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Gewerkschaften: Vereint sind auch die Schwachen mächtig

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Über die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung. 

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Über die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung. 

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Der österreichischen Gewerkschaftsbewegung war — allerdings immer als Folge von Kriegskatastrophen mit all ihren furchtbaren wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen — zweimal innerhalb von drei Dezennien die Möglichkeit gegeben, neu zu beginnen.

Im Jahre 1918 mußten sich die bestehenden Gewerkschaftsorganisationen verschiedener politischer Richtungen von dem großen Raum der Monarchie mit 53 Millionen Einwohnern auf den engen Raum der Deutschösterreichischen Republik mit 6 Millionen Bewohnern umstellen. Die Gewerkschaftsverbände traten aber weiterhin einander konkurrenzierend auf den Plan. Die freien Gewerkschaften bemühten sich, in der jungen Republik eine möglichst geschlossene und starke Gewerkschaftsorganisation zu schaffen. Die christlichen Gewerkschaften wollten aber nicht nur ihre Selbständigkeit behaupten, sondern auch gleichfalls ihre Bewegung stärken. Es kam oftmals in den Betrieben zu Konflikten, die anfangs meist zugunsten der weit stärkeren freien Gewerkschaften entschieden wurden.

Später erhielten, durch die Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse, auch die gelben Gewerkschaftsorganisationen der Heimwehren und die nationalen Gewerkschaften einigen Auftrieb.

Die Erfahrungen der Zwischenkriegsperiode, die einseitige Machtausübung und damit die Schwächung des Unabhängigkeitskampfes Österreichs in der Zeit nach 1934 und schließlich der genieinsame Widerstand gegen die blutige Unterjochung unseres Vaterlandes haben Christlichsoziale, Sozialisten, Kommunisten wie überhaupt alle Österreicher, die guten Willens waren, zusammengeführt.

Mit der Gründung des Gewerkschaftsbundes als überparteilicher, einheitlicher Gewerkschaftsorganisation wurde die einzig richtige Lehre aus der Entwicklung nach 1918 gezogen. Oesterreich hätte ohne gemeinsamen Gewerkschaftsbund nach 1945 einen ganz anderen Weg genommen. Das Bestehen von Gewerkschaftsverbänden verschiedener politischer Richtungen hätte automatisch dazu geführt, daß sie oft, trotz besserer Einsicht, einander im Fordern überboten hätten. Es wäre dann in der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der sich Österreich nach der Befreiung befand, zu schweren sozialen Erschütterungen gekommen, die von der Kommunistischen Partei selbstverständlich ausgenützt worden wären und ihr allein politische Vorteile gebracht hätten. Eine verantwortungsbewußte Handlungsweise, wie sie der OeGB geübt hat, konnte nur von einem einheitlichen, überparteilichen Gewerkschaftsbund durchgeführt werden. Es war schon dem Gewerkschaftsbund oft schwer, seine Mitglieder von der Notwendigkeit verschiedener Maßnahmen, so insbesondere der Preis- und Lohnabkommen, zu überzeugen.

Der erste Schritt zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse war die Währungsreform Ende 1947, für die der Gewerkschaftsbund energisch eintrat. Die nächsten. Schritte dienten der Festigung des Staatshaushaltes, vor allem durch Abbau der Lebcnsmittelsubventio-ncn. Diesem Zweck dienten die Preis- und Lohnabkommen. Die Gewerkschaftspolitik mußte verhindern, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde: Mit einem geordneten Staatshaushalt und einer gesunden Währung, aber verbunden mit einer langsam anschwellenden Arbeitslosigkeit durch zu große Einsparungen im Budget und durch Ausschaltung der Möglichkeit, mit staatlichen Investitionen die Wirtschaft zu steuern, wäre Oesterreich nicht genützt gewesen. Eine solche Wirtschaftspolitik wurde leider nach 1918 eingeschlagen.

Es kann bezweifelt werden, ob der Weg der Preis- und Lohnabkommen der volkswirtschaftlich zweckmäßigste war. Es kann aber nicht bestritten werden, daß er zur Sanierung des Staatshaushalts und der Wirtschaft führte, ohne die Lasten einseitig den geistigen und manuellen Aibeitern aufzubürden. Die Sicherung vor der ärgsten Not, um die es anfangs ging, hat allerdings eine gewisse Nivellierung der Einkommen der Arbeiter und Angestellten mit sich gebracht. Der Gewerkschaftsbund verkennt keinesfalls, daß Leistung entsprechend gewertet werden muß und Korrekturen erforderlich sind.

Die nächste Aufgabe, die sich nach der Stabilisierung ergab, war die Herbeiführung der Vollbeschäftigung. Der Gewerkschaftsbund nimmt keineswegs für sich in Anspruch, durch seine Politik die Wirtschaftskonjunktur herbeigeführt zu haben. Es bleibt jedoch unbestritten, daß die öffentlichen Investitionen, für die er eintrat, zur Ankurbelung der Wirtschaft beitrugen. Dank der staatlichen Maßnahmen, aber auch dank der Weltkonjunktur hatte Oesterreich im Durchschnitt des Jahres 1955 rund 2,015.OOO unselbständig Erwerbstätige (krankenversicherte Dienstnehmer) gegen 1,373.000 im Durchschnitt des Jahres 1937.

Die Wirtschaftspolitik in Oesterreich nach 1945 hat erwiesen, daß durch einen gesunden Wettstreit der Meinungen starre Wirtschaftsdogmen mancher Fachleute und Wirtschaftstheoretiker gemildert werden konnten, ohne daß Wirtschaftsschädigende Folgen eintraten. Durch ein vernünftiges Kompromiß zwischen den verschiedenen Anschauungen konnte eine Rücksichtnahme auf die Interessen möglichst breiter Bevölkerungsschichten erreicht und so dem gesamten Wohl am besten gedient werden.

Heute geht es um die dauernde Sicherung der Vollbeschäftigung, wobei nicht verkannt werden darf, daß sie die Gefahren einer Produktivitätsminderung in sich birgt. Die gegenüber den westeuropäischen Ländern geringere Lebenshaltung der österreichischen Arbeiter und Angestellten verlangt aber eine Hebung des Reallohnes, dessen Voraussetzung wieder die Hebung der Produktivität ist. Die Gewerk-schaftspolitrk muß gegenwärtig darin bestehen, im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten Löhne und Gehälter zu verbessern, jedoch auch durch Aufklärung der Werktätigen die enge Verknüpfung der Lohnerhöhungen mit der Leistungssteigerung aufzuzeigen. Ein steigender Anteil der Arbeiter und Angestellten am wachsenden Sozialprodukt ist unabdingbar, denn es gibt nur noch einen ungeteilten Fortschritt. Verstoße gegen diesen Grundsatz gefährden die Demokratie.

Der Gewerkschaftsbund hat durch Vereinigung von mehr als zwei Dritteln der österreichischen Arbeiter, Angestellten und öffentlich Bediensteten in seinen Reihen eine große Machtfülle erreicht. Er hat sich bisher nicht dazu verleiten lassen und wird es auch in Zukunft nicht tun, in der Organisation einen Selbstzweck zu sehen. Er hat dem Wohle der-arbeitenden Menschen zu dienen. Er muß dazu nicht nur auf sozialpolitischem und lohnpolitischem Gebiet wirken können, sondern auch einen Einfluß im Wirtschaftsprozeß haben. Bei verständnisvoller Bereitschaft der Sozialpartner läßt sich sicherlich ein vernünftiger Ausgleich der Interessengegensätze finden. Einer solchen Zusammenarbeit soll eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialkommission der Kammern und des Gewerkschaftsbundes dienen. Nach Meinung des Gewerkschaftsbundes könnte eine solche Institution ein wirksames Instrument zur zweckmäßigen Nutzung unserer Wirtschaft und zur Festigung des sozialen Friedens werden. Die Wandlungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüge erfordern, einen konstruktiven Schritt vorwärts zu tun.

Der Gewerkschaftsbund hat sich aber nicht nur materielle Ziele zu setzen, sondern auch die Aufgabe, dem Menschen dadurch zu dienen, daß er der Automatisierung der Hirne und der Trägheit der Herzen entgegenwirkt. Die Ueber-wertung des Materiellen erzeugt geistige Leere. Heute laufen fast alle Programme der Kollektive darauf hinaus, den Menschen materiell zu befriedigen. Aber mit der materiellen Befriedigung allein erreicht man keine Zufriedenheit. Ideelle Werte müssen mehr als bisher dem Menschen nähergebracht werden.

Es fragt sich nun, ob der Gewerkschaftsbund als Instrument des Interes.senkampfes der unselbständig Erwerbstätigen in seiner Stärke und Geschlossenheit erhalten und weiter ausgebaut werden kann. Voraussetzung ist, daß er sich das Vertrauen der Arbeiter und Angestellten aller politischen Richtungen weiterhin sichern, ja es vertiefen kann. Das wird nicht immer leicht sein. Es gibt sehr gegensätzliche Meinungen über die richtige Vertretung der Interessen, und eine Politik, die dem Gesamtinteresse dient, findet nicht immer die Billigung aller. Es wird oft nicht verstanden, daß Sonderinteressen gegenüber Allgemeininteressen zurückstehen müssen. Eine wichtige Aufgabe wird daher die Erziehung zu demokratischem Verständnis und gesamtwirtschaftlichem Denken sein.

Eben wegen der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Anschauungen muß der Gewerkschaftsbund weiterhin eine mittlere Linie des Handelns finden. Die Gewerkschaftspolitik muß sich bemühen, nicht das in den Vordergrund zu stellen, was trennt, sondern das, was eint. Nur ein einheitlicher und überparteilicher Gewerkschaftsbund ist für die mehr als zwei Millionen österreichischer Arbeitnehmer der Garant einer wirklichen Heimstatt in einem besseren und schöneren Vaterland.

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