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Gestapo-Zeugnisse für Österreich

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Das vor vielen Monaten angekündigte Farbbuch der österreichischen Regierung, diese wichtige Aktenpublikation, ist nunmehr erschienen: „R o t - W e i ß - R o t-B u c h.“ — Gerechtigkeit für Österreich. Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs, 1. Teil. CWien, 1946, Verlag der österreichischen Staatsdruckerei.)

Das Farbbuch, dies sei gleich am Beginn vorweggenommen, ist nur ein Torso. Die wichtigsten Akten und Dokumente befinden sich großteils nicht in Österreich, sondern in Deutschland; teilweise wieder in den Händen der Alliierten. Viel Material ist gewollt und ungewollt, namentlich durch die Verbringung nach Deutschland, vernichtet worden. Dennoch ist das angeführte Material von großer Reichhaltigkeit und Beweiskraft, namentlich dort, wo es ' den Anteil zeigt, den Österreich zu seiner Befreiung geleistet hat.

Das Farbbuch verweist darauf, daß Österreich von 1933 bis 1938 der einzige Gegner Hitlers war und durch fünf Jahre hindurch diesem erbarmungslos andrängenden, mit Verführung und Verbrecher hantierenden Gegner standgehalten hat. Durch eine tückische Rundfunkpropaganda, durch Sprengstoffattentate, durch schwere wirtschaftliche Schädigungen, Aussperrung des österreichischen Holzexports, Unterbindung des Fremdenverkehrs, die Erschütterung der alpenländischen Fremdenverkehrswirtschaft, Belohnung von landesflüchtigen, schuldhaft gewordenen Österreichern mit Stellen in Deutschland, durch Aufstellung und militärischer Schulung einer eigenen österreichischen Legion, und mit dem Juliputsch im Jahre 1934 suchte Deutschland das kleine Österreich mürbe zu machen. Wohl waren die wirtschaftlichen Folgen sehr schwer — so sank die Anzahl der gemeldeten Reichsdeutschen in Tirol von“ 400.000, nach der Marksperre auf 10.000. Aber der schwere Druck vermochte nicht, die österreichische Bevölkerung dem Nationalsozialismus zuzuführen. Auf Grund einer im Jahre 1945 aufgefundenen Kartothek kann das Farbbuch feststellen, daß zum Beispiel die Anzahl der Illegalen in Steiermark und Burgen-1 a n d, von zwei Gebieten also, die zusammen über 1,100.000 Einwohner zählten, nur 6751, also nicht einmal 0,6 Prozent der Bevölkerung, betrug, Dies auf Grund der von der Reichsparteileitung der N 9 D A P nach der Okkupation im Juli 1 9 3 8 vorgenommenen Parteizählung. Die erste Mappe dieser Dokumente weist den damaligen Mitgliederstand der Partei in der Stadt Graz mit 1245 und in der Umgebung mit 442 Mitgliedern aus. Und dabei galt Graz als der Stolz der Partei! In der zweiten Mappe der Kartothek fanden sich folgende sechs T.isten:

Ortsgruppe Jennersdorf 37 Mitglieder, Oberschützen 39 Mitglieder, Oberwarth 50 Mitglieder, Stadt Schlaining 8 Mitglieder, Pinka-feld 37 Mitglieder, Unterschützen 9 Mitglieder.

Die dritte Mappe enthält die Listen der 120 Ortsgruppen der Partei in den steirischen Gebieten außerhalb Graz und Umgebung. Nur Bad Aussee, Bruck, Judenburg, Kapfenberg, Knittelfeld, Leibnitz und Liezen und Mürz-zuschlag, Schladming und Trofaiach wiesen Mitgliederstände zwischen 100 und 168 aus, die meisten wenig über 100; nur von Weiz sind zwei Listen mit 113 und 105 Nennungen vorhanden, und weitaus an der Spitze stand Leoben mit eingeschriebenen 349 Parteigenossen. Ganz“ Steiermark samt Lungau zählte im Juli 1938 nur 6571 eingeschriebene Parteigenossen.

Österreich verlor schließlich den Kampf, nicht wegen der Stärke der nationalsozialistischen Bewegung, sondern weil es von der Welt dem Agressor Hitler überlassen wurde. Warum Österreich nicht den letzten großen Angriff Hitlers im Jahre 1938 mit den Waffen abgewehrt habe, diese Frage beantwortet das Farbbuch mit der Gegenfrage, warum denn die so schwer gerüstete Tschechoslowakei sSch auch nicht mit den Waffen der Okkupation Hitlers widersetzt habe, obwohl es eine immerhin erheblich stärkere Wehrmacht als Österreich besaß. War nun nach der Annexion jeder Widerstand gegen Hitler versiegt?

Eine ungeheure Verhaftungswelle ging vom Beginn der Besetzung über ganz Österreich. In der ersten Woche wurden schon über 7 0.0 0 0 Menschen in die Kerker geworfen. Sind dies Zeichen einer Freundschaft für Hitler? kann das Farbbuch mit Recht fragen.

Die Tatsache, daß die Bevölkerung Österreichs auch nach dem Anschluß in weiten Teilen sich der neuen politischen Ideologie ablehnend gegenüberstellte, erweist das Rot-Weiß-Rot-Buch aus vielen

So sagt ein Lagebericht der Innsbrucker Gestapo, Zahl 11/222 vom 29. Juni 1938, daß

„der prozentuale Anteil an gesinnungsmäßig und kämpferisch eingestellten Beamten vor dem 13. März 1938 relativ gering war und höchstens 15 Prozent betragen habe.

Im Grunde genommen habe sich seit dem Umbruch daran nichts wesentliches geändert; man darf sich ja nicht durch das überwältigende Abstimmungsergebnis von 9 9,7 Prozent irremachen lasse n.“

Auch ein Bericht über di österreichischen Beamten der Gendarmerie bestätigt ebenfalls, daß sich gegenüber dem Umsturz „nicht wesentlidies geändert habe“. .. In einem Schreiben der Ortsgruppenleitung Feldbach in Steiermark vom 16. Juni 1940 an die Kreisleitung heißt es, daß „die Gendarmeriebeamten der Partei in allen Parteiangelegenheiten sehr lau sind. Dies wird auch dadurch bewiesen, daß sie die Gegner der NSDAP sehr loyal behandeln.“

Die Berichte der Gestapo und sonstigen Stellen sprechen vonMonatzuMonat von einem sich verstärkenden Widerstand gegen die Partei. Dies alles schon im Jahre 1939 und 1940. zu einer Zeit also, da Deutschland ijoch als der große Sieger erschien und selbst ein Churchill bei dem Gespräch mit Herriot Tränen vergoß, da er die Sache der Alliierten für fast verloren hielt. Am 25. Februar 1939 meldet der Gauhauptstellenleiter von Tirol an die Kreisleitung, daß in einem Ort von 3600 Einwohnern

„bei einer Versammlung, die außerdem noch mit einer halbstündigen Verspätung begann, nicht mehr wie 25 Teilnehmer zusammengetrommelt werden konnten.“

Immer wieder heißt es in den geheimen Berichten der Gestapo: „D ie Aktivität der Gegner hat sich gegen den Vormonat erhö ht.“ So in den Lageberichten vom 3. Juli 1939 11-122, 4. September 1939 11-123 usw.

In dem Lagebericht der Gestapo vom 1. Juli 1939 Mar./Ne. aus Innsbruck wird geklagt:

„Die Lage in Tirol ist nunmehr so, daß die Bevölkerung jede Rede, jede Maßnahme, die von der Parteistelle gegen die Kirche ergehen, mit einem demonstrativen Fernbleiben von den Parterversammlungen beantwortet.

In Tirol ist nunmehr auch die Frage des Schützenwesens auf dem Höhepunkt der Krise angelangt. Der (nationalsozialistische, D. R.) Landesschützenmeister erklärte, daß die Schützen nicht dazu da seien, bei Umzügen, die mit Brauchtum und militärischer Haltung nichts zu tun haben, mitzumarschieren. Gemeint waren damit die Fronleichnamsprozessionen, bei denen es dann tatsachlich zu Reibereien mit den Schützen und Traditen-kapellen kam. Das Ansuchen der Musikkapellen, bei der Prozession mitzumarschieren, wurde nicht bewilligt. Die Folge davon war, daß diese auch zum großen Teil in Zivil demonstrativ mitmarschierten und am Schlüsse der Prozession in den Gemeindehäusern erschienen, ihre Musikinstrumente ablieferten und erklärten, sich auflösen zu wollen. Sie erklärten keine Lust zu haben, KdF-Gäste abzuholen, bei den Kreistagen zu spielen und anderes mehr, wenn sie nicht einmal für ihren Herrgott bei den Prozessionen mitgehen dürfte. In vielen Orten konnte die Tätigkeit der Musikkapellen nur durch Drohung mit dem KZ wiederaufgenommen werden. Die Stimmung bei den Schützenkapellen ist dadurch katastrophal. Seitdem man bei den Versammlungen die katholische Kirche angreift, weigern sie sich immer, wieder bei Veranstaltungen der Partei mitzuwirken.“

Überhaupt bildete der katholische aktive Teil Österreichs' eines der Zentren des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, so sagt der Lagebericht über die Zeit vom 1. bis 30. Juni 1939:

„Die bisher einwandfreie und erfolgreiche Arbeit der Gaufilmstelle Tirol wird nunmehr durch das politische Verhältnis behindert. Stets, wenn die Maßregelung eines katholischen Geistlichen in der Bevölkerung bekannt wird, oder ein Redner gegen die Kirche Stellung nimmt, werden in diesem Gebiet die Vorführungen der Gaufilmstelle boykottier t.“

“Wieder sagt der Lagebericht 11-12 vom 3. Juli 1939:

„Die Gegnerschaft verbunden mit der starken Bindung an die Kirche, konnte in Tirol dazu führen, daß in verschiedenen Tälern offene Kundgebungen gegen die Partei und den Staat durchgeführt wurden.“

„Die Gegnertätigkeit hat in der Berichtszeit zugenommen“, schildert ein anderer B'e r i c h t, N r. 11 - 1 2 3 vom 1. Juli 1939:

„Es häufen sich die Anzeigen von staatsfeindlichen Äußerungen. Die Arbeit des politischen Katholizismus wird mit allen Mitteln kräftigst unterstützt. Teilweise mangelnde weltanschauliche Festigung örtlicher Parteiführer sowie das Fehlen eines Ersatzes für den katholischen Glauben (!) erleichtern dem Gegner die Arbeit.

Die Wirkung der systematischen Gegenarbeit läßt sich an vielen kleinen Dingen nachweisen. Selbst bis in illegale Gruppen läßt fich das Zusammenspiel dieser Gruppen mit dem politischen Katholizismus verfolgen.“ Am 3. Juli 1939 meldet der Lagebericht:

„Für die im Sachgebiet II 12 zusammengefaßten Gegner ist festzustellen, daß eine wesentliche Verschlechterung der Lage eingetreten ist. Die Aktivität aller Gegnerkreise ist erhöht, vor allem die der marxistischen Gruppenpdie heute schon wieder mit einer unvorstellbaren Frechheit auftreten. Erkenntlich wird die Arbeit der marxistischen Gegner unter anderem dadurch, daß die Zahl der Streu- und Schmieraktionen überhandnimmt. Während die marxistischen liberalen Kreise vornehmlich in Wien und in den Industriezentren tätig sind, sind in der Provinz die „Schwarzen“ (Angehörige der ehemaligen Vaterländischen Front usw.) die Aktivisten, die vor allem unter dem Schutz der Kirche arbeiten.

Da nach wie vor alte Systemanhänger in den verschiedenen Stellungen in den Ämtern und in der Wirtschaft sitzen und oft die Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates oder der Partei sabotieren, ist Grund zur Unzufriedenheit gegeben, die sich letzten Endes wieder gegen den Nationalsozialismus richtet. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Stimmung in der Ostmark — an der Spitze die Stadt Wien — sehr gespannt ist, und daß im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung über die Zuverlässigkeit eines großen Teiles der Ostmärker, Befürchtungen gehegt werden müssen.

Zunehmende politische Aktivität weiter Kreise einerseits gegenüber dem Dritten Reich und völlige Interesselosigkeit an dem Geschehen der Politik und des Krieges, diese Tatsache bemerken immer wieder die Wiener Gestapoberichte aus dem Jahre 194 0, dem Jahr des großen Sieges über Skandinavien und Westeuropa.

Leider ist für die Mehrzahl der Bundesländer das Gestapomaterial bisher nicht zum Vorschein gekommen.

Schon 1938 kam es zur

in den folgenden Jahren wurden es ihrer immer mehr. Wohl waren die Verluste sehr groß — so liefen 80 Prozent sämtlicher deutschen Kriegsgerichtsprozesse gegen Österreicher, betrug die Zahl der im “Wiener Landesgericht Hingerichteten allein 685 Personen, davon 452 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ — doch der Freiheitswillen des österreichischen Volkes konnte nicht mehr zurückgehalten werden.

Aus der Materialfülle konnte hier, obwohl das selbst wieder nur einen Bruchteil des Gesamtmaterials darstellt, nur auf einen kleinsten Teil näher eingegangen werden. Aber auci schon dieser kleine Teil beweist, daß „österreien“, wie das Rot-Weiß-Rot-Buch sagt, „solange es als Staat bestand, der deutsehen Aggression aktiven Widerstand entgegensetzt und das österreichische Volk auch nach der gewaltsamen Okkupation diesen Widerstand passiv und aktiv fortgesetzt und damit im Rahmen des Möglichen seinen Beitrag zur Befreiung geleistet hat. Österreichs Forderung lautet daher: Gerechtigkeitfür Österreich 1“

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