das nach Aufenthaltsjahren gestaffelt ist. Prinzipiell bekommt jeder das gleiche Taschengeld, egal ob er in leitender Funktion oder als Hilfskraft tätig ist. Die meisten Volontäre kommen nach der Schulausbildung oder nach beendetem Studium, außerdem arbeiten hier auch einige Zivildiener aus Deutschland.

Nes Ammim liegt etwas abseits der Hauptstraße, zirka vier Kilometer von der Busstation Begba entfernt. Der Ort gleicht einem kleinen Ferienparadies in einer parkähnlichen Anlage. Neben den Gästehäusern mit Schwimmbad, der Kirche, dem Bürogebäude und den Werkstätten, liegen verstreut, verdeckt von prächtigen blühenden Sträuchern und Bäumen, kleine Bungalows, die Volontärswohnungen. Bei meinem ersten Besuch in Nes Ammim hatte ich den Eindruck, hier hätten die Volontäre ein herrliches Leben mit viel Freizeit und wenig Arbeit, später wurde ich aber eines Besseren belehrt. Die Arbeit ist hart, besonders in den Glashäusern bei Temperaturen von 30 Grad und mehr, oder in den Avocado-plantagen, und acht Stunden sind eine lange Zeit. Trotzdem gibt es immer wieder fröhliches Gelächter und freundliche Gesichter.

Die jungen Leute wissen, warum sie hier sind: Es geht um die Erfahrung des friedlichen Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen, selbst wenn man zeitweise das Dröhnen des Kriegslärms herüberhört; die Grenze zum Libanon ist nur wenige Kilometer entfernt.

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