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Grobe Entscheidungen am Kongo

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SVD. Leopoldville, im Mai

Als 1876 auf der Geographischen Konferenz in Brüssel die Erforschung Innerafrikas und der Kampf gegen die Sklaverei in Angriff genommen wurden, ersuchte König Leopold II. von Belgien die Missionäre von Scheut um ihre Hilfe für sein Kolonialwerk in Afrika. Er wandte sich später mit der gleichen Bitte an die Jesuiten, an den Nuntius, an den Vatikan selbst. Beim Tode dieses wahrhaft großen Wohltäters und Freundes Afrikas wirkten bereits 16 religiöse Orden in Belgisch-Kongo, das 77mal größer ist als sein Mutterland Belgien. 1886 äußerte der König: „Wenn ich vor meinen Herrgott hintrete, werde ich mich glücklich schätzen, Millionen Negern in Afrika den Weg zum Evangelium gebahnt zu haben.“

Daß der weitblickende Monarch es sich zum Programm gemacht hatte, als wahrer Bringer der Kultur nach Afrika zu geh.en, und daß seine Nachfolger bis auf König Baudouin die gleiche kluge Kolonialpolitik verfolgten, erklärt die vorteilhafte Stellung, die Belgisch-Kongo bis heute unter den Kolonien des schwarzen Erdteils einnimmt. Hier wurde von Anfang an dem wahren Wohl der schwarzen Bevölkerung Rechnung getragen. Und es war mehr als eine schöne Phrase, wenn König Albert erklärte: „Ich wollte, daß es bei meinem Tode keinen einzigen Heiden mehr in meiner Kolonie gäbe.“

Die belgischen Herrscher wußten, daß kein Kolonist so selbstlos im Dienst des afrikanischen Menschen steht wie der Missionär, den nicht Aussicht auf materiellen Gewinn, sondern die entsagungsvolle Hingabe an eine große Sendung in den schwarzen Erdteil führt. Das wußten bis vor kurzem auch die maßgeblichen Kreise der Kolonie, und die Kongoneger bezeugen es durch ihre zutrauliche Verehrung für den Missionär bis auf den heutigen Tag. Keiner kennt Sprache, Sitten und Volkstum der einheimischen Bevölkerung wie der Missionär. Keiner ist verantwortungsvoller darauf bedacht, daß der plötzliche Kulturumschwung, der in wenigen Jahrzehnten über den afrikanischen Menschen hereinbrach und ihn aus alten, festen Lebensbahnen schleuderte, sich nicht als verheerende soziale und moralische Entwurzelung auswirkt.

Jeder Besucher des Kongo findet dort die modernst eingerichteten und mustergültig geführten Krankenhäuser, Mütterheime und Schulen jeder Art, in denen Patres, Brüder und Schwestern wirken. Das Schulwesen vom Kindergarten bis zur Hochschule liegt zum weitaus überwiegenden Teil in den Händen der katholischen Mission. (Die Protestanten und die Heilsarmee, die etwa eine Million von den 13 Millionen Einwohnern des Kongo umfassen, verfügen über etwa 25 Prozent des Schulwesens. Sie besitzen sehr gute Elementarschulen, jedoch nur wenige Mittelschulen.) Wer sich ein Bild machen will von der Aufgeschlossenheit der Missionäre, braucht nur an einem Fußballmatch oder Radrennen in einem der beiden großen Stadien von Leopoldville teilzunehmen. Ob die Fußballmannschaft von Wien-Florids-d o r f, die am 6. Februar d. J. die Mannschaft von Leopoldville 2:0 schlug, erfuhr, daß das herrliche Stadion, in dem 70.000 bis 80.000 Neger und Weiße ihrem Spiel zusahen, nicht von der Regierung, sondern von Scheutfelder Missionären erbaut worden ist?

Die belgische Regierung war sich über den großen Vorteil, der ihr aus der Mitarbeit der Missionäre für das Kolonisationswerk erwuchs, im klaren und unterstützte großzügig ihre Unternehmen. Zwar erhielt der Missionär für seine eigentliche Missionsarbeit keine direkte Unterstützung, doch für seine Arbeit auf dem Gebiet des Schulwesens, für Errichtung neuer Schulgebäude, für Lehrmittel und Lehrkräfte tat man viel. Dennoch kostete die Besoldung der im Schuldienst tätigen Patres, Brüder und Schwestern nur einen Bruchteil von dem, was andere Angestellte und Beamte der Kolonie erhielten. Auf diese Weise verbilligte sich das gesamte Schulwesen für die Kolonialregierung derart, daß es möglich wurde, die Schulbildung auf über 48 Prozent der Jugend Belgisch-Kongos auszudehnen. Was das heißt, kann nur ermessen, wer die Unzahl verschiedenster Sprachen und Stämme Zentralafrikas selbst kennengelernt hat und weiß, was es bedeutet, systematischen Unterricht einzuführen bei einer Bevölkerung, die auf weite Urwald- und Savannengebiete zertreut lebt und für deren unbekannte Sprachen es weder Wörterbuch noch Grammatik gibt. Das aber war die Situation, die der Missionär vor wenigen Jahrzehnten am Kongo antraf.

Bis nach dem zweiten Weltkrieg war der Einfluß der Katholiken in der Kolonie bedeutend, und die Missionäre besaßen die Sympathie der Regierung und der weißen wie der schwarzen Bevölkerung am Kongo. 1952 erfolgte eine Regelung der Schulfrage, die in großzügiger Weise staatliche Subsidien für Schulen und Lehrkräfte der Mission vorsah. Für Lehrer mit staatlichem Diplom zahlte die Regierung hundert Prozent der Besoldung, für Lehrer ohne Diplom 80 Prozent, und bei Schulbauten trug sie 70 Prozent der Kosten.

Der liberale Kolonialminister Godding hatte vorübergehend versucht, die Arbeit der katholischen Missionäre zu hemmen. Doch die beiden folgenden Minister, Pierre Wigney und Andre Dequae, anerkannten wieder in vollem Umfang die Bedeutung der religiösen Erfassung und Durchdringung des afrikanischen Menschen durch die Mission. Der Afrikaner ist zutiefst religiös, und das Religiöse liegt bei ihm nicht, wie vielfach bei uns rationalistischen Europäern, an der Oberfläche der „reinen Vernunft“, sondern wurzelt weit mehr in den irrationalen Tiefen der Seele. Darum ist die Zerstörung seiner Religion für den Afrikaner gleichbedeutend mit der Zerstörung seines Menschentums. Beide Minister erkannten die Notwendigkeit, das Christentum an die Stelle der alten, zerschlagenen Naturreligionen zu setzen. Die Schaffung wahrer Kultur im Herzen Afrikas ist nur auf dem Boden des Christentums möglich. Jeder andere Versuch ist eine Illusion, und die verhängnisvolle Folge wäre eine entwurzelte Menschenklasse von halbgebildeten, moralisch haltlosen Proletariern, eine leichte Beute für den modernen Atheismus und militanten Kommunismus. Das war die Ueberzeugung in der Regierung sowie maßgeblicher und erfahrener Sachverständiger und Politiker Belgiens und der Kolonie.

Die Gesamtentwicklung der Kolonie widersprach dem Standpunkt der Liberalen. Nicht zuletzt diese Einstellung trieb sie zu den großen Anstrengungen, um bei den Wahlen im März 1954 unter allen Umständen die Mehrheit im Parlament zu erringen. Man versprach in der rührigen Wahlpropaganda eine Verringerung der Militärzeit von 21 auf 18 Monate, stellte Steuerreduzierungen und Altersrenten in Aussicht und unterstützte eifrig die ewisj Unzufriedenen.

In dem schweren Wahlkampf büßte die Christlichsoziale Partei von ihren 108 Sitzen 3 3 ein; neun an die Sozialisten und vier an die Liberalen. Damit hatten nach den Märzwahlen die Christlichsozialen 95, die Sozialisten 86 und die Liberalen 25 Sitze. Um die Mehrheit der Christlichsozialen zu brechen, schlössen sich die Sozialisten und die Liberalen zur Koalition zusammen. Das Bindemittel der beiden sonst weit auseinanderstehenden Parteien war ihr Kampf gegen die Kirche.

Die Veränderung auf dem politischen Schachbrett und die Ernennung Buisserets, eines Mitgliedes der Freimaurerloge von Liege, zum Kolonialminister änderten mit einem Schlage auch die Lage für die Missionen in Belgisch-Kongo. Buisserets erstes Vorhaben war der Angriff auf die katholischen Schulen und die Verringerung des Einflusses der Mission in der Kolonie. Mehrfach erklärte er, die Zeit der Mission sei endgültig vorbei. Widerrechtlich setzte sich der Minister über das „Reglement scolaire“ von 1952 hinweg und strich eigenmächtig 10 Prozent der Gehälter für Lehrer an den Missionsschulen. Bisher wurden 50 Prozent der Laienlehrer in den Elementar-, Mittel- und Hochschulen vom Staat besoldet. Buisseret reduzierte sie auf ein Drittel. Alle Unterstützungen für Neubauten wurden gestoppt, die segensreich wirkenden Handwerkerschulen durch übertriebene Forderungen in ihrer Existenz bedroht und der hoffnungsvolle Anfang des Lovaniums, der neuen katholischen Universität in Ki-muenza, in Frage gestellt. Endlich strich der Minister die Subsidien für die Internatsschulen um 50 Prozent. Damit wurde 100.000 Kindern aus den entfernteren Urwald- und Steppengebieten die Möglichkeit zur weiteren Schulbildung, die über jene der kleinen Buschschulen hinausgeht, entzogen.

Gleichzeitig setzte Buisseret alle Hebel zur Einführung der konfessionslosen, laizistischen Staatsschule und zur Schaffung eines europäischen Lehrerstabes in Bewegung. Letzterer ist aber infolge mangelnder Kolonialvorbildung in keiner Weise fähig, den Anforderungen der afrikanischen Verhältnisse gerecht zu werden und kostet überdies den Staat enorme Summen. Das Glanzstück Buisserets ist die Einführung de Französischen als Unterricht-spräche, und zwar von der untersten Klasse an. Welch ein Unterricht für Kinder, die aus ihren heimatlichen Grashütten und den alten afrikanischen Gebräuchen und Sitten ihrer Väter kommen und hineingeworfen werden in eine Sprache, von der sie kein Wort verstehen und deren kulturelle Hintergründe ihnen ein Buch mit sieben Siegeln sind; ein Unterricht, vermittelt von einem Lehrer, der kein Wort von der Sprache des Kindes versteht und der auf Grund seiner eigenen Vorbildung höchstens fähig ist, die äußeren Formen europäischer Zivilisation sinnlos in Afrika zu kopieren!

All diese Maßnahmen erfolgten nicht etwa als offener Frontalangriff, sondern gewissermaßen mit „doppeltem Gesicht“. Als der neue Kolonialminister sich einen Monat lang in Belgisch-Kongo aufhielt, um die größeren Zentren zu besuchen, sprach er den Missionären gegenüber seine Anerkennung aus, nahm persönlich Grundsteinlegungen für Schulen vor und bekundete sein Befremden über die Befürchtungen verschiedener Kreise, daß er daran dächte, den Einfluß der Mission irgendwie zu schmälern. In Wirklichkeit begann er mit der Durchführung missionsfeindlicher Maßnahmen, ungeachtet der schwerwiegenden Einwände und wiederholten Vorstellungen von Seiten der Regierungsmitglieder und kirchlichen Oberen.

Allgemach, leider zu spät, wurde in Belgien und am Kongo die Oeffentlichkeit auf die Vorgänge aufmerksam gemacht. Presse und Vorträge weckten das Gewissen der Kongolesen und des belgischen Volkes. Es kam zu Protestkundgebungen in Belgien. Auch die Weißen der Kolonie wandten sich gegen die Maßnahmen der neuen Regierung. (Viele freilich erst, als sie begriffen, daß sie nunmehr weit mehr Schulgeld zu zahlen hatten als vorher.) Tausende von Sondernummern der großen belgischen Tageszeitungen wurden der unglücklichen Schulpolitik gewidmet. Mehrere Minister und hohe Militärs nahmen entschieden Stellung gegen Buisseret. Seine vollkommene Unerfahrenheit in afrikanischen Fragen und Verhältnissen wurde von Mitgliedern des Parlaments und ehemaligen Ministern auf das schärfste angeprangert. In der Presse fielen Ausdrücke, die nicht schmeichelhaft waren.

Nur eine kleine Minderheit von Liberalen mit ihrem Anhang standen auf der Seite des Kolonialministers. Die überwiegende Mehrheit der Weißen und der Neger in Belgisch-Kongo und mit ihnen die öffentliche Meinung bezogen eindeutig Stellung gegen Buisseret. Als er bei einen Maßnahmen beharrte, beriefen die Missionsbischöfe in den einzelnen Provinzen Konferenzen ein. Diese wiederum entsandten je einen Vertreter zur großen Bischofskonferenz nach Leopoldville. Hier faßte man einen drastischen Beschluß. Man stellte dem Kolonial-minister folgendes Ultimatum: entweder stelle er seine missionsfeindlichen Maßnahmen ein oder aber die katholischen Missionen stoppen jede Schultätigkeit in ganz Belgisch-Kongo, sowohl für Neger wie für Weiße.

Die Lage wurde kritisch. Der Generalgouverneur des Kongo sah sich im Interesse der öffentlichen Ruhe und Sicherheit gezwungen, Buisseret zu bitten, sich nach Belgisch-Kongo zu bemühen. Als der Kolonialminister Ende Jänner in Leopoldville eintraf, wurde er von Weiß und Schwarz mit äußerster Kühle begrüßt. Er hielt sich nur vier Tage in Leopoldville auf und wagte sich nicht in die Oeffentlichkeit. Es kam zu Verhandlungen mit Moh-signore Verwimp, dem Dekan der permanenten Bischofskonferenz von Belgisch-Kongo. Das Ergebnis war, daß der Minister seine gesamten Maßnahmen zurückzog. Die Schulfrage wurde für das laufende Jahr wieder auf den Status von 1952 gebracht und die Frage der Subsidien für Missionsschulen einer Kommission zur Untersuchung übergeben. Doch wo Buisseret nicht eindeutig durch das Schulgesetz von 1952 gebunden ist, versucht er weiterhin alles, sein kulturkämpferisches Programm durchzuführen.

Die Verlautbarungen des Kolonialministeriums, die sich in Zusicherungen allgemeinster Art ergehen, geben Anlaß zu Befürchtungen. Der Widerspruch zwischen Weiterführung des Status quo einerseits und der Ankündigung von weiteren Verhandlungen zur Revision der bisherigen Maßnahmen anderseits zeigen zur Genüge, daß der Schulkampf in Belgisch-Kongo noch keineswegs beendet ist und daß weiterhin das Ziel der Kolonialregierung die Einführung der laizistischen Staatsschule bleibt.

Die Ereignisse in Belgisch-Kongo zeigen der Welt: Die atheistische Welt hat begriffen, daß die Entscheidung über die Zukunft Europas in Asien und Afrika fallen wird. Sie bietet alle Kräfte auf, diese Entscheidung in ihrem Sinne zu lenken. Kann diese Zukunft christlich sein, wenn die Katholiken des Westens nicht die Größe dieser Entscheidung begreifen und nicht ihr entsprechend handeln?

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