6641300-1957_47_08.jpg
Digital In Arbeit

„Goldener Boden“?

Werbung
Werbung
Werbung

DER GROSSVATER WAR NOCH KAISERLICHER RAT, ein angesehener und reicher Mann. Er baute ein vierstöckiges Haus am Brillantengrund — eingerichtet mit den modernsten Maschinen vom Keller bis unters Dach. Hundert und mehr Menschen verdienten bei ihm ihr Brot. Der Enkel ist Diplomkaufmann, weitsichtig und mit der heutigen Marktlage vertraut genug, um einzusehen, daß es mit dem alten Drahtziehergewerbe zu Ende geht. Früher, als noch der gesamte Hof, der Hochadel und die k. u. k. Armee zu den treuesten Kunden zählten, wurde jede Woche ein „Stuck zugerichtet“ — das heißt, ein zehn Kilogramm schwerer Silberkern wurde geschmolzen, ausgezogen und mit Gold plattiert. Heute sind es noch ein bis zwei „Stuck“ im Jahr. Die drei noch existierenden Drahtzieher produzieren zusammen etwa 50 Kilogramm Golddraht im Jahr — früher die monatliche Leistung eines einzelnen.

Es ist ein mühsames Handwerk, ein langwieriger Prozeß, bis aus einem Klumpen Edelmetall ein 0,05 Millimeter starker Draht wird. Allein, um von 0,5 auf 0,05 Millimeter ausgezogen zu werden, läuft der Draht über 27 verschiedene Spulen. Außerdem — wer braucht heute noch Edelmetalldraht, Flitter und feingewebte Borten? Die Mode hat sich seitdem wesentlich vereinfacht und die Uniformen unseres Heeres haben ihre ehemalige Pracht eingebüßt. Die Klöster sind noch geblieben — hier braucht man noch Golddraht, um alte Stickereien auszubessern und neue Meßgewänder und Ornate in kunstvoller Arbeit zu besticken.

Wenn man bedenkt, daß eine Quaste aus Golddraht ungefähr 500 S kostet und daß sich eine Vorhangdraperie aus dem Schlafzimmer Maria Theresias heute auf etwa 50.000 bis 60.000 S belaufen würde, kann man den Rückgang dieses Gewerbes verstehen. Es ist schade. Geht doch mit ihm wieder ein Stück alten, ehrlichen Handwerks zugrunde.

EIN VÖLLIGER WANDEL bewirkte auch den Rückgang des Schmiede- und Wagnerhandwerks. Seit der Traktor in der Landwirtschaft Zugtier und Leiterwagen verdrängt, seit man statt handgemachten Pflügen und Eggen Serienerzeugnisse, statt Sense und Sichel vollautomatische Mähdrescher verwendet, haben diese beiden alten Gewerbe zum Großteil ihre Verdienstmöglichkeiten verloren. Nur wenige solcher Betriebe können heute den Erfordernissen der landwirtschaftlichen Mechanisierung nachkommen und sich auf Maschinenreparatur mit einem wohlsortierten und teuren Ersatzteillager umstellen. Ihnen allen fehlt das Kapital zu den nötigen Investitionen. Eine kleine Statistik möge das deutlicher machen:

„IST DAS GEWERBE MIT SCHULD?“ fragt Kommerzialrat Sartori, der Bundesinnungsmeister der Buchbinder. „Es genügt nicht, daß ein Handwerker etwas von seinem Fach versteht, daß er sauber arbeitet und pünktlich liefert, er müßte, um der labilen Marktsituation, die eine ungeheure Beweglichkeit erfordert, standhalten zu können, auch ein umsichtiger Kaufmann sein." — Eine Reihenuntersuchung des Institutes für Gewerbeforschung stellt ebenfalls fest: „Die Ahnungslosigkeit über die geschäftliche Seite des eigenen Betriebes ist vielleicht die größte Verlustquelle des Gewerbes.“ — Ohne ein Minimum an Buchhaltung und Kalkulation ist heute kein einziger Betrieb fähig, zu existieren und der anwachsenden Konkurrenz, einerseits der heimischen Industrie, anderseits des Auslandes, standzuhalten.

DIE KONKURRENZ DER INDUSTRIE macht sich besonders stark bei den Schuh- und

Kleidermachern bemerkbar. 1937 gab es 37.000 und 1956 18.000 Schneiderwerkstätten; auch die Zahl der Schuhmacherbetriebe hat, laut amtlicher Statistik, in den Jahren von 195 3 bis 1956 um 2642 abgenommen. Die Ursachen des bedenklichen Rückganges laufen bei beiden Gewerben ungefähr parallel:

1. Nachwuchsmangel. Bei den Schneidern macht sich darüber hinaus der fehlende Nachschub aus Böhmen bemerkbar.

2. Konkurrenz der Konfektion. Bei den Schuhmachern vor allem die steigende Er-

zeugung von Gummischuhen für Industrie und Landwirtschaft.

3. Altersversorgung. Viele alte Meister ziehen es vor, frühzeitig recht und schlecht von einer Pension zu leben, anstatt für das gleiche Geld einen ganzen Tag hart zu

'arbeiten.

4. Steuerdruck. Es lähmt die Initiative und den Wunsch nach selbständiger beruflicher Tätigkeit, wenn die Abgabensumme zu hoch ist.

DIE KONKURRENZ DES AUSLANDES - hier vor allem der Deutschen Bundesrepublik — wirkt sich am stärksten bei den Spielzeugherstellern und Buchbindern aus. Auch hier einige erklärende Ziffern. Die Betriebsanzahl bei den Spielzeugherstellern ist in den Jähren zwischen 1951 und 1956 von 755 auf 470 gesunken. Die Export-Import-Ziffern im Handel mit Deutschland sprechen vielleicht eine noch klarere Sprache. Im Jahre 1956 exportierte Oesterreich Spielzeug im Werte von 19,5 88.000 und importierte im Werte von 47,882.000 S. Im Halbjahr 1957 verhalten sich die Ziffern: 6,975.000 ZU 19,465.000 S.

Bei den Buchbindern ist die Situation noch schlimmer, da hier neben der Konkurrenz durch Deutschland noch verschiedene andere Faktoren ins Gewicht fallen. Die meisten Verlagsanstalten und Druckereien haben eine ihrem Betrieb angegliederte Binderei. Diejenigen Bücher, die an gewerbliche Betriebe vergeben werden, erbringen meist so niedrige Auflageziffern, daß die Arbeit nicht rentabel ist. Außerdem sucht der Durchschnittskäufer heute nach sichtbaren Beweisen seines Wohlstandes. Reihen schön gebundener Bücher können den Repräsentationswert eines Kühlschrankes, Radioapparates oder einer Nerzstola nicht aufwiegen.

WIE DER ERSTEN TIEFGREIFENDEN VERSCHIEBUNG der wirtschaftlichen Konstellation nach der ersten industriellen Revolution ver-

schiedene Gewerbezweige — wie Handweber, Seifensieder, Färber und Nagelschmiede — zum Opfer gefallen sind, so werden auch im Zuge der beginnenden zweiten industriellen Revolution einige Gewerbe einfach verschwinden oder sich mit anderen verschmelzen.

Wer geht, um ein Beispiel herauszugreifen, heute, außer einem Invaliden, noch mit einem Stock? Der leider sehr hohe Prozentsatz an Kriegs- und Unfallinvaliden genügt bei weitem -nicht, um das Gewerbe der Stockdrechsler noch zu rechtfertigen. Einige gibt es noch in Wien, doch drechseln sie kaum mehr Spazierstöcke, meist erzeugen sie Bambusgriffe für Damenschirme, Henkel für Handtaschen und Brieföffner. Hat man einen dieser Betriebe gesehen, wundert es einen, daß überhaupt noch ein Mensch davpn leben kann. Dunkle, schmutzige Arbeitsräume. Ueber einer kleinen Gasflamme werden Bambusstäbe gebogen. Zwischen zwei mit Fetzen umwickelten Böcken versucht der Meister Unebenheiten in gedrechselten Stöcken äuszugleichen. Fragt man, stutzig geworden, nach dem Reingewinn des Betriebes, in dem drei Menschen vom frühen Morgen bis spät in die Nacty unermüdlich tätig sind, so hör,t'märf'jÄch einigem Zögern: „Mei Gott, des waß i net genau.“ Es werden so an die 1000 sein. Dabei kann man von kompetenter Seite erfahren, daß jene Kleinbetriebe, die überhaupt noch aktiv sind, zu den Ausnahmen zählen.

UND WAS WIRD MIT DEN SEILERN WERDEN? Der Schiffsverkehr auf der Donau ist zu unbedeutend geworden, um ein Gewerbe erhalten zu können, und die Bauwirtschaft verwendet lieber Draht als Hanfseile; er ist billiger und verläßlicher.

Von 1000 Stickereibetrieben gibt es heute in ganz Oesterreich noch 372. Perlsticker sind nur 26 und Federnschmücker lediglich 23 übriggeblieben.

Elfenbeinschnitzer gibt es noch zwei. Und doch geht es in der ältesten Werkstatt in der Mondscheingasse wieder aufwärts, seit der Fremdenverkehr zunimmt und einiges überflüssiges Geld in der Brieftasche des Käufers ist. Die Schatten des letzten Krieges sind nunmehr endgültig verzogen, wenigstens für die Elfenbeinschnitzer, und heuer arbeitet der Meister zum ersten Male ohne Kredit. Der Export floriert • und der Mann kann mit der Arbeit kaum nachkommen. Aber es ist ein Kunsthandwerk, zu dem nicht nur Fleiß, Aus- , dauer und Begabung, sondern auch Liebe notwendig ist. Jede Figur, jeder Flötenspieler, jeder Geiger, jeder Elefant, jeder Steinbock, jede Blume, jede Madonna — alle in mühseliger Kleinarbeit hergestellt — ist Ausdruck schöpferischer Phantasie. Man braucht lange, um jene Fertigkeit zu bekommen, die auch das Geschäft halbwegs rentabel macht. Und welcher junge Mann will heute schon so lange auf Verdienst warten, wenn er als Mechaniker oder als Fabriksarbeiter eine viel kürzere oder gar keine Lehrzeit braucht, um noch dazu viel mehr zu verdienen?

DAS PROBLEM, das der ständige Rückgang gewerblicher, handwerklicher Betriebe außer der rein strukturell-wirtschaftlichen Frage aufwirft, ist soziologischer und psychologischer Natur. Mit jedem Betrieb, der zugrunde geht, geht eine selbständige Existenz, ein selbständig tätiger und denkender Mensch verloren. Einer mehr, der in das große Getriebe der maschinellen Fertigung einge -'''dert wird als kleines, unbedeutendes Rädchen, das tagaus, tagein denselben Handgriff ohne Freude, mit automatischer Gleichförmigkeit vollführt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung