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„Golgatha als Vorbild für Auschwitz...“

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Im Jahre 1632 brach im bayerischen Oberammergau die Pest aus. Um ihrem Wüten Einhalt zu gebieten, gelobte der Rat der Gemeinde, alle zehn Jahre ein Passionsspiel aufzuführen. Zu jener Zeit hielt die Bevölkerung die Pest für eine Gottesgeißel und glaubte deshalb, mit einem derartigen Gelöbnis Gottes Zorn zu besänftigen. Tatsächlich, so berichtet die Chronik, hörte das Wüten der Seuche auf, und Oberammer-gaus Bürger konnten schon 1634 zum erstenmal ihr Gelübde einlösen. Im Jahre 1674 beschloß die Gemeinde, das nächste Spiel auf das Jahr 1680 vorzuverlegen, um von diesem Zeitpunkt an die Aufführung jeweils an den Beginn einer Dekade setzen zu können. Heuer wird die Passion vom Leiden und Sterben Jesu Christi zum 36. Male gegeben. Es war demnach ein tiefreligiöser Grund, der das Passionsspiel von Oberammergau ins Leben rief. Heute aber, fast 340 Jahre nach der ersten Aufführung, steht dieses älteste und berühmteste Passionsspiel der Welt im Mittelpunkt heftiger Auseinandersetzungen. Allerdings ist das religiöse Moment in den Hintergrund getreten, wenn es auch noch heimlich mitschwingt. Man sagt Po-. litik und Geschäft, will aber damit die Religion treffen.

Schon im Jahre 1950, als das Oberammergauer Passionsspiel zum erstenmal nach dem Krieg wieder aufgeführt wurde, meldeten sich Gegenstimmen vor allem von Seiten jüdischer Gruppen in den USA, die dem Passionsspiel eine antisemitische Tendenz vorwarfen. Der gleiche Vorwurf wurde im Jahre 1960 erhoben und wuchs nun in diesem Jahr zu einer richtigen Hetze an, insbesondere deshalb, weil sich ein Teil der deutschen Intelligenz mit Feuereifer auf das Problem stürzite, galt es doch, einen jahrhundertealten christlichen Brauch zu verunglimpfen. Es ist deshalb eine Trennung vorzunehmen zwischen den Bedenken, die Vertreter des Judentums äußern, und den Vorwürfen, die aus angeblich philosemitischen Gründen von Zeitungen und Massenmedien den Oberammergauern gemacht werden. Während die Juden auf Grund ihrer bösen Erfahrungen in der Vergangenheit überaus empfindlich auf alles reagieren, was antisemitische Gefühle wachrufen könnte, geht es vielen deutschen Intellektuellen darum, ein Spiel, das eine mehr als dreihundertjährige Tradition besitzt und religiösen Charakter trägt, überhaupt zu verhindern, um so mehr, als über eine halbe Million Menschen aus dem In- und Ausland herbeiströmt. Ein Spiel vom Leiden und Sterben Jesu Christi gehört nach ihrer Meinung nicht mehr in die Welt von heute.

Der Text des Spieles, das gegenwärtig aufgeführt wird, ist etwas über hundert Jahre alt und stammt von Alois Daisenberger, der sich hauptsächlich auf die Textbearfoeitung seines Lehrers, des Ettaler Benediktinerpaters Othmar Weis, stützt. Es wurde zwar vor einigen Jahren gleichfalls von einem Ettaler Benediktiner, von Pater Stephan Schaller, eine Neutextierung vorgenommen, doch entschied sich das Passionsspielkomitee, das sich aus den 16 Gemeindevertretern, dem Pfarrer und weiteren sieben Oberammergauer Bürgern zusammensetzt, für den alten Text, weil ihm Schallers Neufassung zu wenig dramatisch erschien.

Wer nur den äußeren Rahmen der Oberammergauer Passionsspiele in Betracht zieht, der könnte leicht auf den Gedanken kommen, es handle sich hier um eine einträgliche kommerzielle Angelegenheit. Der 5000 Einwohner zählende Ort wird für viereinhalb Monate (die Passionsspiele dauern von Mitte Mai bis Ende September) zum Fremden-Eldorado und mondänsten Dorf der Welt. Die Geschäfte haben bis 22 Uhr offen, alles ist bestens organisiert, und der Ort hat Millionen D-Mark für Straßen, Kanalisation, Häuserrenovierung, Einrichtung für Fremdenzimmer, Verbesserung der Bühnenmaschinerie und für die Sitzpolster des 5200 Zuschauer fassenden Festspielhauses investiert. Verständlicherweise will die Gemeinde diese Millionenausgaben wieder hereinbringen. Damit wird die Verbindung von Geschäft und Religion bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, doch ist dies ein Zug der Zeit. Zuschauermassen müssen nun einmal organisiert werden, weil anderenfalls ein Chaos entstehen würde. Trotz dieses kommerziellen Zuges ist nicht zu übersehen, daß die Bewohner Oberammergaus für das Spiel auch viele persönliche Opfer bringen. Da nur Bürger des Ortes auf Grund des Gelöbnisses mitwirken dürfen, ist fast ein Drittel aller Erwachsenen mit den verschiedenen Aufgaben beschäftigt, die für das Zustandekommen und die Durchführung des Spiels notwendig sind. Wenn auch die eigentlichen SpielVorbereitungen nur eineinhalb Jahre beanspruchen, so arbeitet ein Teil der Oberammergauer Bürger schon die vorangehenden neun Jahre auf das Spiel hin. Deshalb zählen viele Einwohner ihr Leben nach „Passionen“, weil das religiöse Spiel ihr gesamtes Dasein formt. Sie sind während dieser Zeit entweder in Chor und Orchester des Ortes tätig oder spielen in ihrem Dorftheater Stücke religiösen Charakters oder bäuerlichen Genres. Uberhaupt wird der Ort stark vom Künstlerischen geprägt. Das Dorf ist kein Bauerndorf. Allein 600 Menschen sind als Schnitzer tätig.

Nur von diesem Hintergrund her läßt sich die Art des Spiels begreifen, bei dem es sich nicht um ein Laienspiel handelt. Dafür sind die Leistungen der Mitwirkenden zu profiliert, der Chor und das Orchester zu diszipliniert und die Massenszenen zu eindrucksvoll inszeniert. Das besondere Merkmal der Aufführung ist die monumentale Bildhaftig-keit. Die Mitwirkenden schufen sich einen eigenen Stil, der etwas Holz-schmiittartiges an sich hat. Auch der Dialekt, der gesprochen wird, ist stilisiert.

Das Programm zählt an die siebzig Einzelrollen auf, und bei Massenszenen stehen bis zu 700 Personen auf der Bühne. Die Rollen von Christus, Maria, Magdalena, Petrus, Johannes, Judas, Pilatus, Herodes, Annas und Kaiphas sind doppelt besetzt, weil das Passionsspiel in den viereinhalb Monaten hundertmal aufgeführt wird, wobei jede Aufführung trotz der vorgenommenen Kürzung des Originaltextes noch immer fünfeinhalb Stunden dauert. Das Spiel, das in 16 Akten die Passion Christi behandelt, trägt einen Verkündigungscharakter. Vor jedem Akt treten der Sprecher und der Chor auf, die auf den Zusammenhang zwischen dem Alten und Neuen Testament und auf die zu ziehende Lehre aus der Betrachtung des Dramas hinweisen. Der Gesang des Chors wird auf der Bühne durch „lebende Bilder“ aus dem Alten Testament illustriert. Sie stellen im Sinne der mittelalterlichen Armenbibel Vorbilder für die Ereignisse des Neuen Testamentes dar. Der dramatische Höhepunkt des Spiels ist die Verurteilung Christi durch den Hohen Rat, dem die Hohenpriester Kaiphas und Annas vorstehen, und der Massenauflauf vor dem Haus des Pilatus, wo das aufgehetzte Volk die Hinrichtung Christi vom zögernden römischen Statthalter fordert und das Blut des Opfers auf sich und seine Kinder herabschwört.

Vom Standpunkt der damaligen jüdischen Justiz hatte sich Jesus Sabbatschändung, Gotteslästerung und Verführung zum Aufruhr zuschulden kommen lassen, und auf jedes dieser Verbrechen stand die Todesstrafe.Hier gingen jüdische und christliche Auffassungen Jahrhunderte hindurch auseinander. Immerhin fand auch der Heide Pilatus keine Schuld an Jesus. Aufgehetzte und manipulierte Massen gab es nicht nur damals in Jerusalem, sondern zu allen Zeiten und in allen Orten. Da es nach christlicher Lehre zwar eine Erbsünde, aber keine Kollektivschuld gibt, so ist zwar der damalige jüdische Hohe Rat für Christi Tod verantwortlich, wobei er etliche Gesetze zu seiner Rechtfertigung anführen kann, nicht aber das jüdische Volk als solches. Doch als geschichtliches Faktum ist dieses Ereignis nicht ungeschehen zu machen. Man müßte sonst die Evangelien als antisemitische Machwerke verbrennen. Dann widerführe aber auch dem Alten Testament wegen inhumaner Textstellen ein ähnliches Schicksal. Um sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu wehren, übergeben die Oberammergauer den Besuchern einen Fragebogen, der unter anderem die Frage enthält, ob das Spiel antisemitisch sei. Die bisherigen Antworten verneinen dies zu 99 Prozent. Dabei handelt es sich zum Großteil um ausländische Besucher, von denen die Mehrzahl aus England und den USA kommt. Die ersten sechs Spiele im Mai wurden beispielsweise von 17.727 Ausländern und nur 6300 Deutschen besucht

Auf dem Fragebogen — es wurden bisher 25.000 durchgearbeitet — steht auch die Frage, ob das Spiel geändert werden soll. Hier antworteten 95 Prozent mit Nein. Trotzdem überlegen kirchliche Stellen und etliche Oberammergauer Bürger, ob nicht ein neuzeitliches Verkündigungsspiel geschaffen werden soll, das zwar den historischen Ablauf des Passionsgeschehens bringt, doch durch Einblendung von Ereignissen der letzten Vergangenheit, aber auch der Gegenwart aktualisiert wird. Golgatha als Vorbild für Auschwitz, Vietnam und Südamerika. Den Linksintellektuellen zuliebe würde man sicher darauf verzichten, die 99 Arbeits- und Konzentrationslager in der Sowjetunion, die Ereignisse in Ungarn im Jahre 1956 und in der CSSR in Jahre 1968 sowie die Berliner Mauer ein-zubeziehen. Vielleicht könnte das Passionsspielkomitee Rolf Hochhuth, Peter Weiß, Günter Grass und Alfred Boll als Autoren gewinnen. Allerdings ist dann mit Sicherheit anzunehmen, daß keine 500.000 Menschen mehr nach Oberammergau pilgern werden.

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