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Grenzen des Gehorsams

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Ein interessanter Prozeß vor dem Wiener Volksgerichtshof hat ein Problem aufgeworfen, das etwa in die Frage zusammengefaßt werden könnte: Gibt es Grenzen für den soldatischen Gehorsam und welche sind diese?

Der Tatbestand des Prozesses war eine Brückenzerstörung knapp vor dem Abschluß des Waffenstillstandes, wobei der verantwortliche Kommandant ohne Beachtung der allgemeinen und der militärischen Lage, dem erhaltenen Auftrage wörtlich nachkam. Es ist nicht die Absicht dieser Zeilen, das Urteil und das Strafausmaß einer Kritik zu unterziehen, wohl aber sei, aus Anlaß dieses Falles, besprochen, ob dem Soldaten Überlegungen über die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit eines Befehles, beziehungsweise seine Berechtigung erlaubt sind.

Die Gehorsamspflicht beruhte in der alten österreichisch - ungarischen Armee nebst dem Eid auf dem Dienstreglement 1. Teil für das k. u. k. Heer, dessen weise £i.:immungen grundlegend für den gesamten Dienstgang der Armee waren. Die gleichen Grundsätze — selbstverständlich angepaßt an die neue republikanisch-demokratische Staatsverfassung — waren die Leitlinien für die Dienstvorschriften des Bundesheeres der ersten Republik Österreich. Ähnliche Bestimmungen mögen auch in den deutschen Dienstvorschriften Aufnahme gefunden haben. Wir wollen aber die Grenzen des Gehorsams an Beispielen aus dem ersten Weltkriege besprechen und müssen daher die alten österreichisch-ungarischen Dienstvorschriften heranziehen.

Darnach war die Gehorsamspflicht eine absolute, insolange sich der Befehl (die Weisung, Verfügung und dergleichen) nicht gegen das Kaiserhaus, die verfassungsmäßig bestellte Regierung, gegen die Wohlfahrt des Staates und schließlich drittens gegen die Bestimmungen des Strafgesetzes richtete.

Diese Einschränkung gestattete nicht nur, sie forderte geradezu Uber-legungen, ob der erhaltene Befehl nicht diese Grenzen überschreite, wobei die erste und dritte Einschränkung leichter zu erkennen ist als sie die zweite erlaubt, die von der „Wohlfahrt des Staates“ spricht, diese Wohlfahrt, die sowohl auf rein materiellem als auch ideellem oder sittlichem Gebiete liegt; diese Abwägung reicht weiter und bedarf reifer Überlegung und größter Verantwortungsbereitschaft. Sie kann wohl nur einem höheren Offizier aufgelastet werden, der schon über eine reichere Diensterfahrung verfügt. Ohne Zweifel ist das richtige Erkennen der Folgen bei Erfüllung beziehungsweise Nichterfüllung eines Befehles zumeist sehr schwierig und läßt fast immer eine verschiedene Auffassung zu. So wird auch der jüngst abgelaufene Prozeß nicht von jedem Soldaten gleich beurteilt werden. Auch nachfolgende zwei Beispiele aus dem ersten Weltkriege — die aus dem besonders empfindlichen militärpolitischem Arbeitsgebiet herausgegriffen wurden — werden, keine gleiche Beurteilung finden. Aber sie werden zeigen, wie man in der österreichisch-ungarischen Armee dachte und politische und psychologische Momente mit rein militärischen Erfordernissen zu vereinen suchte, um auf diese Art die Wohlfahrt des Staates und der Gemeinschaft auch in außerordentlich heiklen und sicher sehr schwierigen Fällen wahrzunehmen.

Das erste Beispiel stammt aus dem Kriegsbeginn 1914 und der Mobilisierung.

Ein vor der gedachten Kampffront gelegenes Gebiet, auf einem fernen Kriegsschauplatz, wird programmgemäß geräumt, die zu den Waffen gerufenen Dienstpflichtigen und die nächsten zwei bis drei Jahrgänge werden eingezogen, die übrigen Männer als Ernährer aber belassen. (Niemand dachte doch an einen vierjährigen Krieg.) Was trat nun ein? Der Gegner, der den geräumten Grenzvorsprung umspannt hatte, rückte in das freigegebene Gebiet ein, auf das er von seinen einsamen Bergen seit Jahrzehnten sehnsuchtsvoll blickte, das er während der napoleonischen Zeit sogar vorübergehend besetzt hatte, und von dem er jedenfalls Wohlstand und Reichtum, ohne viel Mühe und Arbeit, erwartete. Das Gebiet wurde nun vom Gegner besetzt, die zurückgebliebene männliche Bevölkerung gezwungen, mit der Waffe in der Hand gegen die österreichisch-ungarischen Truppen zu kämpfen.

Es vergingen 18 Monate! Das geräumte Gebiet wurde von den eigenen Truppen wiedergewonnen, jene Kämpfer hatten gegen den eigenen Staat die Waffen geführt. Der Tatbestand des Hochverrates war für alle gegeben.

Kriegsgericht! Über hundert, nach dem Strafgesetz dem Tode Verfallene stehen vor den Militärrichtern. Diese aber sowie das lokale Höchstkommando sehen sich vor die Frage gestellt, wie weit der Wohlfahrt des Staates bei strengster Handhabung des Gesetzes gedient sei. Es war kein Zweifel: alle waren schuldig, das Kriegsgericht konnte nur schwer von dieser Auffassung abgehen. Der Prozeß nahm seinen harten Gang, ein kompromißloser Ausgang war um die Mittagsstunde des ersten Tages klar. Aber beim Kommando dachte man doch anders! Schuldig waren wohl alle, aber die Rädelsführer, die die Waffenfähigen bewogen hatten gegen die eigenen Brüder aufzutreten, d i e waren die Erstschuldigen, gegen die habe sich die ganze Strenge des Gesetzes zu richten, die anderen sind doch Mitläufer, die vom Gegner auch belangt worden wären, wenn sie sich gegen den Waffeneinsatz gewehrt hätten. Sie standen zwischen zwei Feuern, und es wäre zu viel verlangt gewesen, sich in dieser Notlage aufzuopfern. Diese Auffassung der Gesamtlage nahm beim Kommando immer bestimmtere Formen an und führte schließlich zum Entschluß, das Kriegsgericht neu zu bestellen und den neuen Präses mit bestimmten Weisungen zu versehen, die dahin gingen, nur die Rädelsführer im Wege des Kriegsgeridites zu belangen, die anderen aber dem ordentlichen Verfahren zu überantworten.

Es war ein Eingriff in ein Gerichtsverfahren, sicher ein unerhörter Fall, doch die Wohlfahrt des Staates, begründet in der Ausübung einer wahren Gerechtigkeit, zwang dazu. Dringende militärische Gründe rechtfertigten Versetzungsbefehle — von denen ein Teil des Kriegsgerichtes betroffen war — und boten die Handhabe, um mehr als hundert einfachen, unbescholtenen, sich ihrer Handlung im ganzen Umfange sicher nicht bewußt gewesenen österreichischen Staatsbürgern Leben, Vermögen, damit Existenz zu retten! Die Gedankenwelt, in der die entscheidenden Personen gehandelt hatten, war eben österreichisch.

Und das Armeeoberkommando? Es begnügte, sich mit einer nicht zu harten, die Entscheidung tolerierenden Kritik. Auch dort wirkten Österreicher!

Ein zweites Beispiel:

Derselbe Bereich. In einem kleinen Ort wirkt ein Bezirksrichter. Ein Sohn der dortigen Gegend, zu Österreich in diesem besetzten Grenzland nicht freundlich eingestellt, stand er im gegnerischen Lager, in dem er ein großes Wort führte. Die Lage wurde langsam untragbar. Es mußte vom Kommando eingegriffen werden. Was geschah? Der Bezirksrichter wurde zum Kommando gerufen und ihm bedeutet, innerhalb kürzester Frist zu verschwinden, sonst müsse das Kommando zur Verhaftung schreiten. Die Folgen brauche man ihm — dem geschulten Juristen — wohl nicht erst zu sagen, ebensowenig wie es nötig ist, ihm die Gründe dieses Eingriffes weiter auszuführen. „Wir verstehen uns doch, Herr Bezirksrichter? 24 Stunden haben Sie Zeit. Morgen früh senden Sie mir einen Abschiedsgruß, womit der Fall für uns erledigt ist.“

Der Bezirksrichter verschwand. Es vergingen viele Jahre. Die an dieser Austragung meistbeteiligte Persönlichkeit — Verfasser dieser Zeilen — kreuzt durch Zufall irgendwo wieder den Lebensweg des ehemaligen Bezirksrichters. Sie prallen aneinander. Wie endet nun die unvermeid-'iche Auseinand“rsetzung?

Der Bezirksrichter hatte mittlerweile i dem neuen Staate, dem er jetzt zugehörte, viele neue Erfahrungen gesammelt, neue Ämter, neue Menschen kennengelernt und über seinen Fall selbst reichlich nachgedacht. Und ein tiefer Wandel in den Anschauungen und in der Beurteilung früherer Geschehnisse trat ein. Aus Haß ist Hochachtung und Wertschätzung geworden. Warmer Dank waren daher seine Worte und die Versicherung, daß solch eine Noblesse, eine solche politische Einsicht und so ein menschliches Wohlwollen, so eine Rücksichtnahme auf die allgemeine nationale Lage nur bei „Austria“ möglich war. Er sei jetzt in sehr verantwortungsvoller Stellung und halte sich bei seinen Entschlüssen immer vor: wie hätte man seinerzeit in der gerechten, so klug und vorbildlich verwalteten österreichischen Zeit gehandelt, und so, nur so handle er jetzt, und er rate es immer wieder seinem in allerhöchster Stellung wirkenden Vorgesetzten in allen schwierigen Fällen in gleich wohlwollender Weise vorzugehen. Eine freundschaftliche, unbelastete interessante Aussprache folgte.

So ergab sich nach vielen Jahren eine volle Rechtfertigung für die besprochenen Fälle.

D a s war das alte Österreich, und das soll es in aller Zukunft sein und bleiben: voll Liebe und Verständnis für die wirkenden Menschen, und damit für das Wohl des Staates, für das sich jeder, zu allen Zeiten, in jeder Stellung auch über einen erhaltenen Auftrag hinaus voll verantwortlich fühlen soll. — sing. —

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