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Globales Parteibeben

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Zu den Manövern, Blitzaktionen, Bereitstellungen der Truppen des Warschauer Paktes fehlt anscheinend nur noch diplomatische und parteipolitische Finissage, um die Erfolge des Kreml-Konzepts abzurunden: Der Stellvertretende Außenminister der UdSSR, Kusnetzow, erschien am 6. September 1968 in Prag, um eine reibungslosere Durchführung des Moskauer Vertragswerkes vom 26. August anzubahnen. Am gleichen trüben Herbsttage begannen in Bukarest Besprechungen, deren Thema Übungsräume, Zeitpunkt, Einheiten neuer Staatsmanöver des Warschauer Paktes unter Beteiligung rumänischer Kontingente betraf. Die Moskauer Polemik hatte inzwischen Tito-Jugoslawien neuerlich mit der Brandmarkung des „Revisionismus“ versehen. Gleichzeitig hatten Botschafter des Kreml in vielen Hauptstädten außerhalb des Sowjetimperiums vorgesprochen und beruhigende Erklärungen zur aus- nahmsweisen Bruderhilfe der Paktmächte vom 20. August zugunsten der Tschechoslowakei abgegeben.

Normalisierung? „Zycie War- szawy“ kritisierte die tschechoslowakischen Fernsehsprecherinnen, weil sie Schwarz trügen, traurig dreinschauten, auf Make-up verzichteten, von „ausländischen Truppen“ in der CSSR redeten. Das wird sich nach der nächsten „Gipfel'-Runde zwischen Moskau und Prag alles geben. Der tschechoslowakische UNO-Be- auftragte in New York hat längst beim Sicherheitsrat, im Regierungsauftrag, die Absetzung des Gegenstandes „Invasion der CSSR“ beantragt. In Bukarest wurde der ausländischen Korrespondentenschar bedeutet, man möge „die Angelegenheit nicht sensationell hochspielen“. Abgesehen von den jungen Heißspornen in Jugoslawien, beobachtet man in Belgrad eine sehr realistische Re-Aktion gegenüber den „Ereignissen“. Ein titoistischer Altpartisane sagte uns dieser Tage: „Überrennen könnten uns. die Russen, aber nie- .. mals besetzt halten. Nicht, einmal .

unsere eigene Armee vermöchte alle Schlupfwinkel zwischen Fels und Meer, ja, ganze Gebirgslandschaften zu ,sichern'.' Die Sowjets werden sich offene Vergewaltigung und anhaltende Partisanenkämpfe doch überlegen!“

Soweit die Paktstrategie zur Aktivierung des politischen Geschehens in und außerhalb Europas, soweit die Politik des Standortes der unmittelbar Betroffenen. Bonn hat nun seine geduldig betriebene und erhoffte „Annäherung“, (wenn auch

nicht ganz ohne Gewalt), Washington wird an seine offene Rechnung mit Vietnam denken. Die übrige Umwelt der kapitalistischen „Imperialisten“? Ein wenig langsam, zu viel Erbarmen, zu wenig Entschlossenheit. Wie bald nach 1956 hatte man doch die Toten von Budapest vergessen! K

Man schreibt trotz allem 1968

Normalisiert? Der Westen hat dennoch seine Schockwirkung abbekommen; politische Willenskundgebungen der Volksmassen sind nicht einfach „außer Kurs“ geraten. All diese Reaktionen des Westens und der Demokratie reichen jedoch nicht entfernt heran an die Auswirkungen der Krise seit dem 20. August innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Wie bei einem Erdbeben verzeichnet man Epizentrum, nähere und entfernte „Wellenberge“, Spätwirkungen, unbehebbare Schäden. Seit der Entstalinisierung hat es noch kein solches Parteibeben rund um die Erde gegeben. Liegt denn das politische und moralideologische Epizentrum derzeit in Prag — oder, nicht vielmehr in Moskau selbst? So selten schien sich der „Nordische Koloß“ zu rühren, immer wieder aber haben freiheitswillige, wahrhaftige Geister dem Zwang und Unrecht Fehde angesagt, haben sich geopfert für ein besseres Rußland, für eine sinnvollere Weltordnung. Sollte das heute nicht mehr zutreffen? Gomulka fordert seit vielen Monaten bewußt alle „Reformisten“ Polens heraus. Ulbricht tut, als schriebe man das Jahr 1950. Man schreibt für den gesamten Sowjetblock indessen nicht 1950 oder 1956, sondern 1968.

Der Vorsitzende der SPÖ, Doktor Bruno Kreisky, hatte am 29. August in einer klaren Stellungnahme zum „Fall“ Tschechoslowakei unter anderem erklärt: „Die Kommunisten in Europa distanzieren sich — aber mit jedem Tag, der vergeht, distanzieren sie sich immer weniger und. identi- flzieren sie sieh immer mehr.“- Diese Erwartung schöpft aus dem Erfah

rungen nach dem Ungarischen Oktober 1956, sollte aber heute, zwölf Jahre später, differenziert werden. Die westeuropäischen und westlichen Kommunisten, die glaubenden und überzeugungstreuen, erleben für ihr sowjetideologisches „Herz“ gewissermaßen den zweiten Herzinfarkt. Man kann unter Umständen eine Anzahl Infarkte überstehen, und der Zustand normalisiert sich. Neigung und Anfälligkeit für immer schwerere Insulte verstärken sich jedoch.

Reaktionen im Westen

Die Kommunisten außerhalb der Sowjetsphäre hatten eigentlich gehofft, das reformerische Prag werde zur ideologischen Hochburg, zum Mekka des westeuropäischen und westlichen Kommunismus werden. Mag sein, daß gerade diese Sowjetsozialisten und Diktaturkommunisten in absehbarer Zeit ihr eigenes ideologisches „Herz“, ihren eigenen Weg entdecken und bekennen. Auch sollte man die unwiderruflichen Äußerungen der Zentralkomitees der KPen Frankreichs, der skandinavischen Länder, Englands, Österreichs, die Telegramme der deportierten griechischen KP-Häftlinge an die Botschaften der Paktstaaten in Athen nicht übersehen. Der Generalsekretär der KP Italiens, Luigi Longo, beantwortete in der Zeitschrift „Astrolabio“ die beinahe pausenlosen Angriffe der Moskauer „Prawda“ gegen Genossen, Anhänger, Linke, die eine militärische Intervention des Warschauer Paktes gegen Prags KP-Regime ablehnten, und sagte, „daß an der Wurzel der

.Theorisierung' der Intervention in der CSSR eine falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse liegt, als ob die sozialistischen Staaten Europas heute eine Art belagerter Festung wären. Doch die Wirklichkeit ist ganz anders". Die KP Italiens könne eine Konzeption nicht teilen, wonach „die Festigung der bestehenden Blöcke eine Vorbedingung für Fortschritte auf dem Wege der Entspannung“ sei. „Nach dieser Logik befinden wir uns in einer bipolaren Welt, und es geht nur darum, die Existenz zweier Führungsstaaten zur Kenntnis zu nehmen. Wir anerkennen keinen Führungsstaat und keine Führungspartei. Die bipolare Auffassung der internationalen Politik hält immer weniger einer Prüfung der Tatsachen stand, wenn man auch die besondere Position der beiden größten Mächte anerkennen muß.“

Kritik der Bruderparteien

Die Frage, ob zweiseitige Besprechungen der kommunistischen Bruderparteien in absehbarer Zeit zu

einem gesamteuropäischen, zu einem westeuropäischen KP-„Gipfel“, zu einer Konferenz der dritten Kraft überleiten werden, läßt sich im Blick auf den weltweiten Gärungsund Klärungsprozeß innerhalb des Weltkommunismus nicht beantworten, von dem für Dezember 1968 geplanten weltkommunistischen Moskauer Gipfel ganz zu schweigen. Außerdem •— ideologische Weltkonferenzen sind doch nicht in jedem Falle Allheilmittel, weder als Scherbengerichte noch als Restaurierungskommissionen! Was hätte der Kreml den Bruderparteien in aller Welt zum Beispiel auch mit einem entideologisierten, imperialistischen Konzept an Aufmunterung, an Mo- dellhaftigkejt zu bieten?

Die kommunistische und sozialistische Überseewelt hat ebenfalls bestürzt und sehr empfindlich reagiert, von Lateinamerika bis Afrika, von Südasien bis Australien. Kuba, Nordkorea, die KP-Führung Luxemburgs spendeten (aus jeweils taktischen Beweggründen) dem Kreml Beifall. Mit den Schweren Zwischenfällen vom 5. und 6. September am Suezkanal mahnte das sozialistische Ägypten Nassers Moskau an seine

militärische Hilfsbereitschaft gegen Israel. All diese Zustimmungen sind keine Bausteine für einen ideenmäßigen Zusammenhalt. Moskau setzt gegenwärtig an Stelle des klassenkämpferischen Internationalismus in seiner Außenpolitik nationalistische und nationalitätspolitische Akzente: „Autonomisierung“ der Slowakei gegenüber den tschechischen Landesteilen, Kremlgespräche mit Budapest über Siebenbürgen und das Banat, mit Sofia über die VR Makedonien in Jugoslawien und so weiter. Nach Kischinew (Chijinäu) in der Moldauischen SSR lud der Kreml westliche Korrespondenten zu einer kleinen Besichtigungsfahrt. Fraglos wollte man damit nicht bloß den friedensmäßigen Zustand entlang der sowjetischrumänischen Grenze demonstrieren, sondern Bukarest (noch einmal) zu verstehen geben, daß die seit 600 Jahren zum Fürstentum der Moldau und zu Rumänien gehörende rumänische Provinz Bessarabien ein sowjetisches Unterpfand der „Wiedervereinigung“ bleibt;

Gibt es noch „Randerscheinungen“ innerhalb der kommunistischen Welt? Bereits vor den IX. weltkommunistischen Jugendfestspielen in Sofia, Ende Juli, wurden Betreuer, Funktionäre und Polizei instruiert, unter den Delegationen aus aller Welt gebe es bloß zwei wirklich zuverlässige Jugendabordnungen — aus der UdSSR und der DDR. Wie

mag das heute aussehen? Schon am 23. August sandten der Präsident des Weltgewerkschaftsbundes (WGB) in Prag, Renato Bitossi, und dessen allmächtiger, stets sowjetfreundlicher Generalsekretär Louis Saillant (aus Italien und Frankreich) nach Budapest Telegramme, in denen sie gegen die Besetzung der CSSR protestierten. Die übrigen kommunistischen Weltbünde (besonders die intellektuellen) sind in eine ähnliche Krise gestürzt. Gilt also der Slogan „Die Ideologie ist tot, es lebe das Imperium!“?

Man wird der sowjetischen Weltmacht sehr wohl imperiales Handeln zubilligen, das jeweils mit einer bereitwilligen Partnerschaft rechnen kann (und sollte). Imperiales Denken und imperialistische Methoden unterscheiden Sich jedoch wie ein klassisches Drama von einem Schmierenstück. In der Vorstadtschmiere wird die Zahl der Opfer und Toten ins fast Unbegrenzte gesteigert, ohne daß dadurch die abschließende Sinn- und Erfolglosigkeit der Handlung überdeckt und beseitigt würde. Die Paktmächte des Sowjetblockes zogen aus, um die zaghafte „Demokratisierung“ der kleinen Brüder und Genossen in Prag zu verhindern; sie tauschen dafür einen weltweiten Demokratisierungsprozeß des Sozialismus, jenseits der Kontrolle des Kreml, ein. Der große Bruder hat Wind gesät.

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