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Gestern Feind, morgen Sdiiedsrichter

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E. v. H., Paris, Ende Juni

„Der zweite Weltkrieg hätte vermieden werden können, wenn die Alliierten nicht im Frieden uneins geworden wären… Möchten doch die unheilvollsten und mörderischesten Irrtürner nicht wiederholt werden! … Frankreich c hat das Recht und die Pflicht,- auf die Gefahren einer internationalen Politik hinzuweisen, die auf seine Warnungen und seine Erfahrungen nichts gäbe und deren fürchterliche Folgen doch wieder Frankreich als erstes Opfer zu fühlen bekäme. Es hat das Recht und die Pflicht zu fordern, daß man nicht den Feind von gestern zum Schiedsrichter zwischen den Siegern mache…”

Worte des Präsidenten der Französischen Republik.

Man muß sich Zeit und Szene vergegenwärtigen, um sich des ganzen Ernstes dieser Warnung bewußt zu werden. Vincent Auriol ist am Jahrestag der Landung der Alliierten durch die Ruinenstädte der Normandie, durch Caen, Lisieux, Bayeux, Port- en-Bessin, Saint-L6, Sainte-Mere-Eglise und wie sie alle heißen, gepilgert, um die Landschaft zu grüßen, die mit ihrem namenlosen Leid und ihren ungeheuren Opfern die Befreiung möglich gemacht hat. Hier ist gerungen worden wie nirgend anderswo, denn es ging hier um die letzte Entscheidung. In Port-en-Bessin wurde das Staatsoberhaupt von den Botschaftern Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas empfangen; dann sprach Vincent- Auriol vor ihnen, wie oben zu lesen ist.

Zur selben Zeit wurden in Paris, London, Washington, Brüssel, den Haag und Luxemburg die Londoner Beschlüsse über die Organisierung Westdeutschlands bekanntgegeben — Beschlüsse, denen in Frankreich mit größtem Mißtrauen entgegengesehen und dann ein denkbar unfreundlicher Empfang bereitet wurde.

Fünf Tage lang beschäftigte sich die Nationalversammlung mit den Londoner Empfehlungen, und ebensolange hatte man den Eindruck, daß ihnen eigentlich niemand voll und ganz zustimmte. Es gab auch wahrscheinlich keinen einzigen Abgeordneten, der sie im tiefsten Herzensgründe nicht verworfen hätte. Wie mochte da die Abstimmung ansfallen? Es fiel den Nationalräten, die nicht nur gegen die Londoner Punktationen, sondern gegen die Regierung überhaupt waren, nicht • schwer, eine eindrucksvolle Parallele’ zwischen den Irrtümern, Unterlassungen und Enttäuschungen nach dem ersten und denen nach dem zweiten Weltkrieg herauszuarbeiten, wonach ein Schluß per analogiam auf die Wirkungen gezogen wurde. Gewichtige Stimmen mahnten: Beurteilt doch nicht unsere Sicherheit nach den Maßstäben des Jahres 1919! Die Atombombe, neue Waffen, die Weite der strategischen Räume haben das Problem grundlegend geändert. Bleiben wir doch nicht um einen Frieden zurück, wie unsere Generäle um einen Krieg zurückgeblieben waren! Franęois- Poncet fügte hinzu: Seid männlich, wahrt die Würde! Zittert doch nicht vor dem Trümmerfeld, das Deutschland heute ist. Allzu offensichtlich zur Schau getragene Angst kommt einem Eingeständnis des Zweifels .an sich und den andern gleich. Paul-Reynaud versuchte es, die Abgeordneten über die Abgründe der Unentschlossenheit hinüberzuführen, indem er zu bedenken gab: Man muß sich darüber klar werden, ob man brechen oder verbessern will. Dem Osten haben wir schon nein gesagt, wollen wir nun auch dem Westen und Benelux nein sagen? Wozu frommt uns unsere Vereinsamung?

Aber selbst allerweisesten Worten wäre es diesmal wahrscheinlich nicht gelungen, eine Möhrheit für die Regierung zu mobilisieren — das gelang vielmehr de Gaulle mit seinem Angebot, an der Regierung teilzunehmen.

Vierzehn Stimmen Mehrheit bedeuten nun freilich keinen großen Sieg, besonders nicht, da es sich um einen Gegenstand von großer Bedeutung handelte. Die Regierung Schuman wird davon gewiß kein Aufhebens machen. Aber auch für die Nationalversammlung waren die Tage der großen außenpolitischen Debatte keine Ruhmestage. Nur selten erhob sich die Debatte auf des Gegenstandes angemessene Höhe. Die Tagesordnung war ein widerspruchsvolles Machwerk. Es ist verwunderlich, daß die Regierung sie angenommen hat. Es geschah, um Schlimmeres zu vermeiden. Die Tagesordnung verlangte die Ausschaltung aller Risken der Wiederherstellung eines autoritären und zentralistischen Deutschlands und gleichzeitig die Herbeiführung eines Einvernehmens der Vier über das deutsche Problem. Nun ist bekannt, daß die russische Politik auf die Schaffung eines autoritären, zentralistischen Deutschlands gerichtet ist. Die Tagesordnung nahm auch die schon abgetane Forderung nach Internationalisierung der Ruhrgruben und gewisser Schlüsselindustrien wieder auf, obgleich sich England und die USA gerade in allerletzter Zeit entschieden dagegen ausgesprochen hatten. Sie stellte also Forderungen auf, von denen die Regierung schon heute weiß, daß sie sie nicht vertreten können wird.

Die Begleiterscheinungen und Ergebnisse der außenpolitischen Debatte haben ein Unbehagen erzeugt, das noch durch die ihr vorausgegangenen und gefolgten innerpoliti schen Schwierigkeiten gesteigert wird. All das, was in den letzten Wochen krisenhafte Zustände geschaffen hat — Verstaatlichung der freien Schulen in den nationalisierten Bergwerksbezirken, Preispolitik der Elektrizitätswerke, Versagen der Bemühungen um eine wirkliche Senkung der Lebenskosten, Reform des Mietengesetzes’ und jetzt auch noch die wieder aufgeflammte soziale Spannung —, hat das Interesse der Öffentlichkeit für die deutsche Frage nicht abzuschwächen, geschweige denn zu ersticken vermocht.

Es ist fraglich, ob sich bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit oder eine Minderheit für die Londoner Empfehlungen ergeben hätte.

Die Reaktion des französischen Volkes auf die Londoner Beschlüsse war so stark, weil sich das Volk plötzlich der Tatsache bewußt wurde, daß das Besatzungsregime in seiner bisherigen Allmacht zuEnde geht, daß in Hinkunft nicht mehr die Kommandanten der Besatzungstruppen allein das deutsche Schicksal bestimmen werden, sondern in zunehmendem. Maße auch die Deutschen selbst. Das französische Volk wurde sich auch bewußt, daß die Alliierten diese Tatsache in durchaus verschiedener Weise in Rechnung stellen, und es beginnt zu ahnen, daß die Deutschen es sein könnten, die aus dieser Nichtübereinstimmung Nutzen ziehen würden.

Auch beginnt man einzusehen, daß das Problem durch eine Reihe schwerer Fehler kompliziert worden ist. Franęois-Poncet muß immer wieder zitiert werden. Am Morgen nach der Niederlage — so schrieb er kürzlich im „Figaro” — hätte Deutschland was auch immer angenommen. Ohne weiteres wäre es auch auf einen Staatenbund eingegangen. Man wollte es aber „in seinem Fette schmoren” lassen. Man erweckte seine politischen Parteien und Gewerkschaften zu neuem Leben, zeigte ihnen aber weder klare Ideen noch festen Willen. Die Londoner Empfehlungen sind nun ein erster Schritt auf dem Wege zur OrganisierungDeutschlands. Indessen bereiten sich auch im Osten gewisse Dinge vor. Dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs wird versichert, daß man mit der eigenen Arbeit die Wiedervereinigung der beiden Teile vorbereite. Daß die Wiedervereinigung nicht gefördert würde, wenn der Osten zentralistisch, der Westen föderalistisch organisiert würde, dürfte nicht bestritten werden können. Es war Frankreich, das in die Londoner Empfehlungen gewisse Sicherungen gegen jeden Zentralismus bei Einberufung der Konstituante und bei Ausarbeitung 3er Verfassung einbauen ließ. Im Osten bestimmt die Besatzungsmacht die Verfassungsgrundsätze. Sie hat sich bereits für den Zentralismus ausgesprochen. Schon die Sehnsucht nach Wiedervereinigung dürfte schließlich im Westen zur Annahme einer zentralistischen Verfassung führen. Was dann? Die Experimente der Anglosachsen und ihre Vorschläge für die Organisierung Westdeutschlands verraten, daß sie gegen eine zentralistische Verfassung nichts einzuwenden hätten.

Das sind Gedanken, die sich das französische Volk macht und die es sehr ernst stimmen. Es gibt Franzosen — es sind aber nur wenige —, die da sagen, Frankreich sollte die vorauszusehende Entwicklung in Westdeutschland in die Hand nehmen und sich zum Champion der deutschen Einheit machen. Man werde sie nicht verhindern können, also solle man sie fördern und sich dadurch die Deutschen verpflichten. Das sei vielleicht auch eine Art Sicherheit.

Es gibt auch Franzosen — diese in noch geringerer Zahl —, die in „großen Zeiträumen denken” und eine Vereinfachung des Problems und eine Erleichterung der Lage Frankreichs durch zunehmende „Europäisie- rung” Englands voraussehen. In dem Maße, als sich die Beziehungen der Insel zu den Dominions lockern, werde England dem spezifisch europäischen Gedanken gewonnen und Frankreich nähergebracht. Die französische Sicherheit werde sich also auch in dieser Hinsicht bessern.

Man muß es verstehen, daß dagegen die Masse des französischen Volkes gar sorgenvoll in die Zukunft blickt. Zu lebhaft und frisch ist die Erinnerung an den Zerfall der Solidarität der Sieger nach dem ersten Weltkrieg — ein Zerfall, der Hitler ermutigt hat, den Frieden zu brechen. Ein verbündetes Rußland war — neben der eigenen Kraft — Sicherheit gegen die deutsche und die — russische Gefahr. Jetzt aber steht Rußland in einem anderen Lager. Widerspruchsvoll, wie die internationale Lage nun schon einmal ist, begrüßt aber mancher Franzose das Abseitsstehen der Russen, weil es wenigstens die Spaltung Deutschlands aufrechterhält.

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