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Großbaustelle

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ZUERST KOMMEN DIE BAGGER und die Kolonnen der Lastautos, die das ausgehobene Erdmaterial wegführen. Dann errichten die Arbeiter aus Brettern und Pfosten — oder auch aus Stahlteilen — seltsame Muster: die Schalungen. Dann fließt, dick, schwer und grau, der Beton in die vorbereiteten Zwischenräume. Und dann wächst, Stück für Stück, etwas empor, was eines Tages ein Bürohaus, eine Halle, ein Verkehrsbauwerk oder irgend etwas anderes sein wird.

Manchmal bleiben wir stehen und sehen eine Weile zu. Kräne, die alle Häuser der Umgebung überragen, reichen schwere Blechtonnen mit flüssigem Beton dahin und dorthin, als hätten sie kein Gewicht. In Mischtürmen werden Zement, Sand und Schotter im richtigen Verhältnis gemischt. Maschinen, wo man hinschaut. Kleine und große. Sogar der Mann, der den flach gewordenen Sandberg wieder zu einem steilen Kegel zusammenschaufelt, bedient sich dabei einer Maschine.

In der Bauwirtschaft hat sich viel geändert. Vor allem in den letzten fünf Jahren, und wiederum in erster Linie auf den großen Baustellen. Denn je größer die Baustelle ist, desto größer wird auch die Zahl der einst von Menschenhand verrichteten Arbeitsfunktionen, die man nun der Maschine überlassen kann.

ABER DER EINSATZ VON MASCHINEN ist keine Sache von Können, sondern zwingendes Muß. Die Hände, die durch Baggerschaufeln, Kranhaken, Förderbänder und so weiter ersetzt wurden, sind nicht arbeitslos geworden, sondern, nun erst recht, Mangelware in einem bisher nie gekannten Ausmaß. Die Bauwirtschaft hat heute teilweise mehr Aufträge , als sie ausführen kann, und braucht daher jede Hand. Auf der anderen Seite aber, durch die Konjunktur in den anderen Wirtschaftszweigen, verliert sie noch zahlreiche Arbeitskräfte, die sich anderswo leichtere und besser bezahlte Arbeit erhoffen.

Nun darf eine Baufirma zwar Maschinen anschaffen, so viele sie will und bezahlen kann, und ihre Kräne und Bagger, Fahrzeuge, Förderbänder und Gerüste selbstverständlich auch aus dem Ausland kommen lassen: Arbeitskräfte aber darf sie nicht impor-

tieren. Auch dann nicht, wenn sie Aufträge zurückweisen muß, weil sie nicht genug Leute hat.

In Italien sind noch Bauarbeiter zu haben. Sie gehen auch gern jedes Jahr auf einige Monate ins Ausland, und vor allem in Deutschland, aber auch in der Schweiz empfängt man sie mit offenen Armen. In Österreich will man sie nicht haben. Österreich ist da sozusagen ein „Naturschutzgebiet“.

Ob dies gerechtfertigt ist oder nicht, wollen wir hier nicht näher untersuchen. Auch nicht, ob das „Einfuhrverbot" für Bauarbeiter realisti-

schen Überlegungen oder irgendwelchen Ressentiments entsprungen ist. Es ist jedenfalls eine Tatsache, daß die österreichische Bauwirtschaft ihr Investitionspotential nicht ausnützen kann, weil das Arbeitspotential nicht ausreicht. Mit anderen Worten: sie muß ihre Kapazität, die wesentlich größer sein könnte, niedrig halten und der Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte anpassen.

Im Frühjahr, Sommer und Herbst des vergangenen Jahres waren ständig um rund 50.000 Bauarbeiter zuwenig da. Bauten wurden nicht ausgeführt, verabredete Bauzeiten nicht eingehalten. Fabrikshallen, in denen heute Menschen arbeiten könnten, stehen nach wie vor auf dem Papier.

ES KLINGT ABSURD, ist aber wahr: Wer heute einen Auftrag für einen Hochbau zu vergeben hat, muß warten. Und es sind ihrer viele, die da warten. Anderseits wartet die Bauwirtschaft auf Aufträge für den Straßenbau, mit Straßenbauten könnte sie sofort beginnen — aber gerade diese Aufträge kommen nicht.

Der Straßenbau ermöglicht nämlich den Maschineneinsatz in einem besonders großen Ausmaß, auf keinem anderen Sektor der Bauwirtschaft kann man so viele Hände durch Maschinen ersetzen wie hier.

DIE GROSSE UMSCHICHTUNG, in der die Bauwirtschaft heute begriffen ist und die mindestens in Österreich gerade erst begonnen hat, drückt sich besonders deutlich im Verhältnis der Arbeiter- zu den Angestelltenzahlen aus. Die Zahl der Angestellten, die in den Büros der Baufirma und auf den Baustellen notwendig waren, tim die Arbeiter rechtzeitig mit dem notwendigen Material zu versorgen, ihre Arbeit vorzubereiten und einzuteilen, war einstmals im Verhältnis zur Zahl der Arbeiter verschwindend. Heute kommt im Straßenbau bereits auf drei bis vier Arbeiter, bei den großen Erdbaustellen auf drei Arbeiter ein Angestellter.

Auf anderen Großbaustellen rechnet man mit einem Verhältnis von etwa fünf bis sechs zu eins. Das heißt, daß auf einer Baustelle, auf der 200 Arbeiter beschäftigt sind, der Einsatz der Menschen und Maschinen nur dann reibungslos funktionieren kann, die

Baumaterialien nur dann rechtzeitig besorgt werden können, wenn im Hintergrund etwa 40 Angestellte, zum Teil in den Bauhütten und Buden an Ort und Stelle, zum Teil in den Büros der Firma, tätig sind.

Dafür verschwindet der Facharbeiter, der einst so wichtig war, mehr und mehr von der Baustelle und macht dem ungelernten Arbeiter oder dem „angelernten Facharbeiter“, den sich die Firma selbst ausgebildet hat, Platz, Wer will heute schon drei Jahre lernen und eine Gesellenprüfung ablegen, nur, um dann statt 7.95 S in der Stunde bestenfalls 9.10 S zu verdienen? Niemand. ‘

IMPROVISIEREN WURDE EINST GROSS GESCHRIEBEN in der Bauwirtschaft, heute ist dieses Wort und die Sache, die es bezeichnet, bei den Baufirmen verhaßt. Maschinen vertragen keine Improvisation, wenn sie rationell arbeiten sollen. Je mehr körperliche Arbeit die Maschine dem Menschen abnimmt, desto mehr muß er sich zum Denken bequemen, und zwar dazu, vorher zu denken und alle Arbeitsgänge vorzubereiten. Die Bauwirtschaft wandelt sich heute vom Gewerbe zur Industrie und von der Improvisation zur planmäßigen Arbeit.

Damit sind wir bei einem Problem angelangt, das heute den österreichischen Baufirmen sehr viel Kopfzerbrechen verursacht. Die Bauwirtschaft möchte einen fix und fertig vorgelegten Plan in Stahl und Beton umsetzen und dabei alles bis ins kleinste vorausgeplant haben, um vorausplanen zu können. Nicht nur den Geräteeinsatz, die Anschaffung des Materials, möglichst jeden Handgriff. Nur so baut man billig.

Aber die Baufirmen finden dabei leider bei den meisten Architekten wenig Gegenliebe. Die Behauptung, daß manches Haus erst während des

Baues geplant wird, mag eine arge Übertreibung sein, aber daß in Österreich sehr, sehr oft die Hohlziegel für irgendein Stockwerk durch andere Steine ersetzt werden, um nur ein Bei’» spiel zu nennen, daß, während sozusagen der Maurer schon mit dem Mörtel auf der Kelle dasteht, eine Zimmertüre um einen Meter weiter nach rechts und ein Fenster etwas nach links verschoben wird und was dergleichen mehr ist, das kann, bitte schön, wohl niemand leugnen.

Und daß wir in dieser Praxis einen der Gründe dafür, daß in Österreich teuer gebaut wird, vor uns haben, das wohl auch nicht.

Vom Gewerbe zur Industrie … Gut und schön. Und dann kommt wohl.

während die ersten Wagen des Modells 1961 vom Band laufen, der Herr Ford oder der Herr Peugeot und erklärt: „Halt, meine Herren, die Motorhaube wird ein bißchen runder und den Kotflügel ziehen wir tiefer runter, das ist schöner!“ — Kann sich das einer vorstellen?

In der Bauwirtschaft ist es so.

ABER AUCH DIE PRODUKTION IN GROSSEN SERIEN und nicht nur die genaue Vorausplanung hätte die Bauwirtschaft der Industrie längst gerne abgeschaut. „Großbaustelle“ —

das muß nicht eine riesige Baugrube mit einer Unmenge von Maschinen sein. Man könnte sich auch eine unsichtbare, über die ganze Stadt verteilte Großbaustelle vorstellen, die, einen Wohnbau im ersten Bezirk, einen im zweiten, einen im dritten und so weiter, genormte Gebäude produziert. Man kann Wohnhäuser beim besten Willen heute nicht so billig produzieren wie Autos, aber man könnte sie durch Serienproduktion wesentlich verbilligen.

So, wie das Bauen heute gehandhabt wird, lassen sich die Erfahrungen, die von den beteiligten Baufirmen beispielsweise bei der Errichtung eines Hochhauses gesammelt wurden, selbst auf ein zweites Hochhaus in der gleichen Stadt nur sehr teilweise und bedingt übertragen. Jeder Bau sieht anders aus, ist anders konstruiert, erfordert beim Bau andere Methoden. Während er in die Höhe wächst, machen die Bauleute ihre Erfahrungen. Wenn das Haus fertig ist, übersiedeln sie auf eine neue Baustelle und sammeln dort neue Erfahrungen. Der Bauherr trägt die Kosten. Einem kleinen Bauherrn bleibt nichts anderes übrig. Ein großer Bauherr könnte sich Kosten ersparen, wenn er sich zur Planung einer ganzen „Serie“ entschließen könnte.

Das jedoch will er nicht. Er bemäntelt seine eigene Bequemlichkeit mit folgendem Argument:

„Sie kennen doch die Wiener! Glauben Sie, die wollen in Häusern wohnen, die alle gleich ausschauen, und in Wohnungen, die alle den gleichen Grundriß haben?“

Zugegeben, das klingt gut. Aber fahren die Wiener nicht auch in Autos, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen?

Was auf Häuser und Wohnungen übrigens gar nicht zutreffen müßte. Man kann Häuser in Serien errichten und dabei eine Fülle von Variationsmöglichkeiten offenlassen.

Aber denken muß man, wenn man diese Möglichkeiten ausschöpfen will.

DENN DAS DENKEN kann man auch heute nicht den Maschinen überlassen, auch wenn es Elektronengehirne gibt, auch wenn automatische Einrichtungen für die Bauwirtschaft im Osten ebenso wie im Westen bereits in großem Stil erprobt wurden. Die Elektronengehirne wurden nämlich nicht geschaffen, damit der Mensch schlafen, die Maschinen nicht, damit er die Hände in den Schoß legen kann.

Aber damit haben wir die Großbaustelle, von der wir ausgegangen sind, verlassen und die „Großbaustelle Mensch“ betreten.

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