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Großer oder schwarzer Tag?

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De Gaulle hat, wie erwartet, auch das zweite Plebiszit der Fünften Republik gewonnen. Bedenkt man die Ernüchterung, welche in den zweieinhalb Jahren seit der Gründung dieser Republik um sich gegriffen hat, so ist das, was er seit dem ersten Plebiszit an Ja- Stimmen verloren hat, nicht so schlimm. Diese Ja-Stimmen sind in Frankreich von 66,41 Prozent der Stimmberechtigten (79,26 Prozent der Abstimmenden) auf 55,89 Prozent (75,25 Prozent) zurückgegangen. Und bezeichnenderweise hat sich dieser Stimmver- lust nicht als ein Anwachsen der Nein-Stimmen, sondern als ein jähes Emporschnellen des Fernbleibens von der Urne (mehr als zwei Millionen Nichtwähler mehr als damals) ausgewirkt.

Das Ergebnis in Algerien liegt auf ganz anderer Ebene. Nur bei der europäischen Bevölkerung kann es dort drüben als echter Ausdruck ihres Willens angesehen werden — und dieser Wille war mit seiner erdrückenden Nein-Mehrheit demjenigen der Heimatfranzosen genau entgegengesetzt. Bei der mohammedanischen Bevölkerung jedoch war das Ergebnis bloß ein nützlicher Hinweis auf die Machtverhältnisse. Auf dem Land draußen hat die französische Armee diese Bevölkerung noch weitgehend in der Hand und führt sie relativ geschlossen an die Urnen, ln den großen Städten jedoch sind die Mohammedaner der Kontrolle weitgehend entglitten; sie befolgten dort häufig die FLN-Parole, den Abstimmungsvorgang zu boykottieren. Dort aber, wo die Armee die Mohammedaner noch zur Urne führen konnte, hat sie einheitlich ja stimmen lassen (die Nein-Zettel blieben schon deswegen meist liegen, weil ihre Farbe in Algerien violett, die Unglücksfarbe des Islams war). Die dringenden Mahnungen der Regierung an die Offiziere, die Stellung Frankreichs in Algerien nicht noch durch ein Gegeneinanderarbeiten von Armee und ziviler Gewalt zu schwächen, hatten offensichtlich ihre Wirkung. Die äußere Disziplin der Armee mag aber auch — manche Symptome einer starren Apathie weisen darauf hin — in einem starken Ausmaß die Folge einer inneren Schwächung der Armee sein,

in der sich ein zur Revolte drängender und ein staatstreuer Flügel gegenseitig paralysieren. Manche sprechen sogar von einem „gebrochenen Rückgrat“ der Armee Doch die Sorgen dieser Armee sind bereits ziemlich ferne Sorgen. Vielleicht das wichtigste Ergebnis des Plebiszits ist, daß die Armee es überhaupt hat geschehen lassen. Es geht ein Aufatmen durch die französische Politik: „Sie“ (das heißt die Offiziere) haben ihre Chance verpaßt, kann man allenorts hören. Und die Politiker verhalten sich so, als habe man das Stadium bereits passiert, in dem die Armee durch den Ausfall der alten

Formationen (Parlament, Parteien und Gewerkschaften) zur stärksten organisierten Gruppe im Trümmerfeld der Republik geworden war. Die Zukunft wird zeigen, ob da einer zu voreilig begraben worden ist.

Vorerst weisen auf jeden Fall die Deutungen des Abstimmungsergebnisses in ganz andere Richtung: Man sieht in ihnen das Signal, das die Bahn zur Liquidation der französischen Stellung in Algerien freigibt, als ob dort drüben gar keine französische

Armee mehr stünde. Hat das französische Volk dazu wirklich die Vollmacht erteilt? Will man pedantisch sein, so kann man bloß feststellen, daß der Wähler wohl zum zweitenmal einen Blankoscheck ausgestellt hat. Welche Politik de Gaulle in Algerien nämlich durchführen will, weiß in Wirklichkeit niemand, auch die Minister nicht, und vermutlich nicht einmal jener Gehirntrust in der nächsten LImgebung des Generals, der als die eigentliche Regierung Frankreichs gilt. Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß sich das Plebiszit in Frankreich selbst in einer Atmosphäre abgespielt bat, der sich auch ein Mann

einsamer Entschlüsse (und sehr begrenzten Kontakts mit der Umwelt) nicht ganz entziehen kann.

Furcht vor dem Bürgerkrieg

Schon beim ersten Plebiszit der Fünften Republik, dem vom Herbst 1958, war das Ja nicht bloß ein Vertrauensbekenntnis zu de Gaulle. Schon damals war das Ja auf weite Strecken ein „konditionelles Ja“. Der Bürger stimmte ja, weil er sich der algerischen Bürde entledigen wollte und in de Gaulle den Mann sah, der diese „Liquidation“ in für den französischen Stolz erträglichen Formen abwickein würde. Und vor allem stimmte er mit Ja, weil mit dem 13. Mai 1958 die Fackel des Bürgerkrieges am Horizont aufgeßackert war und de Gaulle der einzige Mann zu sein schien, der den Bürgerkrieg verhindern konnte. Heute, nach der Entzauberung der Fünften Republik, sind diese Motive die ausschlaggebenden geworden. Nur zu häufig haben die Franzosen, die in der Presse oder privat allerschärfste Kritiken des Regimes formulierten, zuletzt dennoch zugefügt: „Aber ich stimme gleichwohl mit Ja!“ Es war der Horror vacui, die Furcht vor dem Ungewissen, welches man hinter de Gaulle aufsteigen sieht, die ihm seine zweite Plebiszitmehrheit verschaffte — selbst bei den kommunistischen Wählermassen, die zu einem erheblichen Teil der von der Parteileitung auf- gestellten (jedoch mit wenig Intensität verfochtenen) Nein-Parole nicht folgten.

Wird de Gaulle der Aufforderung folgen, zu der niemand offen zu stehen wagt, die aber jedermann in dem Abstimmungsergebnis spürt: der Aufforderung nämlich, Algerien zu liquidieren? Wird er nun die in Melun abgebrochenen direkten Verhandlungen mit dem FLN wiederaufnehmen? Der tunesische Staatschef Bourgiba hält das für die logische Konsequenz, die aus dem Abstimmungsergebnis zu ziehen ist. Und es fiel immerhin auf, daß im äußerst „ferngelenkten“ französischen Fernsehen bereits vom Abstimmungsergebnis in Algerien als von einer „De-facto-Anerkennung des FLN“ gesprochen werden durfte.

Es wäre jedoch falsch, alles schon für entschieden zu halten. Das Abstimmungsergebnis vermag nicht zu verwischen, daß der französischen Seele in diesen Monaten Wunden geschlagen worden sind, von denen man noch nicht weiß, ob sie vernarben werden oder weiterschwären. Der seltsame Lähnrungszustand der Armee, von dem wir bereits gesprochen haben, ist ein deutliches Symptom dafür. Und aufschlußreich war, was wir in der Abstimmungsnacht in einem größeren Kreis von Franzosen erlebten. Die Stimmung war zunächst trotz der erheblichen politischen Geeensätze in der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft und trotz deF.fceretts mehiiheit ’ lieh bekannten Resultate friedlich. Aber ein Zwischenfall im Fernsehen wirkte als Funke ins Pulverfaß.

Direktübertragung von den Chamos Elysees, wo die Reporter die zahlreichen Passanten vor der großen Tafel mit den Abstimmungsresultaten interviewen. Alles geht glatt, bis ein junger Mann ins Mikrophon spricht: „Ich bin einer von den abscheulichen Ultras — ich betrachte mich von nun an nicht mehr als Franzose…“ Worauf er sogleich von drei stämmigen Polizisten aus dem Blickfeld der Fernsehkamera gedrängt wird, während der Reporter sein Mikrophon schnell einem anderen Bürger vor die Nase hält. Aber der Aufschrei der in Algerien wohnenden Franzosen und übrigen Europäer, die sich vom Mutterland „verraten“ fühlen, ist gehört worden, auch in unserer Runde.

Ein dreißigjähriger Franzose bricht los: „Es ist ein Skandal, daß de Gaulle behaupten konnte, der heutige Tag sei einer der größten Unserer Geschichte! Das Votum von heute ist eine schändliche Feigheit, denn wir geben mit ihm die Million Europäer Algeriens preis — es bleibt ihnen nur noch übrig, sich massakrieren zu lassen oder den Weg ins Flüchtlingslager zu wählen. Ganz zu schweigen von den Hunderttausen- den von Algeriern, die zu uns gehalten haben, die französische Uniform trugen und die wir ja gar nicht alle hierher transportieren können. Es wird ihnen das gleiche Schicksal bevorstehen wie unseren Freunden in Marokko, die dort heute mit Ketten an den Füßen Steine klopfen, wenn sie nicht bei lebendigem Leibe verbrannt oder ihnen die Kehle aufgeschlitzt wurde…“

Gegen die Triumphlügen

Glaubt dieser junge Franzose noch an die Möglichkeit eines „französischen Algeriens“? Anscheinend auch er niebt: „Es ist möglich, daß wir nicht in Algerien bleiben können. Aber dann soll man den Mut haben, das offen zu sagen! Mir ist die Methode von Mendes-France lieber: nämlich eine notwendige Operation ohne Phrasen zu vollziehen. Was ich unerträglich finde, ist, daß man eine solche traurige Operation noch in

einen französischen Triumph umwälzen will! So verlängert man nur die Lüge, in der wir seit Jahrzehnten leben und die uns zum Gespött der Welt macht, weil unser Gerede in keiner Beziehung mehr steht zu dem, was wir in Wirklichkeit sind …“

Aber es fehlt in der Runde nicht an Gaullisten, die ihm eifrig widersprechen: Der General denke gar

nicht daran, Algerien fahrenzulassen, und die Armee werde so lange in Algerien bleiben, wie das zum Schutze der Franzosen und ihrer Freunde notwendig sei. Einer aber wirft ein:

„Haben die .Schwarzfüße’ (so nennt

man die europäischen Siedler dort unten) denn überhaupt Rechte auf uns? Hätten sie den ,Sidis’ rechtzeitig gleiches Recht zugestanden, so wäre es überhaupt nicht zum Krieg

gekommen!“ Damit hebt eine jener

endlosen Diskussionen an, in die man in den letzten Jahren immer wieder verwickelt worden ist — nämlich darüber, ob die Algerier im besonderen und die Mohammedaner im allgemeinen eine andere Sprache als die der Stärke

verstünden, und ob sie zu Franzosen wie irgendein Bewohner von Reims oder Nantes werden könnten, Betretenes Schweigen entsteht, als ein Herr, der bis dahin nicht am Gespräch teilgenommen hat, sagt: „Ich habe schon einen Sohn in Algerien verloren. Mein anderer steht noch dort unten als Soldat, und was ich möchte, ist allein, daß er so bald wie möglich heil zurückkehrt.“

Gibt es einen besseren Mann?

Der Erstaunlichste unter diesen „Gaullisten" ist jedoch ein-ehemaliger Berufsoffizier und jetziger Geschäftsmann, Mitte Sechzig, aus einer adeligen Familie, mit Wohnsitz in jenem „reichen“ sechzehnten Arrondissement von Paris, das an diesem Tag und von allen Pariser Quartieren am gaullistischen gestimmt hat: „Ich habe unter de Gaulle gedient, ich kenne ihn persönlich, und ich muß gestehen, daß er mir stets zuwider war. Aber seit dem ■ 13. Mai 1958 bin ich für ihn. Was haben sie denn anderes anzubieten? Sollen etwa jene kläglichen Regie

rungschefs, die wir vor ihm hatten, Frankreich führen?“ — Da wirft ihm unser junger Antigaullist entgegen, daß de Gaulle Frankreich gar nicht führe, sondern nur Reden halte und bisher nichts von seinen Versprechungen verwirklicht habe. Aber der einstige Offizier ist unerschütterlich: „Wir wissen gar nicht, was de Gaulle will; sicher weiß er viel, was wir gar nicht wissen und Was ihn zu seiner bisherigen Untätigkeit veranlaßt hat. Er hat das Schicksal Frankreichs in seinen Händen, und mit jeder Kritik an ihm vermindern wir seine Kraft, unsere Probleme zu lösen. Hinter ihm kann nur das Abenteuer kommen — halten wir darum zu ihm!“

Ob sich der Graben überbrücken läßt? Sehr bald schon könnten im breiten Strom abgemusterte Offiziere und geflüchtete Siedler ins Mutterland zurückwandern. Es ist nur zu hoffen, daß das Algerienproblem in der französischen Innenpolitik dann nicht dieselbe Rolle spielen wird wie der Versailler Vertrag in der deutschen Politik nach dem ersten Weltkrieg.

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