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Gibt es einen Weg nach Europa ?

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In einer deutschen Zeitschrift standen vor kurzer Zeit folgende bemerkenswerte Sätze: „Zehn Jahre lang ist jetzt für ein vereinigtes Europa Propaganda gemacht wordeni zehn Jahre lang hat es den Anlaß unzähliger Versammlungen und Ansprachen, Broschüren und Blumensträuße gebildet. Das Resultat jedoch ist mager. Die Völker Westeuropas sind zum größten Teil ihre eigenen Wege gegangen.. .* Diese schonungslose Bilanz verdient gerade jetzt Beachtung, da sich Oesterreich anschickt, die Mitgliedschaft im Europarat zu erwerben.

„Wer von Europa — als einem politischen Begriff — spricht, hat unrecht. Europa ist ein geographischer Begriff.“ Diese Aeußerung stammt von einem bedeutenden Politiker des vorigen Jahrhunderts, nämlich Bismarck. Das 20. Jahrhundert aber ist aufgebrochen, um aus Europa doch einen politischen Begriff zu machen. Dieser Aufbruch erfolgte zunächst nicht in den Staatskanzleien und politischen Zentren, sondern in den Köpfen und Herzen einiger — meist als Phantasten verschriener — Menschen. Wie so viele bedeutende Bewegungen hat eigentlich auch die europäische Einigungsbewegung ihren Ausgang von Oesterreich genommen: nämlich 1923, als Coudenhove-Kalergi in seinem Buch „Paneuropa“ den Gedanken einer europäischen Föderation propagierte. Was jedoch vor dem zweiten Weltkrieg als Utopie erschien, gewann durch eine Rede Winston Churchills am 19. September 1946 in Zürich plötzlich festere Gestalt. Der ehemalige britische Premierminister sagte damals:

„Ich versuche nicht, ein ausführliches Programm zu entwerfen für Hunderte von Millionen Menschen, die glücklich und frei ein wollen, zufrieden und sicher, die die vier Freiheiten, von denen der große Präsident Roosevelt sprach, genießen und nach den in der Atlantik-Charta verankerten Grundsätzen leben wollen. Ist dies ihr Wunsch, so müssen Sie es nur sagen, und gewiß finden sich Mittel und Möglichkeiten, um diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.

Ich muß Sie aber auch warnen. Die Zeit ist vielleicht knapp. Gegenwärtig haben wir eine Atempause. Die Geschütze schweigen. Der Kampf hat aufgehört, aber nicht die Gefahren. Wenn e uns gelingen soll, die Vereinigten Staaten von Europa oder welchen Namen auch immer sie tragen werden, zu errichten, müssen wir jetzt damit beginnen.

Ich möchte jetzt die Ihnen vorliegenden Vorschläge zusammenfassen. Es muß unser ständiges Ziel sein, die Stärke der UNO aufzubauen und zu festigen. Im Rahmen dieses die Welt umfassenden Plans müssen wir die europäische Familie in einer regionalen Struktur nen schaffen, die vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa heißen wird. Der erste Schritt hierzu ist die Bildung eines Europarates. Wenn zu Anfang auch nicht alle Staaten Europas willens oder in der Lage sind, der Union beizutreten, müssen wir uns dennoch ans Werk machen, diejenigen Staaten, die es wollen und können, zusammenzufassen und zu vereinen.“

Auf diese, Initiative Churchills kam es zur. Gründung zahlreicher Organisationen zur Förderung des Europagedankens. Die wichtigsten hievon waren bzw. sind: Conseil francais pour l'Europe unie. Europäische parlamentarische LTnion, Union europäischer Föderalisten, Europäische Liga für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Nouvelles equipes internationales, Sozialistische Bewegung für die vereinigten Staaten von Europa usw.

Die Vielheit der Verbände zersplitterte naturgemäß die Stoßkraft, die letztlich doch für ein und dasselbe Ziel aufgewendet werden sollte, wenn auch die Wege, die hiezu von den einzelnen Vereinigungen vorgeschlagen wurden, sehr verschieden waren. Um den Gedanken der europäischen Einigung intensiver zu propagieren, wurde im Dezember 1947 beschlossen, ein ..Internationales Koordinationskomitee der Verbände für die Einigung Europas“ zu schaffen. Dieses Komitee war der Ausgangspunkt einer weitgehend einheitlich organisierten Europa-bewegungf

Der erste konkrete Schritt zu einer europäischen Einigung wurde durch den Abschluß eines Vertrages zwischen Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg am 17. März 1948 in Brüssel getan. All Organ dieser Vereinigung wurde der periodisch zusammentretende Konsultativrat errichtet, der durch die Außenminister der Vertragsparteien gebildet wurde. Im Juli 1948 schlug nun der französische Außenminister Bidault den Brüsseler Paktstaaten vor, ihren Vertrag im Sinne einer engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit zu vertiefen, die auch den anderen Staaten Europas offenstehen sollte. Bei den Beratungen des französischen Vorschlages zeigten sich grundsätzliche Unterschiede in der Auffassung Großbritanniens einerseits sowie Frankreichs und Belgiens anderseits über die Idee der europäischen Einigung. Diese divergierenden Ansichten innerhalb des europäischen Einigungswerkes werden auch heute noch durch zwei Hauptrichtungen, die „Unionisten“ einerseits und die „Föderalisten“ anderseits, verkörpert. Während die Unionisten einen Zusammenschluß der europäischen Staaten auf Grund von kündbaren zwischenstaatlichen Verträgen wünschen, fordern die Föderalisten eine Vereinigung der europäischen Staaten auf Grund von alle Staaten bindenden Gesetzen. Sie streben eine Einschränkung der nationalen Souveränität zugunsten eines europäischen Parlaments und einer obersten Regierung an.

Die Unionisten haben ihr stärkstes Zentrum in England. Die Engländer wünschen langsamer voranzuschreiten als es die Nationen auf dem Festlande für notwendig halten. Diese sind allerdings auch nicht wie das Empire gezwungen, auf so vielseitige Beziehungen zu Ueberseeländern Rücksicht zu nehmen. Der Hauptgrund der eng' lischen Zurückhaltung ist aber in der Tatsache zu suchen, daß die wirtschaftlichen Probleme des englischen Reiches zu komplex sind, um eine brüske Lösung riskieren zu dürfen.

Die Föderalisten sind in den europäischen Bewegungen des Festlandes in der Ueberzahl Es wäre zwar durchaus möglich, daß sich deshalb die Länder des Festlandes zu einer Föderation zusammenschließen, um dann mit dem Commonwealth einen zwischenstaatlichen Pakt einzugehen. Aber die Entwicklung hat zunächst doch den Tendenzen der Unionisten weit mehr entsprochen als den Bestrebungen der Föderali sten nach einer europäischen Verfassung sowie der Schaffung eines europäischen Parlaments und einer europäischen Regierung.

Für Mai 1948 lud das „Internationale Koordi nationskomitee der Verbände für die Einigung Europas“ zu einem Kongreß nach D*en Haag ein. Diese Versammlung von Politikern, Wissenschaftlern und Wirtschaftsführern, die sich klar und eindeutig zu dem Gedanken einer europäischen Zusammenarbeit bekannte, wurde nach träglich der „Erste Kongreß der Europabewegung“ genannt. Die Teilnehmer dieses Kon gresses sprachen sich nämlich mit überwältigender Mehrheit für die Schaffung einer Europaunion aus und beschlossen, die auf verschiedensten Gebieten unternommenen Einigungsbestre bungen bzw. Organisationen in der „Europabewegung“ zusammenzufassen. Als oberste Behörde wurde ein „Internationaler Rat der Europabewegung“ geschaffen. Dieser überreichte der im Oktober und November 1948 tagenden Konferenz der Brüsseler Vertragsstaaten ein aus führliches Memorandum. Nach monatelangen Verhandlungen kam im Februar 1949 schließlich ein Kompromiß zwischen der englischen und französischen Auffassung zustande, das die Gründung eines Europarates einleitete.

Am 7. März 1949 lud der englische Außenminister Bevin auf Grund der Beschlüsse der Brüsseler Paktstaaten vom Februar des gleichen Jahres die Regierungen Dänemarks, Irlands, Italiens, Norwegens und Schwedens zu einer Konferenz nach London ein, auf der die Schaffung eines Europarates vorbereitet werden sollte. Dieses Treffen, das als „Konferenz der Zehn“ bekannt wurde, fand am 28. März 1949 unter dem Vorsitz von Sir Gladwin Jtbb statt. Nach geheimen Beratungen wurde am 5. Mai 1949 das Statut des Europarates angenommen und veröffentlicht. Gleichzeitig verkündeten die Gründerstaaten die Errichtung einer Vorbereitenden Kommission, der es oblag, die erste Sitzung des Europarates vorzubereiten. Diese fand im August und September 1949 in Straßburg statt. Kurz vor der Eröffnung der ersten Sitzungsperiode hinterlegten Griechenland und die Türkei (8. August 1949) ihre Beitritts-utkunden Im März 1950 trat Island bei und im Mai 1950 wurde die Saar als assoziiertes Mitglied zugelassen. Den .gleichen Status erhielt die Bundesrepublik Deutschland am 13. Juli 1950,der im Mai 1951 nach entsprechenden Beschlüssen des Ministerausschusses und der Versammlung in den eines Vollmitglieds umgewandelt wurde.

Artikel 1 des Statuts des Europarates bestimmt als Ziel dieser Vereinigung „einen stärkeren Zusammenschluß seiner Mitglieder zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. Diese Aufgabe wird von den Organen des Rates erfüllt durch Beratung der Frage allgemeinen Interesses, durch den Abschluß von Abkommen und durch gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechts und der Verwaltung sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Die Beteiligung der Mitglieder an den Arbeiten des Europarates darf ihre Mitwirkung am Werk der Vereinten Nationen und der anderen internationalen Organisationen oder Vereinigungen, denen sie angehören, nicht beeinträchtigen.

Die hauptsächlichsten Organe des Europarates sind der „Ministerausschuß“ und die „Beratende Versammlung“. Der Ministerausschuß ist nach dem Statut das Exekutivorgan des Rates, während die Beratende Versammlung das Organ für die Herausarbeitung von Plänen durch Diskussionen europäischer Parlamentarier darstellt. Die Beratende Versammlung kleidet das Ergebnis ihrer Debatten in die Form von Empfehlungen an den Ministerausschuß, der jedoch nicht verpflichtet ist, denselben stattzugeben. Die Beratende Versammlung hat keinerlei Gesetzgebungskraft: ihre Diskussionen können lediglich mithelfen, Abkommen, welche die Einheit des freien Europas festigen, vorzubereiten.

Dennoch ist die Initiative zur Schaffung der bisher wichtigsten europäischen Institutionen: der Montanunion, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie nach deren Scheitern der Plan zur Schaffung einer Westeuropäischen Union und einer Europäischen Politischen Gemeinschaft von Straßburg ausgegangen. Daneben besteht die sehr wichtige Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), die durch den Marshall-Plan hervorgerufen wurde. Es ist kein Zweifel, daß die wirtschaftliche und soziale Integration Europas weiter fortgeschritten ist als die politische. Darum ist Europa heute noch ein geographischer und noch immer kein politischer Begriff und die Vorschläge bzw. Fehlschläge der europäischen Einigungsbewegung überwiegen bei weitem das, was bis jetzt faktisch verwirklicht werden konnte.

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