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Geschlagener kleiner Kennedy

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Am 20. September kürte der zweite Wahlkreis der fröhlichen Weinstadt Bordeaux einen Abgeordneten, um den kürzlich verstorbenen Volksvertreter Jacques Chabrat zu ersetzen. Nachwahlen bedeuteten bis vor einem Jahr in Frankreich kein besonderes Ereignis. Die Strategen aller Partelen waren sich der lokalen Bedingungen bewußt, kannten den Einfluß der Notabein, schätzten das Ausmaß der soziologischen Zusammensetzung eines Bezirkes richtig ein und versuchten, Erfolg oder Mißerfolg zu verniedlichen. Diese eiserne Regel, herausgebildet in der Geschichte dreier Republiken, wurde bereits durch den Wahlkampf im Bezirke Yvelines 1969 unterbrochen, als sich Ex^Ministerpräsident Couve de Murville, sich seiher Sache absolut sicher glaubend, dem Häüpt^ ling der radikalen Linken, Michel Rocard, stellte. Trotz der bürgerlichen Strukturen dieses Pariser Vorortes zog Michel Rocard, seines Zeichens Generalsekretär der revolutionären Sozialisten PSU, ins Parlament ein.

Ja, und dann kam die Sache in Nancy. Mit unerhörtem finanziellem Einsatz kämpfte in der Hauptstadt Lothringens der Ex-Herauageber der Zeitschriftengruppe „Express-

Expansion“ gegen einen gaullistischen Abgeordneten, der, empört durch die Mißachtung regionaler Rechte einer aufgeblähten Pariser Zentralbürokratie, demissioniert hatte, um die Regierung seiner Parteifreunde für Maßnahmen zur ökonomisch technischen Entwicklung der französischen Departements zu gewinnen. Nach einem an Zwischenfällen reichen Wahlkampf siegte Jean-Jacques Servan-Schreiber und beanspruchte einen ersten Platz innerhalb der nichtkommunistischen Opposition. Diese bestand bisher aus der erneuerten, aber zusammengeschmolzenen sozialistischen Partei, die von inneren ideologischen Krisen erschüttert war, der Konvention der Klubs — Wortführer nach wie vor Mitterand — und der ältesten, ehrwürdigen Partei der III. Republik, den Radikalsozialisten.

Servan-Schreiber war es gelungen, den Apparat der radikalsozialistischen Partei zu kontrollieren und diesem typischen politischen Ausdruck des mittleren Bürgertums ein modernes Image zu verleihen. Er wollte dort wieder anfangen, wo Defferre und Poher gescheitert waren, nämlich die Mitte links, also die früheren christlichen Demokraten des MRP, die Radikalsoeialisten und die S. F. I. O. dn einer Organisation vereinen. Als eingestandenes Vorbild dienten die sozialdemokratischen Parteien Schwedens und der Bundesrepublik: „Ich schaffe den deutschen Sozialdemokraten den echten französischen Gesprächspartner“, gelobte zu Beginn des Frühsommers Servan-Schreiber seinen deutschen sozialistischen Freunden.

Aber die nichtkommunistische Linke, mehr denn Je zerklüftet, befangen in personalpolitisch peinlichen Kontroversen, unfähig, eine originelle Ideologie zu entwickeln, war nicht geneigt, den Sirenentönen des frischgebackenen Abgeordneten von Nancy zu gehorchen. Nachdem sich Soziallsten und Klubs steril zeigten, entschloß sich Servan-Schreiber, die Nachwahl von Bordeaux als Beispiel zu statuieren. Der linke Reformflügel wäre demnach stark genug, eine glaubwürdige Alternative zum Regime Pompidou-Chaban-Delmas darzustellen. Der Ministerpräsident und jahrzehntelange Bürgermeister von Bordeaux hatte sich nach dem Tode seines Stellvertreters für eine Kandidatur ausgesprochen. Er wollte gemäß gaullistischer Praxis seinen Gegnern innerhalb der eigenen Partei beweisen, daß er als Faktor der Innenpolitik sein Programm einer neuen Gesellschaft, der Regionalisie-rung und einer Öffnung zur Mitte hin, realisieren könne. Am letzten Parteikongreß der UDR, am 26. Juni in Versaüles, erschien Chaban-Delmas eigentlich als Angeklagter und wurde verdächtigt, dem ungestümen Servan-Schreiber diskrete Hilfestellung geleistet zu haben. Weiters wurde gemunkelt, Chaban-Delmas verliere das Vertrauen des Staatsoberhauptes, das nicht gesonnen sei, einer allzu großen Konzentrierung der Macht in den Händen seines ersten Leutnants zuzustimmen. Der Bürgermeister von Bordeaux kannte allerdings seinen Rückhalt in der Bevölkerung der Stadt. Diese, soziologisch dem kleinen und mittleren Bürgertum angehörend, respektiert die staatliche Ordnung und ihre Vertreter und ist für nationale, weltpolitische oder ökonomische Abenteuer kaum zu gewinnen.

Alle Versuche Servan-iSchreibers mißglückten, in Bordeaux für die Linke einen gemeinsamen Kandidaten zu finden. So sprang er buchstäblich 5 Minuten vor 12 selbst in die Bresche. Er kannte natürlich die starken Positionen des Bürgermeisters von Bordeaux, versprach aber seinen Anhängern einen Stimmenanteil von 30 Prozent. Die Wahlberechtigten von Nancy murrten über die Eskapade ihres neuen Abgeordneten. Servan-Schreiber beruhigte: „Ich bleibe weiterhin Volksvertreter Lothringens.“ Er mutete also dem Wähler von Bordeaux zu, für einen Kandidaten zu stimmen, der niemals beabsichtigte, den Wahlkreis dm Parlament zu repräsentieren. Damit dürfte er wohl den schwersten psychologischen Fehler begangen haben. Nach dem Motto: viel Feind, viel Ehr, bekämpfte er nicht nur den Gegenkandidaten Chaban-Delmas, sondern berannte die morschen Festungen, von Men-des-France, Mitterrand und Deflere verteidigt Ihm ging es darum, die

Apparate der Parteien und Klubs in der Öffentlichkeit so lächerlich zu machen, daß der nichtkommunistische Wähler einfach gezwungen wäre, ihn als Chef der „Reformpartei“ anzuerkennen.

Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Er mußte mit 16,56 Prozent eine vernichtende Niederlage hinnehmen. Ist damit seine Karriere beendet? Kenner der Materie zweifeln: Der „kleine Kennedy“ ist intelligent und dynamisch genug, um aus diesem Mißerfolg entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Die nichtkommunistische Linke kehrt wiederum auf das schwerste angeschlagen aus dem Wahlkampf zurück. Ihr Kandidat Ta'i'x verlor tausende Stimmen, und Sozialisten sowie die Konvention haben zumindest bis zu den Gemeinderatswahlen 1971 Jeden politischen Einfluß verloren.

Der triumphierende Sieger heißt Chaban-Delmas, dessen Politik von den Wählern vollinhaltlich bestätigt wurde. Die Mehrheit verschob sich allerdings dank dieses Wahiganges von der UDR zur Mitte rechts. Die weiteren Sieger heißen Pinay, Fon-tanet und Duhamel. Damit öffnen sich innenpolitische Perspektiven, die Chaban-Delmas wahrscheinlich in den nächsten Wochen und Monaten ausnützen wird.

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