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Gesicht des schweizerischen Konservativismus

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Das „Ralliement“ des Katholizismus mit dem modernen Staate ist noch nicht abgeschlossen, weil das soziale Gesicht der Neuzeit in stetem Wechsel ist. Es besteht darüber für den Katholiken kein Zweifel, daß er unter Vermeidung kollektivistischer wie individualistischer Extreme mitzuhelfen hat, die gültigen Formen einer sozialen Demokratie zu finden. Dabei darf die Ebene der Rechte und Selbstbestimmung des Volkes nie verlassen werden. Unter den prosaischen Begriffen Arbeitsrecht, Verwaltungsreform, Dezentralisation, Stellung der Gewerkschaften im Staate usw. werden die eigentlichen Probleme zum Austrag gelangen.

Es mag in dieser Perspektive nicht müßig sein, den politischen Status des Katholizismus in einem Lande zu betrachten, wo er ohne Störung durch weltpolitische Katastrophen in origineller Weise in den mo

Staat hineingewachsen ist — wir meinen den schweizerischen Konservativismus. Zwischen ihm und den großen katholischen Parteien Europa bestehen mancherlei Unterschiede.

Das Experiment des Einheitsstaates, den uns Napoleon bescherte, hatte in der Schweiz den Konservativismus als politische Theorie ausgelöst. Das Primat der kantonalen Eigenstaatlichkeit setzte sich dann wieder zur Wehr, als die großen Kantone des Mittellandes in zwanzigjährigem Ringen den engeren Bundesstaat von 1848 schufen. In dieser zweiten Phase wandte ich der politische Kampf auch gegen die Kirche. Die Absicht war, aus der Front der konservativen föderalistischen Orte das protestantische Element herauszubrechen. Tatsächlich blieben bis zu Ende des Jahrhunderts

holischen Kantone allein mit ihrem Föderalismus und man gewöhnte sich an die parteimäßige Gleichsetzung von Katholizismus mit Föderalismus und Konservativismus.

Trotz Jesuitenverbot ist die Schweiz heute jedoch längst aus der Kulturkampfzeit heraus. Damit konnte sich die Bindung des Föderalismus in dem Sinne lockern, als er auch wieder die Haltung von städtischen und protestantischen Kreisen zu werden vermochte Wie auch unser „Anschluß“ in der Luft lag, fühlte jeder Schweizer, was unser größter föderalistischer Staatsdenker schon in der Bismarck-Zeit ausgesprochen hatte: Wir haben nur dann ein Recht auf nationale Existenz, wenn wir unsererseits den Kantonen, kulturellen und politischen Minderheiten die Autonomie nicht versagen. Es war eine Demonstration eigener Art, als ein paar Wochen vor dem Einmarsch in

Österreich das Schweizer Volk in einmütiger Abstimmung das Romanische als vierte Landessprache anerkannte (obwohl es nur von einem Prozent der Bevölkerung gesprochen wird).

Während all der Zeit hat sich der föderalistische Gedanke kaum gewandelt. Der Kantonalismus wurde nicht nur als das Lebensrecht vielhundertjähnger Republiken aufgefaßt. Der Föderalismus war ein S o z i a 1 p r i n z i p: die größtmögliche Freiheit des Bürgers ist gewährleistet, wenn er seine Obrigkeit persönlich kennt, selber erwählt und sich alle Staatsgewalt in kleinen Kreisen abspielt. Insbesondere soll nichts zentraleren Instanzen übertragen sein, was nicht die engeren lebensnahen Stellen erledigen können. Daher die Gewaltentrennung zwischen Gemeinde, Kanton und Bund — Wer sich mit der schweizerischen Presse seit 1800 beschäftigt, ist überrascht von der Kraft, mit der dieser unverlierbare soziologische Tatbestand des Föderalismus schon gleich zu Anfang erfaßt worden ist. Die spätere Geschichtsschreibung mit ihrem Schema „Reaktion" kommt hier gar nicht ans Objekt heran. i

Die publizistischen Quellen sagen uns auch, daß der Föderalismus damals nicht einmal ausschließlich von traditionalistischen Kreisen getragen war, sondern eine Hauptwurzel im Republikanismus des achtzehnten Jahrhunderts besitzt, das heißt in Montesquieu, Mably, dem Rousseau der „Nicht-mehr-als-IO.OOO-Männer - Republik“. Diese republikanische Komponente bildet das Unterpfand für all den späteren Einfluß, den der Föderalismus auch auf den Liberalismus auszuüben vermochte

Aber andererseits blieb es nicht verborgen, daß die Bevölkerungsverschiebungen, die Verstädterung und Verflachung der öffentlichen Meinung

alten, bereits „klassischen“ Föderalismus seine gesellschaftlichen Unterlagen weitgehend entzogen haben. Wie wenigen ist „Gemeinde“ noch ein tägliches Erlebnis, und wie hat sich die Eigenart der Kantone abgeschliffen! Föderalisten alter Schule sind gegenüber dieser Entwicklung hilf- und mutlos geblieben. Aber es kam Zuzug und Verjüngung in dem geistigen Umbruch der Zwischenkriegszeit. Zusammen mit der liberalen Reaktion auf die Verwirtschaft- lichung aller Politik haben die nun erst er folgende Popularisierung der Sozialenzykli ken und Geistesströmungen wie Otmar Spanns Universalismus auch hierzulande das soziologische Gespür der Allgemeinheit geschärft. „Berufsgenossenschaft“, „Betriebsgemeinschaft“, „Gesamtarbeitsvertrag“, sie alle deuteten darauf hin, daß eine vermassle Gesellschaft wieder neue Bindungen dies- wärts des staatlichen Zentralismus suchte.

Nun wurde aber auch offenbar, daß dieses moderne „Subsidiaritätsprinzip“ genauestensdem soziologischen Gehalt alten territorialen Föderalismus’ entspricht. Die Erkenntnis dieses inneren Zusammenhausens ist die große Chance für die konservative föderalistische Politik; wirtschaftliche Körperschaften, neue Bezirke der Gemeinschaft treten neben Kanton und Munizipalgemeinde. Aber nur mit dem Selbständigkeitsethos des alten Föderalismus vermögen die noch traditionslosen Gebilde der Saugkraft des Modernen zu widerstehen. Daß der alte Föderalismus deswegen nicht gänzlich im neuen aufzugehen braucht, beweist gegenwärtig de? Ausgang des jahrelangen Tauziehens um eine direkte Bundessteuer, welcher der alten Finanzhoheit der Kantone weiterhin das Recht geben wird Und spezifische Charaktereigenschaften des überkommenen Konservativismus werden noch geraume Zeit die Schweizer aller Parteien kennzeichnen.

Denken wir an das Frauenstimmrecht! Liberale und Sozialisten wollen uns immer wieder diese Krone der egalitären Demokratie aufsetzen. Jedoch will auch in städtischen und industriellen Gegenden die Mehrheit nichts davon wissen. Und dabei vermögen auch die Konservativen keine zügigen rationalen Argumente gegen diese letzte Schlußfolgerung des Individualismus in die Diskussion zu werfen. Aber jahrhundertealte Gewohnheit und Instinktsicherheit lassen dem Volke als Mittelpunkt der konzentrischen Kreise Bund — Kanton — Gemeinde immer noch den Hausvater und Bürger erscheinen. Diesem in politicis die Frau gleidistellen zu wollen, wird hier abgelehnt Der Ausländer mag nur schwer ermessen, welche Erschütterung im politischen Denken der Schweiz das Frauenstimmrecht auf die Dauer zur Folge hätte. — U

heint, daß dieser Punkt am besten die große Verschiedenheit illustriert, die zwischen dem schweizerischen und ausländischen Katholizismus in der Stellung zur S c h 1 u ß- form der liberalen Demokratie besteht.

Ein weiterer Unterschied. Immer wieder weigert sich der Schweizer, seine Kultur- und Sozialpolitik vermehrt gesamtstaatlich zu verankern. Er ist hier viel konservativer als das Parlament, die Parteileiter und all die Sachverständigen; die Zahl der verworfenen Vorlagen spricht deutlich (eine kapitale Ausnahme bildete die eidgenössische Altersversicherung vor zwei Jahren). Die Gewaltentrennung zwischen Kanton, Gemeinde und Verbänden bat für hochfliegende Reform p 1 ä n. e die Wirkung eines Sc

: nach Passieren dieser Erstinstanzen kommen derlei Pläne ziemlich fraktioniert heraus, sind realisierbar und mäßig geworden. In umgekehrter Richtung gestattet dieser Dienstweg das Ausprobieren neuer Gedanken auf kleinem Ort, wie denn die Schweiz in ernster Sozialpolitik keineswegs zurücksteht.

All diese Differenziertheit in der sozialen Organisation, das Mißtrauen gegen Übergreifen der Staatsmacht läßt die Schweiz als ein Stück Alteuropa erscheinen. Daß der Föderalismus dem eigenen Volke nie als Museumsstück, sondern als immer fruchtbares Formprinzip lebendig bleibe — dies ist die Sendung einer konservativen Partei und Publizistik in der Schweiz.

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