Franz Helmberger - © Foto: Doris Helmberger

Große Geschichte, kleine Geschichten

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Über offizielles Gedenken, persönliches Erinnern und die Erzählungen meines Vaters vom "größten Verbrechen".

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Über offizielles Gedenken, persönliches Erinnern und die Erzählungen meines Vaters vom "größten Verbrechen".

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Mein Vater hat oft vom Krieg erzählt: Von damals, als man ihn - Jahrgang 1917- nach Polen abkommandierte; von damals, als er in Paris als Teil eines Sängerquartetts Auftritte gab; von damals, als er mit der Militärmusik bei einem Begräbnis von gefallenen Engländern einen Choral spielte -und dafür von den dänischen Trauergästen Applaus bekam; von damals, als er in Sizilien mit der Flak im Einsatz war; von damals, als er an seiner Seifendose bemerkte, dass ihn ein Splitter nur knapp verfehlt hatte; von damals, als er in der Schnee-Eifel einen Schienbeindurchschuss erlitt und ins Lazarett nach Rostock kam - und natürlich von damals, als der Krieg, der "das größte Verbrechen" war, endlich endete.

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Hier erst, Anfang Mai 1945, beginnt die liebste Geschichte meines Vaters - die Geschichte seiner Heimkehr: Wie er auf zwei Krücken vor den vorrückenden Russen flieht, wie er sich bis nach Linz durchschlagen kann, wie er wegen der Sommerzeitumstellung den letzten Zug in die Heimat verpasst, wie er erst am nächsten Tag - dem Samstag vor Palmsonntag -in sein Dorf gelangt, wie er sich in Richtung des elterlichen Bauernhofs schleppt, und wie ihn schließlich ein "Kalesswagen" überholt. Der Mann auf dem Fuhrwerk dreht sich um: Es ist sein Bruder Alois, der den Heimkehrer erst auf den zweiten Blick erkennt ...

Ob sich die Erzählungen meines Vaters mit dem Erlebten deckten? Ob sein zuletzt lückenhaftes Gedächtnis die Ereignisse falsch wiedergab? Oder ob er die größten Schrecken des Krieges für immer bei sich behielt? Wir wussten es nicht. Das Loch in der Seifendose war uns Beweis genug.

Seltene Niederschrift

Geschichten wie jene meines Vaters wurden millionenfach erzählt - meist bruchstückhaft, oft ungefragt, noch öfter ungehört. Nur selten wurden sie freilich zu Papier gebracht. Rund 3.000 solcher Erinnerungstexte werden seit 1983 auf Initiative des Historikers Michael Mitterauer in der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien gesammelt und beforscht.

Die Verflechtungen der über 2.000 Autorinnen und Autoren mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts waren höchst ambivalent: Manche hatten es geschafft, der "großen Geschichte" ein Schnippchen zu schlagen, manchen hat sie erste "touristische" Erfahrungen beschert, viele haben unter ihr gelitten und viel zu viele sind ihr zum Opfer gefallen - darunter 60.000 ermordete österreichische Jüdinnen und Juden.

Die Idee, nicht nur die "große Strukturgeschichte" unter die Lupe zu nehmen, sondern auch den einzelnen Menschen und seine Biographie ins Auge zu fassen, ist freilich relativ jung. Erst im Zuge der "neuen Geschichtsbewegung" der 1970er und 1980er Jahre begann die Geschichtswissenschaft, diesen Schatz an selbst Erlebtem zu heben. Bis dahin hatte sie "immer die Geschichte der Großen und Mächtigen verfolgt, aber nicht die Geschichte der Ohnmächtigen, der einzelnen Menschen", betonte Peter Malina, ehemaliger Leiter der Fachbereichsbibliothek für Zeitgeschichte an der Universität Wien, Ende November bei der Tagung "Jahrestage - und wie sie begangen werden ..." in St. Pölten.

Die Aufarbeitung persönlicher Geschichte hat freilich ihre Tücken: Zum einen können Erinnerungen an bestimmte Ereignisse sehr verschieden sein. Es gibt sogar Erfahrungen, die falsch memoriert werden können, weiß Malina. "Auf Erinnerungen ist nicht unbedingt Verlass. Sie geben meinen momentanen Zustand wider und können andere Erinnerungen überdecken."

Geschichte ist Erzählung
von Ereignissen: alles übrige
ergibt sich daraus.

Paul Veyne

Andererseits sind Begriffe wie "richtig" oder "falsch" bei eigenen Erinnerungen nicht als Wertung zu verstehen: "Denn wenn es um unsere eigenen Erinnerungen geht, sind wir kompetent", so Malina. Auch eine falsche Erinnerung kann im gegenwärtigen Lebenskonzept richtig und stimmig sein.

Die Herausforderung für die Geschichtswissenschaft besteht nun darin, in den möglichen Wirren der erzählten Geschichte, der "oral history", für weitest gehende Klärung zu sorgen. Die Spannungen zwischen Wirklichkeit und Wahrheit beginnen hierbei schon beim Erzählen selbst: "Es wird eher das gesagt, was der andere hören kann und will", erklärt Martha Keil vom Institut für Geschichte der Juden in Österreich. "Außerdem hören Interviewerinnen oft nicht genau genug zu, was man ihnen eigentlich erzählt."

Genau genug zugehört?

So groß die Professionalität auch sein mag: Die Rekonstruktion dessen, " wie es wirklich gewesen ist", bleibt eine Illusion. "Es wird ja immer das erinnert, was mir damals wichtig war, und es wird das konstruiert, was mir im aktuellen Kontext wichtig ist", betont Gert Dressel, Historiker und Mitarbeiter "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen". So sei der 8. Mai 1945 für viele kein Bruch im Leben gewesen. "Auf der Erfahrungsebene haben die meisten Leute dieses Datum gar nicht mitbekommen", so Dressel. Viel einschneidender sei hingegen der Beginn der Bombardierung Wiens im Jahr davor gewesen.

Noch weniger tief hat sich bei vielen Zeitgenossen das Jahr 1955 in die Erinnerung eingebrannt. "In den vielen Lebensgeschichten, die ich gelesen habe, steht natürlich das Leid und die Not im Vordergrund. Das Jahr 1945 und das Ende des Krieges ist aus dieser Sicht - zumindest in den Männergeschichten - viel prägender gewesen", weiß Michael Mitterauer.

All diese Wechselwirkungen zwischen großer Geschichte und kleinen Geschichten sollten im heurigen "Jubeljahr" besondere Beachtung finden, wünscht sich der Sozialhistoriker. Zuvor müsste freilich bedacht werden, was überhaupt bejubelt wird: Dass der Fokus beim Jahr 1945 nicht auf "60 Jahre Kriegsende", sondern auf "60 Jahre Zweite Republik" gelegt wird, ist für Mitterauer "bezeichnend" - wenngleich ein typisches Merkmal der "klassischen Jubiläumsform": "Es gilt, den heiligen Anfang zu feiern, den Anfang der Zweiten Republik. Im Vordergrund steht die positive Aufwärtsentwicklung. Wenn man 60 Jahre Kriegsende feiern würde - nach dem Motto Nie wieder Krieg!' -, dann wäre das eine ganz andere Perspektive."

Klassische Jubiläen lassen laut Mitterauer eben nur zu, "die eine Geschichte zu erzählen, die angeblich kollektive Geschichte, die natürlich eine Geschichte ist, die aus der heutigen Situation der Staatsspitzen, die Jubiläen organisieren, ein entsprechendes, einheitliches Bild dieser Zeit gibt." Davon zu unterscheiden sei die Fülle individueller Perspektiven, die man in erzählten und geschriebenen Lebensgeschichten findet.

Österreich-Album

Entsprechend groß ist Mitterauers Freude, dass anlässlich des Jubiläumsjahres nebst allem offiziellen, kollektiven Gedenken auch Projekte stattfinden, die das persönliche Erinnern in den Mittelpunkt stellen: etwa der Schülerwettbewerb "Österreich-Album 1945-1955", der vom Bildungsministerium gemeinsam mit dem Buchklub veranstaltet wird. Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 19 Jahren sollen im Dialog mit ihren Großeltern die Alltagsgeschichte der Jahre 1945 bis 1955 erforschen. Ein Foto und ein kurzer Text gelten als Wettbewerbs-Beitrag und können Einlass in das virtuelle "Österreich-Album" finden, in dem bereits geblättert werden kann (www.oesterreich-album.at). "Dieses Projekt ist sinnvoll, weil man sich Zeit nimmt, weil Vertrautheit gegeben ist und weil vor allem nicht gefordert wird, dass die gesprochene Erinnerung an die Öffentlichkeit gegeben wird", meint Mitterauer. "Die entscheidende Bewältigungsarbeit ist ja eine sehr persönliche Angelegenheit."

Auch Schreibaufrufe - wie sie im Vorjahr in der Bundeshauptstadt unter dem Motto "Wie war Wien?" gemacht wurden -erhofft sich der Sozialhistoriker: Schließlich hätte die schriftliche Niederlegung der eigenen Geschichte -traditionell meist bei Pensionsantritt -oftmals kathartischen Charakter.

Zumindest den Kindern und Enkeln würde man damit die eigene, kleine Historie näher bringen. Sonst bleiben ihnen nur vage Schnipsel erzählter Geschichte - und eine Seifendose mit Sprung.

Informationen bei der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen", Dr. Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien unter (01) 4277-41306.

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BUCH

MUTTER, DER HIMMEL BRENNT Kriegskinder erinnern sich. Von Herta Spitaler und Verena Krawarik (Hg.)

Novum Verlag, Wien/München 2004 256 Seiten,TB, e 20,-.

GEBOREN 1916

Neun Lebensbilder einer Generation. Von Gert Dressel und Günter Müller (Hg.) Böhlau Verlag, Wien u.a. 1996

456 S., geb., e 29,90. (Band 38 der

Reihe "Damit es nicht verlorengeht ..." von M. Mitterauer und P. P. Kloß)

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