6666227-1960_35_11.jpg
Digital In Arbeit

Grobleistung der Kartographie

Werbung
Werbung
Werbung

DER GROSSE BROCKHAUS-ATLAS. Länderkunde, Wirtschaft, Geschichte. F. A. Brockhaus, Wiesbaden 1960. VIII + 664 Seiten. Preis: Ln. 83 DM, Hld. 89 DM

Beide großen deutschen Konversationslexika, die den zweiten Weltkrieg überdauert haben, ähneln einander in der neuen Form, die sie nunmehr wählen. Der Große Brockhaus sondert jetzt, wie das der Große Herder schon vorher getan hatte, Landkarten und eine Reihe statistischer Angaben vom eigentlichen allgemeinen Hauptwerk los. So entstand ein Atlas, der die zwölf nach alphabetischen Schlagworten geordneten, vorher erschienenen Bände ergänzt und in den noch Bilder, Diagramme und Tabellen eingefügt wurden. Er unterscheidet sich vom neuen Herder-Atlas dadurch, daß kein, seinerseits alphabetischer, länderkundlicher Abschnitt vorhanden ist, der jeden einzelnen Staat schildert und würdigt. Dafür bringt er einen 70 Seiten umfassenden historischen Teil von Karten und Bildern, dann 40 Seiten, die unter dem Titel „Welt und Mensch“ die mannigfachsten Angaben graphisch darstellen.In dieser ausgezeichneten Überschau werden zum Beispiel sinnfällig gemacht: Besiedlungsdichte der Erde, höchste Berge und tiefste Meere, Kreislauf des Wassers, Verbreitung des Pflanzenwuchses, Unterschiede der Bodennutzung in gleicher Höhenlage, größte Flußsysteme, Kanäle, wichtigste Inseln und Seen. Sodann (warum nicht zu Beginn?) unser Sonnensystem und seine Planeten. Hierauf, auf die Erde zurückkehrend, das Anwachsen der Weltbevölkerung ab 1650, das mitteleuropäischer Städte seit dem Herbst des Mittelalters. Erregen bereits die bisher genannten Daten hohes Interesse, so steigt dieses noch bei den erstmals auf eindringlichste Art vergegenwärtigten Diagrammen zur Kulturstatistik: über Hochschulen, Bücher. Zeitungen, Rundfunk. Fernsehen. Dazu einige kleine Vorbehalte. Im Moment der Drucklegung des Atlas waren schon neuere Zahlen zur Verfügung als die von 1950 bis 1955 und teilweise 1956. In unserer hastenden Zeit sind sie bereits stark überholt, so z. B.. was das Fernsehen anlangt, für Österreich und Polen Bei der Übersicht der Universitäten hätten wir gerne Großbritannien, Polen, Belgien, die Niederlande und Schweden mitberücksichtigt gesehen. Ganz vorzüglich sind die Tafeln zur Wirtschaftsstruktur, wo wir allerdings so bedeutsame Länder wie Frankreich und die Schweiz vermissen (etwa S. 23). Besonders dankenswert scheinen uns die Zusammenstellungen über Energieversorgung, Aufschwung der Industrie. Metalle, Textilien. Die Nachrichten über Import und Export von Personenkraftwagen wäre unbedingt durch die weit bedeutsameren über absolute und relative Zahl der Personenautomobile in mindestens zwanzig Staaten zu bereichern gewesen. Viel Beifall gebührt der eindrucksamen Seite über die historische Entwicklung des Transatlantikverkehrs und über die schnellsten deutschen Eisenbahnzüge. Außerordentlich ist die Tabelle über die internationalen Verflechtungen des Welthandels, über dessen Entwicklung seit 1929. Beim TW(ohnujigsbs(“, wären., die UdSSR, utul eines der volksdemokratischen Länder (dieses als abschreckendes Beispiel) zu nennet? gewesen. Gar dankenswürdig die Daten über Preise und Verbrauch wichtigster Nahrungsmittel, über Lohn und Kaufkraft. Hier ist die Abwesenheit von — leicht zugänglichen — Daten über die UdSSR und etwa über Polen oder die Tschechoslowakei noch mehr zu bedauern; schon gar bei der ungemein fesselnden Parallele der Lebenshaltungskosten, wo zwar Ceylon und Peru — sehr löblicherweise — als Paradigmen miterscheinen, nicht aber die Sowjetunion oder einer ihrer Satelliten.

Der zweite Teil umfaßt das in Atlanten von jeher Übliche. Die Karten sind von geradezu beglückender Schönheit, sehr exakt und im allgemeinen gut gewählt. Daß Mitteleuropa und darin Deutschland im Vordergrund beharren, ist im Hinblick auf Benutzer und Herausgeber des Werkes begreiflich. 36 Seiten sind der Erde als Ganzes gewidmet, 10 unserem Kontinent, 50 Deutschland. 16 den „Alpenländern“, inbegriffen Sonderkarten, 14 Westeuropa (Benelux, Britische Inseln, Frankreich), 23 den Mittelmeerstaaten (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland), 6 Südosteuropa (Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien. Ungarn — doch was macht die mitteleuropäische Tschechoslowakei unter diesem ihr nicht gemäßen Titel? Wenn man sie hier einordnet, dann hätte die Überschrift eher Volksdemokratien oder Sowjetsatelliten lauten müssen und Polen wäre mit einzubeziehen gewesen). Es folgen, als „Nord- und Osteuropa“ wiederum unpassend zusammengruppiert, auf 16 Seiten, „Östliches Mitteleuropa“, Nordeuropa mit Spezialkarten, Dänemark, Südschweden, Südfinnland. Worauf in elf oder, weil schon bei Nord- und Osteuropa zwei Seiten der UdSSR gelten, in 13 die Sowjetunion präsentiert wird.

Ganz vortrefflich sind die Darstellungen der übrigen Kontinente: Asiens (26 Seiten), Afrika (17 Seiten), Amerika (40 Seiten), Australien, Ozeane, Polargegenden (11 Seiten). Es ist nicht Schuld des Atlas, wenn er, angesichts der einander überstürzenden Ereignisse, z. B. in Afrika, hinter den dort geschehenden Veränderungen zurückbleibt. Im vierten Teil, dem das stärkste Lob sicher ist, sind Karten und Bilder zur Weltgeschichte dargeboten. Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter, neue und neueste Zeit werden dabei gleichermaßen beachtet, wiederum, verständlicherweise, mit dem Hauptton aut den deutschen Raum. Wir heben hervor: die Karten zur älteren Steinzeit in Nordamerika, die vortrefflichen, wenn auch in Einzelheiten von Fachkundigen umstreitbaren Darstellungen Europas um 2500, Eurasien um 1400 v. Chr., Steppenkunst nahe der Zeitenwende. Vorderasiens um 1700 v. Chr.. neben den Üblicheres bringenden vorderasiatischer und antiker Großreiche, Europas zu Ende der Völkerwanderung. Originell hernach: die Ausbreitung des Christentums. Euroasien zwischen 00 und 800 n. Chr, dankenswert die Reconquista; ferner die zu erwartenden Karten des Reiches im Hochmittelalter, Frankreichs bis zu den Valois, der Kreuzfahrerstaaten, Italiens, der Entdeckungen, der Aufteilung der Welt am Vorabend des ersten Weltkrieges, des Osmanischen Reiches. Sodann das vor-kolombianische und das spätere Amerika, die Sowjetunion, das neuzeitliche Indien, Ostasien, eine vortreffliche Karte zu den afrikanischen Staatenbildungen. Die folgenden, dem Reich 6eit etwa 1500 und der Habsburgermonarchie eingeräumten Seiten enthalten so anregende Themen wie einen Vergleich von Römerstraßen und heutigen Verkehrswegen am Mittelrhein und am unteren Main, europäische Universitäten und Druckorte. An der Polen geweihten Karte über dessen historische Entwicklung 1772 bis 1915 sind unter anderem drei Nachlässigkeiten zu rügen: Es fehlt der sichtbare Hinweis darauf, daß Krakau und Gebiet 1815 bis 1846 ein eigenes Staatswesen bildeten, daß ein „Königreich Polen“ nur bis zum Aufstand von 1863 bis 1865 existierte, dann aber nach russischer Lesart nur noch Gouvernements vorhanden waren, die als „Weichselland“ einem russischen Statthalter untergeordnet waren, daß endlich das „Königreich Galizien“ (und Lodomerien) zwischen 1809 und 1815 andere Grenzen im Osten hatte als zuvor. Mit Frankreich, Italien, Südamerika, dem Völkerbund und einer sehr guten Übersicht der Vereinten Nationen und der Mächtegruppen schließt der geschichtliche Kartenteil. Die ihm angereihten Bilder 6ind wahrhaft repräsentativ, mit Ausnahme der Illustrationen zum 20. Jahrhundert, wo wir die Auswahl anders getroffen hätten, etwa wie in der Randaschen Weltgeschichte.

Ohne jeden Vorbehalt entzückt wären wir vom dritten Teil, der, gleich dem Herder-Atlas, doch nach anderen Gesichtspunkten in vollendeter technischer Wiedergabe alle wichtigen Aspekte der Gegenwartskultur vor Augen führt: Formen der Landschaft, Schönheit der Natur, Wirtschaft und Arbeit. Daß dabei der europäische Osten, China und Indien kaum ins Blickfeld gelangt sind, zwingt aber auch hier Bedauern ab.

Je mehr wir jemand oder etwas lieben, je höher wir dessen Wert schätzen, um so schmerzlicher empfinden wir an ihm, sagen wir, kleine Schönheitsfehler. Aus dieser Tatsache seien unsere bescheidenen kritischen Anmerkungen zu einem überragenden Werk erklärt und durch sie entschuldigt: denn man muß diesen Atlas liebgewinnen und ihn aufs überzeugendste schätzen. Er ist des großen Namens würdig, den er trägt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung