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Gesenkte Rente - erhöhte Miete

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Wie sehr auch eine Volksdemokratie ihre Sozialmaßnahmen an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen muß und wie bitter es ist, einmal gewährte soziale Vorteile zurückzunehmen oder auch nur einzuschränken — das erlebt eben jetzt die Tschechoslowakei. Der neue Ministerpräsident Jozef Lenärt hatte das gewiß zweifelhafte Vergnügen, im Rundfunk und Fernsehen Maßnahmen der Regierung „zur Sicherung des Lebensstandards“ der Bevölkerung bekanntzugeben. Die entscheidendsten Maßnahmen betreffen wohl die Renten und Mieten, aber die gleichzeitig verordneten Maßnahmen über Preisregulierungen (= Preiserhöhungen), einschränkende Bestimmungen bei der bisher völlig kostenlosen Überlassung von Schul-und Lehrbehelfen, schließlich der wieder einmal dekretierte Beamtenabbau — all das macht die Medizin nur noch bitterer, auch wenn man gleichzeitig ein paar erfreuliche Sozialmaßnahmen und Verbesserungen ankündigen konnte.

Auf dem Gebiet der Renten, erklärte Lenärt, müßten „die bestehenden Ungleichheiten beseitig!'^werden“ und die ÄÜsgaben^tlie marTflir3 1964 auf 16 Milliarden Kcs veranschlagt, „mit den Möglichkeiten in Einklang gebracht werden“. Dazu sollen vor allem zwei Maßnahmen beitragen, einmal die Kürzung „unbegründet hoher Renten“ sowie die Kürzung von Renten „ehemaliger gesellschaftlich bevorzugter Angestellter“. (Da die bei der kommunistischen Machtübernahme im Jahre 1948 in Pension befindlichen oder gerade pensionierten Bevölkerungsschichten heute im Durchschnitt 80 Jahre alt — oder schon gestorben — sind, handelt es sich also um Gruppen, die schon völlig normal in der Volksrepublik in Pension gingen). Die zweite kaum weniger drastische Maßnahme ist die, daß Renten, die 700 Kcs im Monat übersteigen, in Hinkunft progressiv besteuert werden (was praktisch auch einer Rentensenkung gleichkommt). Dafür sollen die bisher niedrigen Renten erhöht werden. In finanzielle Bedrängnis kommt man vor allem auch durch die schrittweise Angleichung der Sozialmaßnahmen der in der Landwirtschaft Tätigen, die vor Jahren beschlossen wurden, deren Etappen nunmehr realisiert werden müssen. So werden Mitglieder der landwirtschaftlichen Genossenschaften Kindergeld so wie die anderen Berufsgruppen erhalten (soweit sie im Monat 20 Tage oder im Jahr 240 Tage gearbeitet haben), auch der Mutterschaftsurlaub von Landarbeiterinnen wird so wie der anderer Beschäftigter geregelt. Krankengeld wird in Hinkunft ein Viertel aller Genossenschaftsbauern erhalten und zwar:

• Arbeiter, die aus anderen Berufen kommen und zur Landwirtschaft überwechseln,

• LPG-Mitglieder, die eine Hochschule oder Fachschule absolviert haben,

• Lehrlinge, die nach Abschluß ihrer Lehre in der Landwirtschaft bleiben. Altersrenten erhalten auch jene Genossenschaftsbauern, die noch Eigenland haben (108.000 statt bisher 11.500). Schließlich mußten neue „Rentenzonen“ mit 500, 560 und 650 Kcs geschaffen werden. Aber man weiß, daß auch das nur Übergangsmaßnahmen sein können und daß die einzige Möglichkeit gegen Landflucht und die unbefriedigende Produktion der Landwirtschaft darin bestehen kann, allen Mitgliedern landwirtschaftlicher Genossenschaften die gleichen Sozialmaßnahmen wie den Industriearbeitern zukommen zu lassen. Man wird also auf dem Sektor Rente und Krankenversorgung der Landbevölkerung sin ;Hmhunftß>Tit*hejp(: noea= größeren Sdnrwierlgkeitens gegenüberstehen.

Auch Überschreitung der Lohnfonds bereitet Sorge

Wie schwierig es ist, Planung, Statistik, Kontrolle und Wirklichkeit in Einklang zu bringen, zeigt eine vorjährige Erklärung des (damaligen) Finanzministers Duris, wonach die Lohnfonds um 800 Millionen Kcs überschritten wurden und daß um 373 Millionen Kcs mehr Krankengeld als geplant ausgegeben werden mußte. Die Arbeitsproduktivität sei statt der geplanten 6 Prozent nur um 3,2 Prozent gestiegen. Die Kosten in der Industrie konnten nur um 1 Prozent gegenüber der geplanten 2,22 Prozent gesenkt werden, im Baugewerbe seien sie sogar um 1,5 Prozent gestiegen. Die Lohnfonds sind mit dem Plan der Arbeitsproduktivität gekoppelt, schon seit 1961 aber ist es zu einer Verletzung der geplanten Beziehungen zwischen Wachstum der Arbeitsproduktivität und den Durchschnittslöhnen gekommen, was die Verwaltung der Lohnfonds negativ beeinflußte, die um 1,2 Prozent zuviel abgeschöpft wurden. Gegen einzelne Betriebe wurden daraufhin sogar „materielle Sanktionen“ ergriffen. 1963 ist die geplante Arbeitsproduktivitätssteigerung neuerlich nicht annähernd erreicht worden. Sie machte — nach einer Erklärung von Minister Indra vor dem Parlament — nur 7 Prozent aus und war in der Bauwirtschaft niedriger als 1962.

Um vier Wochen erhöht wurden ab 1. April 1964 der Mutterschaftsurlaub. Er wird normalerweise 22 Wochen betragen. Mütter von Zwillingen, Drillingen usw. haben allerdings Anspruch auf acht Monate bezahlten Urlaub. Zusätzlich haben alle Mütter noch einen Anspruch auf einen einjährigen (unbezahlten) Karenzurlaub.

Zu dieser Maßnahme war man gezwungen, weil die Geburtenzahlen in der Tschechoslowakei seit Einführung des Gesetzes, das die Abtreibung gestattet, einen kaum noch unterbietbaren Tiefstand erreicht hatten und man anderseits auf die

Frauenarbeit weder verzichten kann noch will. Derzeit sind in der Tschechoslowakei mehr als 2,6 Millionen Frauen berufstätig, das sind 43 Prozent aller Beschäftigten. In den Jahren 1947/48 waren es 37,8 Prozent, im ersten Fünfjahresplan (1949 bis 53) dann 41,3 Prozent und im zweiten Fünf jahresplan schließlich 42,6 Prozent (1956 bis 60).

Heute werden 55.000 Kinder in Kinderkrippen betreut, eine Zahl, die innerhalb der nächsten 13 Jahre verdoppelt werden soll. Von 1000 Kleinkindern bis zu 3 Jahren werden derzeit bereits 109 in Kinderkrippen betreut.

Auf der anderen Seite aber ist man den Familien gegenüber auch nicht allzu entgegenkommend. So wurden — eben im Zusammenhang mit den „Maßnahmen zur Sicherung des Lebensstandards“ die Kosten für die Kindergärten und Kinderkrippen nicht unwesentlich erhöht; zugegebenermaßen muß der Staat auch jetzt noch beachtliche Summen zuschießen, und die Frauenarbeit ist — auch rein finanziell betrachtet — eine problematische Angelegenheit.

Aber auch die Staatszuschüsse für die Werksküchen wurden wesentlich eingeschränkt und damit die hier gebotene Verköstigung wesentlich teurer. Derzeit gibt es in der Tschechoslowakei rund 9000 Betriebsküchen, die 1963 391 Millionen Essenportionen ausgaben, um 50 Millionen mehr als 1962. 26,9 Prozent, also mehr als ein Viertel aller Werkstätigen, essen derzeit in Kantinen und Betriebsküchen. Bisher zahlte der Arbeitgeber (praktisch also der Staat) zu jeder Portion 1,10 Kcs dazu, was in Hinkunft wegfällt. Diese Maßnahme soll nach | den vorliegenden Berechnungen dem Staat jährlich 48ft Mil-lionen Kcs einsparen. Der Arbeitgeber soll allerdings weiterhin die Kosten für die Ausstattung, den Betrieb, die Reparaturen und das Personal der Werksküchen tragen.

Die Vertreibung von Millionen Menschen hat keineswegs — wie man dies auf den ersten Blick vermuten könnte — durch das Freiwerden von Hunderttausenden von Wohnungen das Wohnungsproblem gelöst oder auch nur gemildert. Daß dem nicht so ist, hat vielerlei Gründe: Einmal war es die Tatsache, daß diese Häuser und Wohnungen meist in Gebieten lagen, die nicht oder nur wenig „gefragt“ waren, daß die Landflucht auch in der Tschechoslowakei immer deutlicher spürbar wurde und damit zusätzlich Wohnungen leer standen und in anderen Gebieten andere benötigt wurden. Schließlich verwahrlosten die leerstehenden Häuser ebenso rasch wie die leerstehenden Fabriken. Aber auch schon vorher waren viele Wohnungen durch die Kriegszeit stark überaltert und renovierungsbedürftig gewesen. Auch die Tatsache, daß schon vor 1938 der Wohnungsstandard nicht allzu hoch war, fiel ins Gewicht und trug dazu bei, daß der Wohnfehlbestand bis zum heutigen Tag nicht gedeckt werden konnte und daß die durchschnittliche Wohngröße außerordentlich beschränkt ist.

Im „sozialistischen Sektor“ befinden sich derzeit bei rund 4,4 Millionen Haushalten 1,3 Millionen Wohnungen, davon sind 22 Prozent Neuwohnungen, also solche, die nach Ende des zweiten Weltkrieges gebaut wurden. 1961 wurden 86.000 Wohnungen, 1962 84.535 Wohnungen — wenn auch von unbekannter Größe — errichtet. Ohne Übertreibung kann man also annehmen, daß das Ausmaß der Neubauten kaum über den österreichischen Rahmen hinausgeht.

Die Mietenregelung und die notwendigen Staatszuschüsse für die verstaatlichten Wohnungen, aber auch die kostspielige und wenig funktionierende Art der Hausverwaltung war der Regierung schon lange ein Dorn im Auge. Es fehlte nicht an kritischen Bemerkungen, ohne daß man sich aber getraute, das Mietenproblem anzupacken. Schon Anfang 1963 kündigte der inzwischen entfernte Ministerpräsident eine „Vereinheitlichung der Mieten“ an, damit der Staat nicht Unsummen aus Budgetmitteln zur Verfügung stellen müsse. Das „Mietenchaos“ war bisher übrigens keineswegs besser als in den „kapitalistischen Ländern“ — die Zinse wurden nach 160 verschiedenen Vorschriften berechnet —, verschärft noch durch die Schwerfälligkeit des Staatsapparates, der für die Instandsetzung „seiner“ Häuser verantwortlich ist.

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