Auf unserer Reise haben wir an die 15 Kirchen besichtigt und teilweise auch an den Gottesdiensten teilgenommen. Wir waren immer von der Frage bewegt: Welchen Platz nimmt jetzt noch die christliche Kirche innerhalb des sowjetischen Volkes ein? Schon rein äußerlich muß festgestellt werden, daß die sowjetrussischen Städte nicht so wie unsere Städte vom Mittelalter geprägt sind. Was das bedeutet, vermag man erst zu erkennen, wenn man unseren abendländischen, kulturgeschichtlichen Raum verläßt. Ob die Gründe für das fast gänzliche Fehlen eines mittelalterlichen Stadtkernes — in Moskau ist eigentlich nur der Kreml — in der jahrhundertelangen Holzbauweise oder der Tartarenherrschaft (1224 bis 1480) liegen, vermag man schwer festzustellen, so oder so aber weist es auf eine andere soziologische Entwicklung hin, in der aus verschiedenen Gründen die mittelalterliche Stadt mit ihrem Zunftwesen und Bürgerrechten nicht entschieden zum Ausdruck kam. Wo sie sich zeigte, waren Siedler aus dem Westen am Werk. Welche Konsequenzen sich aus dieser Tatsache für die späteren revolutionären Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts ergaben und damit auf die Revolution des Jahres 1917 ein bestimmtes Licht warfen, mag hier nur angemerkt werden. Das Ineinander von mittelalterlicher Städtebildung und christlicher Weltanschauung, wie wir es auf dem Territorium des sogenannten Abendlandes verzeichnen können, ist jedenfalls in der Sowjetunion nicht vorhanden. Dies merkt man ganz deutlich, wenn man von Leningrad nach Tallinn (Reval) kommt und sich plötzlich in einer historisch völlig vertrauten Umgebung befindet, auch wenn man Tallinn noch nie gesehen hat.
Eine andere theologische Konzeption
Von dieser Feststellung aus dürfte die besondere Eigenart der Prägekraft der Orthodoxen Kirche deutlich werden: Sie hat durch ihren Gottesdienst einen bestimmten Frömmigkeitstyp mit den Tugenden der Gastlichkeit, Hilfsbereitschaft und Leidensfähigkeit geschaffen, aber fast gar nicht auf die Gestaltung der Bildung, der Schule, des Gemeinschafts- und Kommunalwesens Einfluß genommen. Die Wurzeln hiefür liegen wahrscheinlich eher in der theologischen Konzeption dieser Kirche als im russischen Volkscharakter.
An zwei Beispielen kann man das verdeutlichen: Während sich die reformatorischen Kirchen höchst energisch für die Verbreitung der Bildung und des Schulwesens im 16. Jahrhundert einsetzten und die römisch-katholische Kirche in den nachfolgenden Jahrhunderten ebenso stark auf die Bildung der Jugend Einfluß nahm, war trotz des tiefen geistlichen Einflusses der russisch-orthodoxen Kirche die Massenbildung im Rückstand, so daß tatsächlich erst die sozialistische Gesellschaftsordnung in diesem Jahrhundert mit dem allgemeinen Analphabetentum aufgeräumt hat. Oder: Bis zur Zeit Katharinas II. (1764) war die Versorgung der Armen und Invaliden Sorge der Kirche. Nachdem die Herrscherin die Güter der Kirche eingezogen hatte, wurde diese Sorge von Staats wegen übernommen. Gerade in diese Zeit fallen in Deutschland die ersten Anfänge einer umfassenden Liebestätigkeit, wenn man dazu außer den schon früher (1694) gegründeten A. H. Franckeschen Stiftungen in Halle die seit 1750 in Deutschland etwa 100 Rettungsanstalten für Kinder als Vorboten einer Inneren Mission rechnet. Von diesen Voraussetzungen her ist es darum verständlich, wenn bis auf die Rirchengebäude das Bild der sowjetischen Städte kaum durch christlichen Einfluß geprägt erscheint.
Man kann vom „christlichen Abendland” denken, was man will, man kann beweisen, daß das kon- stantinische Zeitalter endgültig vorbei sei — wenn man in die Sowjetunion kommt, bemerkt man erst deutlich, wie sehr immer noch unterschwellig dieses Zeitalter mit seinen Modellbegriffen in unseren Ländern lebt. Unterschwellig: das heißt doch in diesem Fall, daß das Kulturbild in seinen historischen Ausgestaltungen — von uns unbemerkt — uns täglich umgibt und wir auch der Meinung sind, wir hätten zu den darin schlummernden Geisteskräften keine Beziehung mehr. Dann aber, wenn wir plötzlich in eine anders gewordene Umgebung geraten, entdecken wir erst unsere innere, geistige Zugehörigkeit zu den sonst nicht bemerkten Geistträgern.
Soziologisch gesehen lebt in unseren Ländern immer noch eine breite Schichte Menschen, die zumindest eine unbewußte Beziehung zu den Zeugnissen des christlichen Abendlandes hat, während diese Schichte in der Sowjetunion sehr gering, wenn nicht fast ganz ausgestorben ist.
Leben auf zwei Ebenen
Kommen wir von diesem Eindruck auf unsere Frage nach dem Platz, welchen die russisch-orthodoxe Kirche einnimmt, zurück, dann lautet die Antwort, daß es heute in der Sowjetunion keine Reste einer christlichen Weltanschauung mehr gibt. Diejenigen, welche am kirchlichen Leben teilnehmen, die Gottesdienste besuchen, ihre Kinder taufen lassen, ein christliches Begräbnis in Anspruch nehmen oder sich kirchlich trauen lassen, tun dies in einer ausgesprochenen religiösen Introvertiertheit. Auf dem Boden einer totalen weltanschaulichen Beeinflussung während zweier Generationen, ist die Bildung einer anderen Weltanschauung kaum möglich. Das bedeutet, daß in den Belangen der Politik, der Wirtschaft, des gesellschaftlichen Lebens, der Bildung und auch der Kunst selbst die priesterlichen Vertreter der russischen Kirche nicht anders denken können als alle anderen Sowjetrussen. Freilich, wo die geistigen Fronten liegen, die einfach an der Gottesfrage oder an der Frage der Gnade und des ewigen Lebens aufbrechen müssen, ist für einen Außenstehenden nicht leicht festzustellen. Gewiß aber sind sie vorhanden.
Für die Gläubigen bedeutet die Situation ein Leben in zwei Bereichen. Es ist kein Unterschied zwischen den Sowjetbürgern, welche sich auf der abendlichen Straße fröhlich und unbeschwert ergehen, und denen, die gleich nebenan in einer der Kirchen mit in den Gesang des Chores „gospodin pomiluij” einstimmen. Man kann auch nicht sagen, daß sich letztere ausschließlich aus Frauen oder Vertretern der alten Generation zusammensetzen. Wenn man hier schon menschlich faßbare Kriterien ansetzen will, dann liegt der Unterschied eher in einer natürlichen Religiosität, die bei dem einen vorhanden, ausgebaut und gepflegt ist, während sie anderen fehlt oder verkümmert ist. Man könnte also sagen, daß man es bei vielen Kirchenbesuchern mit homines natura- liter religiosi zu tun hat.
können. Was das bedeutet, kann man nur ermessen, wenn man an die Ansprüche der reformatorischen Kirchen denkt, die auf breit ausgebaute und reich ausgestattete theologische Fakultäten ausgerichtet sind.
Wenn es darum allein wichtig ist, daß diese Liturgie geschieht, dann bedarf es weder einer Registration der Gläubigen noch eines vor- geschriebenen Kirchenbeitrages noch einer ausgegliederten Verwaltung, sondern einer genügenden Anzahl von Priestern und Kiirchen- gebäuden.
Die äußeren Kriterien
In Moskau, sagt man, wären es 14, in Leningrad elf und in Tallinn meinde ist daher nur schätzungsweise anzugeben. In den Städten liegen sie zwischen 5000 und 8000 Menschen. Man kann sie nur auf Grund der Taufen schätzen, die in einem Kirchenbuch vermerkt werden. Geht man von diesem Schlüssel aus, dann wären in Moskau bei einer Einwohnerzahl von 7,5 Millionen Menschen ungefähr 100.000 Einwohner oder 1,5 Prozent der Wohnbevölkerung Gottesdienstbesucher. Auf dem flachen Land soll der Prozentsatz etwas höher liegen, aber auch da ist wieder zwischen den alten Siedlungen und den neuen Industrieorten zu unterscheiden. Es wird daher richtig sein, sich über die Zahl der russisch-orthodoxen Christen keinen Spekulationen anheim zu geben, da die Voraussetzungen zu einer Zählbarkeit in unserem Sinne gar nicht gegeben sind.
Eher aber kann auf die Bedeutung der Kirche von der Zahl der Priesterausbildungsstätten geschlossen werden. Waren im Jahre 1961 noch zwei geistliche Akademien und acht Priesterseminare in Tätigkeit, so sind es heute noch die gleiche Anzahl an geistlichen Akademien (Zagorsk und Leningrad), aber die Zahl der Priesterseminare ist auf drei zusammengeschmolzen (Leningrad, Zagorsk und Odessa). Der Ausfall, der durch die Verminderung an Seminaren entstand, soll nach Angabe der orthodoxen Professoren der Akademie in Zagorsk durch Fernstudium wettgemacht werden, so daß der Priestemachwuchs zahlenmäßig keine Einbuße erfuhr.
Die orthodoxe Kirche in Rußland bietet ein völlig anderes Bild als unsere Kirchen. Inmitten einer geistig völlig anders orientierten Welt lebend, ist sie Künderin des eigentlichen Lebens, welches durch Christus dieser Welt geschenkt ist. Diese Verkündigung ist zugleich Lehre und Seelsorge. Diese Kirche will den Menschen nicht besitzen, ja nicht einmal kennen, sie will ihm nur dienen und dankt, wenn er ihr eine Gabe schenkt. Ihre Ohnmacht
Katechese in der Liturgie
Aber auch Beispiele von Gläubigen, die sich auf Grund eines Bekehrungserlebnisses zur Kirche halten, wurden uns bekannt. Daß bei solchen Menschen starke Kräfte in der Bindung an die Kirche zum Tragen kommen, wird schon allein dadurch bestätigt, daß diese Menschen imstande sind, den bis zu vier Stunden dauernden Gottesdiensten /frei stehend beizuwohnen. Manche — besonders ältere Frauen — bringen es fertig, sich kniend, mit dem~ Gesicht bis auf dem Boden, ununterbrochen zu bücken. Man könnte bei einem so starken Ausdruck von Frömmigkeit fast schon von ekstatischen Zügen reden.
Der Vollzug der Liturgie, in den man sich hineinnehmen läßt, bringt im frommen Gottesdienstbesucher tiefe Wirkungen hervor. Die Verehrung und Anbetung Gottes, die nicht, wie bei den Protestanten, nur durch Worte, sondern durch eine ausgebreitete Handlung geschieht, schlägt sich in dem Weltendrama von Schöpfung — Sündenfall — Erlösung nieder, wobei die Bitten um Entsühnung des Menschen einen größeren Raum einnehmen als sonst in der römisch-katholischen oder in den reformatorischen Kirchen. In dieses liturgische Geschehen wird der andächtige Gottesdienstbesucher einbezogen, ja er identifiziert sich und sein Leben mit dem liturgischen Geschehen, so daß mit wahrer Demut, die in sein Leben einkehrt, auch die Freude am Auferstandenen in sein Herz einziehen kann.
So stellt sich der Gottesdienst in der russisch-orthodoxen Kirche als Seelsorge Gottes an Seinen Gläubigen dar. Es ist von hier aus klar, daß das Verlangen nach dieser Seelsorge für diejenigen, welche sie als Lebensbrot gekostet haben, nicht leicht zu unterdrücken ist. Das ist wohl eines der Geheimnisse dieser Kirche, warum sie nach solchen außerordentlichen Verfolgungen immer noch besteht.
Sosehr nun diese Kirche gerade von der Gestalt des Priesters abhängig zu sein scheint, ist sie doch beim Vollzug der Liturgie auch auf die Laien gestellt. Jeder regelmäßige Gottesdienstbesucher beherrscht fast zur Gänze die Texte der Liturgie oder zumindest die des Chores. Dadurch geschieht in dieser Kirche auch die Katechese gleichsam innerhalb der Liturgie. Weiterhin ist verständlich, daß fast zwei Drittel der Absolventen der Predigerseminare durch Fernunterricht und Lehrvikariat allein herangebildet werden sieben Kirchen, welche vom Staat zur religiösen Benützung freigegeben seien. Diese Kirchen haben oft einen großen Fassungsraum, besonders in den Städten, da man ja mit stehenden Besuchern rechnen muß. Außerdem sind meist mehrmals am Tage verschiedenartige Andachten. Die Seelenzahl einer Gebezwingt nach wie vor die Menschen, ihr Leben ebenfalls unter diese Segnung zu stellen, weil es die Ohnmacht ihres Herrn Jesus Christus ist. Weil Er aber der Sieger über alle Finsternisse geblieben ist, darum schenkt Er Seinen Gläubigen die Hoffnung, die auf das sieht, was da zukünftig ist.