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Grollen im Pubtawind

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„Nach Nickelsdorf 74 km“ steht auf dem schmalen weißen Wegweiser mit seiner blauen Spitze vor dem Meidlinger Eingang zum Park, von Schönbrunn in Wien. 74 Kilometer: eineinhalb Stunden zügiger Kraftwagenfahrt. Aber das Ziel ist nicht der letzte Ort vor Straß-Sommerein; der Wagen schlägt in Parndorf einen Haken nach rechts, kommt durch Neusiedl am See, das erst 1926 Stadt wurde. Irgendwo am Rande muß noch der „Tabor“ liegen, der Wachtturm aus dem 16. Jahrhundert, muß in Kilometerweite die Kuruczenschanze sein, deren Spuren sich bis nach Petronell ziehen. In Weiden trennt sich die Straße vom Neusiedler See, läuft durch Gols, schlägt in Mönchhof nochmals einen Haken nach rechts, da taucht in der Ferne schon Frauenkirchen auf mit seinem „Gottshaus auf der Haydn“, der berühmten Wallfahrtskirche, die Martineiii 1702 erbaute. Eine Viertelstunde später heißt es ausnahmsweise links einbiegen, und der alte Mann in der Felljacke mit der weißlichen Mütze, der da in Wallern unser scheinbares Zögern vor der Straßenecke bemerkt, kommt gleich her und sagt bloß: „Pamhagen — dorti“ *

Pamhagen, 50 Meter weniger „Seehöhe“ als die Wiener Innere Stadt, also ganze 120 Meter „hoch“ gelegen, Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See, etwas über 2000 Einwohner, ist der südlichste Ort des sogenannten Seewinkels, letzte Bahnstation der spärlich befahrenen Nebenstrecke, die von Parndorf her kommt und früher, vor dem Kriege, immerhin noch eine Verbindung nach Eszterhäza in Ungarn und weiter nach Süden besaß. Heute hängt das in der Luft.

In der Luft hing noch etliches andere. Besser gesagt, es flog und fiel. Und das verschaffte kilometerweit vor Pamhagen uns schon den Wegweisenden. Denn: was konnte Fremde in dieser Zeit in diese entlegene Gegend geführt haben, als das improvisierte Luftgefecht über dem neutralen Oesterreich, das mehr als alles Gerede unsere Situation im wahrsten Sinne blitzartig und mit einem Knalleffekt, dessen Echo durch Europa ging, erhellte.

Die Einzelheiten sind von der Tagespresse breit abgehandelt worden. Man hat nicht mit Kombinationen gespart und ließ die Phantasie auf Vollgas gehen. Uebrig blieben Trümmer von zwei Düsenjägern, ein Toter und ein mittels Fallschirm ausgestiegener sowjetischer Hauptmann, sowie die etwas naiv anmutende Frage, was denn russische Maschinen auf dem Flugplatze von Raab (Györ) zu schaffen hätten. Fragte man wirklich den abgesprungenen Soldaten, hat man sich nur lächerlich gemacht. Weil es aber viele Neugierige gibt und man sicher einen Akt über den Fall von Pamhagen anlegen wird, steuert man gern etwas dazu bei.

Die ungarische Armee, nach dem Friedensvertrag auf 70.000 Mann begrenzt, ist heute in 13 kriegsstarke Divisionen und 5 Rahmendivisionen eingeteilt. Die Mindeststärke kann mit 280.000 Soldaten angesetzt werden. Zu dieser Streitmacht zählen zwei Luftwaffendivisionen, zwei Fallschirmjägerbrigaden und eine Flakdivision.

Die Luftwaffe — und wir beschränken '““uns angesichts Pamhagens nur auf diese — verfügt über vierzig Operationsbasen ständiger Art, zu denen nach Bedarf variable (verlegbare) Basen kommen. Die 600 Hugzeuge, die für den Beginn vorigen Herbstes als einsatzbereit verzeichnet waren, sind seither vermehrt worden. Die alten Typen (wozu die Junkers-Maschinen und der Typ Arado 96 zählen) mustert man aus.Große Aufmerksamkeit gilt den Düsenjägern und Raketenflugzeugen. Von den 40 Basen verdienen unsere Aufmerksamkeit natürlich jene, die sich zunächst der österreichischen Grenze befinden. Da ist einmal Mosonszolnok (das einmal auf deutsch Zanegg hieß) an der Bahnlinie Straß—Sommerein—Csorna und gekreuzt von der Straße Ungarisch-Altenburg—Pamhagen. Mosonszolnok liegt nur 28 Kilometer von Pamhagen entfernt und sechs Flugminuten von Wiener Neustadt. Ebenso nahe zu dieser Stadt liegt Steinamanger; dort hat man Düsenjäger stationiert. Vom Platze Oedenburg nach Neustadt zu fliegen, zahlt sich kaum aus (30 km). In Päpa (125 km südöstlich von Wien) liegen rund hundert MIG 15 zur Ausbildung ungarischer Flieger. Ebenfalls MIG 15 sind in Stuhlweißenburg, aber zur Ausbildung russischen Personals. Hier schult man Frauen als Fallschirmabspringerinnen. In Kecskemet ist gleichfalls für Soldaten der Sowjetmacht Platz gemacht; vorläufig sind vier Hangars und eine betonierte Startbahn verfügbar. Weitere bemerkenswerte Flugplätze sind: Algyö (10 km nordnordöstlich Szegedin), wo für die Raketengeschosse vorgesorgt ist; Debreczin (130 Maschinen, je zur Hälfte Jäger und Bomber); Sziget Szentmiklos (17 km südöstlich Budapest) für Düsenjäger mit unterirdischen Hangars; Szolnok (2 km lange Betonbahn); Tapolca nordwestlich des Plattensees (ebensolche Bahn, Düsenjäger), von wo es gleich weit nach Graz und nach Wien ist (160 km).

Ueber den Einser Kanal und den Hansäg jagt der stürmische Südost tiefliegende Wolken. Früh dämmert der Abend. Die Frau, die mit einem Wäscheschaff dem breiten Hoftore eines neugetünchten Hauses zugeht, hält ihren. Schritt an, als sie Motorengeräusch hört, und will das Schaff absetzen. Da bemerkt sie, daß es — nur ein Kraftwagen ist.

Was sie zu der ganzen Sache mit den Fliegern meine?

„Es kommen immer wieder welche. Nur geschieht halt nichts. Aber wir? Wissen Sie, was mit uns sein wird?“

Wir? Das ist die „Brücke Oesterreich“. Der freie, der neutrale Uebergang. 1937 war im Burgenland nur ein Infanterieregiment stationiert, dazu kamen zwei Bataillone Sondereinheiten. Seither hat sich überall viel verändert. Es wird nötig sein, der Flugüberwachung durch Düsenjäger ebensolche Aufmerksamkeit zu schenken wie dem Aufbau eines Radarnetzes. Mit eine der wichtigsten Handhaben zur Sicherung des Luftraumes gegen jedermann, ob Ost, ob West, Nord oder Süd, wären die ferngesteuerten Raketenabwehrbatterien. Allein, das wäre zuviel für die Neutralität. .

Der Fahrer wendet den Wagen. Einen Augenblick stirbt der Motor ab. In diesem Augenblick — inzwischen ist die Dunkelheit gespenstig über die schier endlose Weite herangekrochen wie auf Samtpfoten — bringt der Wind aus Südost dumpfes Grollen. Wahrscheinlich Manöver. Man hört die Haubitze 12,2 cm, dann schwere Granatwerfer, und schließlich die 16-cm-Serien-werfer mit 24 Rohren.

Der Motor springt an, die Scheinwerfer grellen auf.

Wäre es nicht so dunkel, wir sähen den türkischen Halbmond noch, der auf der Kirchturmspitze von Pamhagen von früheren bewegten Zeiten erzählt.

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