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Gesucht: ein Bao-Dai für Algier?

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Seit dem Plebiszit vom 8. Jänner gibt es nicht nur den französischalgerischen Krieg — es gibt nun auch eine französisch-algerische Politik. Aber der so verwickelte Kleinkrieg ist neben dieser Politik geradezu ein Muster an klarer Übersichtlichkeit. Im Dschungel der Verhandlungen steht nur zweierlei fest. Zum einen hat der FLN erklärt, daß er zu direkten Verhandlungen mit de Gaulle bereit sei. Und zum anderen kann an dem so vielschichtigen Referendum etwas kaum bestritten werden: eine zwar knappe, aber doch eindeutige Nleh'r- heit des französischen Volkes hat innerlich diė französische1 Stellung'itf" Algerien, zumindest in ihrer bisherigen Form, abgeschrieben.

Das sind die beiden einzigen Tatsachen, an die man sich halten kann. Alles übrige verschwimmt. Die französische Regierung läßt nach wie vor über ihre Nah- und Fernziele in Algerien im unklaren. Und auch über die Bedingungen des FLN für Verhandlungen, die klargestellt zu sein schienen, hat sich Nebel verbreitet, seit Ferhat Abbas in Kairo diesen Bedingungen die Forderung nach dem Abzug der französischen Armee aus Algerien beigefügt haben soll und dieses Interview dann von seinen Kollegen in der algerischen Exilregierung in Tunis desavouiert wurde. Unzählige Gerüchte schwirren durch die Luft, die Nachrichtenhändler haben Hochkonjunktur. Offiziell scheinende Erklärungen werden nachträglich als Machinationen der feindlichen Geheimdienste denunziert. Und ganz offensichtlich mißtrauen beide Lager jedem offiziellen, jedem offiziösen und erst recht jedem in den Kulissen geflüsterten Wort der anderen Seite.

Die Frage ist nur, ob dieser Wirrwarr ein Verhängnis ist oder vielmehr ein von einer oder verschiedenen Seiten bewußt angestrebter Zustand. Vom Beobachtungspunkt Paris aus kann nur der französische Partner in dem komplizierten Spiel mit einiger Sicherheit beurteilt werden. Uns scheint, daß sich von hier aus der Wirrwarr doch einigermaßen klärt, wenn man den Komplex der französisch - algerischen Verhandlungen nicht losgelöst, sondern im Gesamtrahmen der gaullistischen Politik sieht. Doch dazu muß weiter ausgeholt werden.

„Die Schneide des Degens"

Das gaullistische Regime ist an Paradoxien reich. Die wohl aufschlußreichste unter ihnen ist, daß es sich bei ihm um eine „potentielle Diktatur“ handelt. De Gaulle hätte durchaus die praktischen Möglichkeiten, eine Diktatur zu errichten. Aber er hat darauf verzichtet; die ihm in die Hand gegebene Macht verwendet er vielmehr zum systematischen Ausbau dessen, was man den „E m p i-

r i s m u s" de Gaulles genannt hat. Während seiner ersten Regierungszeit, die mit seinem brüsken Abgang im Jänner 1946 endete, stieß de Gaulle oft mit seiner schroffen Unbedingtheit an. Er hat es „den Politikern“ nie verziehen, daß sie ihn damals „um seine Sendung betrogen“. Nachdem er gegen Ende der vierziger Jahre mit seiner „Sammlungsbewegung“ gegen die Vierte Republik gescheitert war, beschloß er in der dörflichen Einsamkeit, das nächstemal die Politiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Er erinnerte sich daran, daß et 19'3' lh seinem (zuwenig bekannt gewordenen) Buch „D f e“ Schneide des D egens" den Politiker als einen Mann definiert hatte, der „die Kunst des

Verführens beherrscht, sich je nach der Stunde vermummt und nur dann etwas zugibt, wenn es sich lohnt“. Er hatte damals als Eigenschaften des vollendeten „Tatmenschen“ nicht nur „eine starke Dosis von Egoismus, von Überhebung (orgueil), von Härte“, sondern auch „von List“ aufgezählt.

So überraschte denn de Gaulle, der nach dem 13. Mai 1958 wieder ans Ruder kam, die Parlamentarier durch seine Umgänglichkeit und seine Liebenswürdigkeit. Und er entwickelte den ihm eigentümlichen Regierungsstil, der von dem der Vierten Republik gar nicht grundsätzlich verschieden war, wie doch jedermann erwartet hatte. Dieser Stil bestand vielmehr darin, daß de Gaulle bestimmte Techniken, welche seine Vorgänger nicht verschmäht hatten, in bisher nicht gekanntem Ausmaß ausbaute. Pierre Viansson-Pontė, der innenpolitische Chronist des „Monde", hat die klassische Definition dieses Stils geliefert: „Der Präsident der Republik

definiert zunächst die Fernziele seiner Politik, und zwar in zugleich recht klarer (durch die Wahl bestimmter, die Phantasie beschäftigender Schlüsselwörter) und recht sibyllinischer Art. Ist diese Initialzündung einmal erfolgt, so wird den Exegeten einige Zeit zum Um- und Wiederumdrehen dieser Sätze gelassen, den Feinden zum Verlassen der Deckung, der Öffentlichkeit zum Sichgewöhnen an die neuen Ideen. Während dieser Zwischenphase werden mehr oder weniger .orientierte“ Aussagen in einer Weise filtriert, daß sie keinen offiziellen Charakter haben und, ohne dementiert oder bestätigt zu werden, doch beides in jedem Augenblick werden können. Hierauf werden die Projekte nochmals in Arbeit genommen, und zwar unter möglichster Berücksichtigung der bei diesem Verfahren sichtbar gewordenen Reaktionen.“

„Einnebelung“

Das blieb aber nicht nur der persönliche Stil de Gaulles. Da das ganze gaullistische Regime von seinem Patron geprägt ist, übernahm auch die ganze Hierarchie von Premierminister Debrė bis hinunter zu den sogenannten „kleinen Baronen“ des Regimes, den Vorzimmerherren und den örtlichen Sekretären der UNR, diesen Stil — und zwar keineswegs immer mit der psychologischen Meisterschaft des Chefs. Es entwickelte sich so ein politischer Mechanismus mit drei hervorstechenden Arbeitsgängen, für die sich in der so definitionsfreudigen politischen Atmosphäre Frankreichs denn auch schon die entsprechenden Fachausdrücke gefunden haben: „intoxication“ (oder abgekürzt: „intoxe") — „provocation“ — „usure“.

„Intoxication“ (Vergiftung) läßt sich sinngemäß am ehesten als „planmäßige Vernebelung“ übersetzen. Sie braucht nicht unbedingt das Ausstreuen von Falschmeldungen zu sein. Die „Falschheit“ der Meldung kann auch einfach in ihrer Dosierung oder im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bestehen. Beispielsweise können die Absichten der Regierung so übertrieben dargestellt werden, daß die Öffentlichkeit dann angenehm überrascht ist, wenn nur ein Bruchteil davon ausgeführt wird — ein „Bruchteil" notabene, der ohne diese psychologische Vorbereitung vielleicht einen Sturm ausgelöst hätte. Oder es wird etwas angekündigt, was zum angegebenen Zeitpunkt gar nicht eintritt; kommt es dann später doch dazu, so ist die Aufregung bereits verpufft. Vollends kompliziert sich der Vorgang der „Intoxication" dadurch, daß er sogar aus einer durchaus zutreffenden Meldung bestehen kann.

Von „Provokation“ ist im Zusammenhang mit der gaullistischen Politik ebensooft die Rede. Als im Jänner 1960 die zweiten Barrikaden

von Algier errichtet wurden, ging sogleich das Gerücht um, daß die Ultras einen Putsch erst im Frühjahr geplant hätten, die für Paris arbeitenden Geheimdienste ihn darum vorzeitig hätten „losgehen“ lassen. Und die Absetzbewegungen von General Salan und später von Lagaillarde und Genossen nach Spanien wurden auch mit Provokation von Seiten gewisser Geheimdienste begründet: man habe diese Oppositionsführer dadurch in den Augen der französischen Öffentlichkeit (die auf Einmischungen des Auslands und insbesondere Francos bekanntlich nervös reagiert) diskreditieren wollen. Und zugleich sei dabei die Rechnung aufgegangen, daß der vorsichtige Franco mit Rücksicht auf seine gesamte Außenpolitik die gefährlichen französischen Gäste durch seine Polizei höflich, aber bestimmt neutralisieren werde.

Abnützung

Das Ergebnis von „Intoxikation“ und „Provokation" aber ist die „A b- nützung“ (usure). Das bekannteste Beispiel dafür ist, wie de Gaulle — ob nun provisorisch oder für immer, ist eine andere Frage — mit der Opposition der „Ultras“ in der Armee und bei den Zivilisten fertiggeworden ist. Er hat nie offen gegen sie zugeschlagen (der Barrikadenprozeß beschränkte sich ja auf das „optisch“ unbedingt Notwendige). Es war vielmehr ein ständiger Wechsel von kalten und warmen Duschen, von beruhigenden Worten, Warnungen und (bei den Offizieren) mit Beförderungen und Dekorationen verbrämten Versetzungen weg von Algerien, mit denen de Gaulle diese Opposition ihres Elans beraubt und mürbe gemacht hat.

Hält man sich diesen Mechanismus vor Augen, so versteht man auch, weshalb die französisch-algerische Politik sich so verwirrend präsentiert. Was de Gaulle in Algerien wirklich will, weiß niemand mit Bestimmtheit — weder Herr Debrė noch die Redaktion des „Canard enchainė“ noch irgendein in Paris sitzender Ausländskorrespondent. Aber in der geschilderten Atmosphäre argwöhnt unvermeidlicherweise jedermann hinter jedem Zug jeder Seite eine Finte.

So ist es denn auch nicht verwun- dėfljcli, "daß die 5'Mė'ng sidfr' Vėrbreften' konnte,'de Gaulle könnte nun vefiäj'Men FEN'&clf4 die gleiche Mühle von Intoxikation—Provokation- Abnützung zu drehen, wie er das mit so unbestreitbarem Erfolg mit den Ultras gemacht habe. Auch hier ist der „Canard enchainė“ wieder bei der Avantgarde: er glaubt, daß de Gaulle den FLN mit unendlich langwierigen Geheimverhandlungen (die dann im richtigen Augenblick unter irgendeinem Vorwand abgebrochen würden) so lange hinhalten wolle, bis er mit der Installierung eines relativ autonomen Algerien vollendete Tatsachen geschaffen habe.

Gesucht: ein Bao-Dai für Algier?

Dieser These wird allerdings entgegengehalten, daß de Gaulle schwerlich genügend Algerier finden würde, die sich in der heutigen Lage noch in einem algerischen „Baodaiismus“ kompromittieren wollten. Aber die Verfechter der Abnützungsthese sind da nicht um Argumente verlegen. Sie wollen wissen, daß die Dezemberunruhen in den mohammedanischen Vierteln der algerischen Städte nicht vom FLN gelenkt worden seien. („Provokation“?) Dieser sei vielmehr hintennach gehinkt und habe, um die Bewegung wieder in die Hände zu bekommen, Unruhen für den Tag des Referendums befohlen, zu denen es dann bezeichnenderweise nicht gekommen sei. Von hier ist es dann nicht mehr weit zu der Behauptung, die Unruhen seien ein Werk der Konkurrenz des FLN, nämlich des MNA des in französischer Schutzhaft sitzenden „Vaters des algerischen Nationalismus“, Messali Hadj. Und wieder andere wollen wissen, daß zwar das MNA keine Bedeutung mehr besitze, die algerische Exilregierung in Tunis jedoch den inneralgerischen FLN- Maquis gar nicht mehr in der Hand habe und schon darum auf eine baldige Verständigung mit de Gaulle angewiesen sei, sich also in der schwächeren Verhandlungsposition befinde.

Wie sicher der FLN seiner Sache (und seiner Truppe) ist, wird sich daran ablesen lassen, ob er dem Gaullistischen Stil der Politik entschieden mit der Flucht in die Öffentlichkeit antwortet oder sich auf das Spiel einläßt.

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