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„Gründienstag“ - nicht „Gründonnerstag“?

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Es gibt in der Leidensgeschichte unserer Evangelien ein chronologisches Problem, das noch einer befriedigenden Lösung harrt. Zwar ist der einfache Gläubige schon so oft darüber hinweggegangen, daß ihm dabei kaum noch etwas Verdächtiges auffällt. Anderseits ist in neuester Zeit in Fachzeitschriften eine Auffassung vertreten worden, die, wenn sie sich durchzusetzen vermag, in der gläubigen Laienwelt größtes Aufsehen erregen wird. Wenn hier von dieser noch unreifen Lösung die Rede sein soll, dann geschieht das nicht, um eine Sensation publizistisch auszuschlachten, sondern um dem Aergernis vorzubeugen und der Sensation ihren Stachel zu nehmen.

Es handelt sich um die ganz einfache Frage: An welchem Tag haben die Juden zur Zeit Jesu ihr rituelles Ostermahl gehalten?

Eine Frage für Kinder der untersten Stufe, so will es scheinen. Sicher ist, daß bei dieser Frage in einer zweiten oder dritten' Volksschulklasse eine Menge Finger in die Höhe gehen würden. Denn ein jeder, wenn er auch sonst nicht besonders in der Bibel versiert ist, weiß doch wohl, daß der Heiland am Vorabend Seines Todes zusammen mit den zwölf Aposteln in einem eigens dazu hergerichteten Saal das Ostermahl gefeiert hat. Die wenigsten werden sich darüber Ge- dankęn gemacht haben, wenn es nachher im Verlauf' der Leidensgeschichte gesagt wird, daß die Juden nicht ins Prätorium hineingingen, und zwar deswegen nicht, weil sie sich sonst verunreinigt hätten und außerstande gewesen wären, das Osterlamm zu essen . . . Damit i?t jedoch klar und deutlich gesagt, daß die An kläger Jesu nach Seiner Hinrichtung noch zu erledigen hatten, was Er mit den Seinigen j-jhon getan hatte. Es gibt noch ein Zweites und Schwerwiegenderes: mit dem Essen des Osterlammes wurde das Osterfest eingeleitet. Der auf das Abendmahl folgende Tag wai ein hoher Feiertag, der auch dann, wenn er nicht auf einen Sabbat fiel, doch alle jene strengen Gebote der Enthaltsamkeit von körperlicher Arbeit und Bewegung mit sich führte, wie dies beim wöchentlichen Ruhetag der Fall war. Nun macht aber unser Karfreitag, so wie er uns in den Evangelien geschildert wird, durchaus nicht den Eindruck einer solchen absoluten Arbeitsruhe. Es sind nicht nur der Heide Pilatus, der an diesem Tag das Gericht führt, und auch nicht nur die Henker, die gezwungenerweise ihre böse Arbeit verrichten. Es wird so ganz nebenbei ein Simon erwähnt, der mit seinen Söhnen vom Felde heimkehrt. Joseph von Arimathea ersteht am gleichen Tag ein Leintuch, und die frommen Frauen bereiten Salben und richten den Leichnam Jesu zur Grablegung her. Ja, auch die Jünger Jesu sind nicht ohne Waffen hinaus zum Oelgarten gegangen, und es war nicht die Rücksicht auf die angebrochene Osterfeier, die sie davon abhielt, das Schwert zu ziehen. Wie ist dies alles zu erklären, wenn ansonsten auch die unauffälligste Heilung eines Gelähmten und der Umstand, daß er sein Lager davonträgt, fie Gegner Jesu in Aufruhr versetzt?

Einfache Lösungen, wie zum Beispiel, daß Jesus und die Seinigen dieses eine Mal ihre Ostermahlzeit verfrüht oder, umgekehrt, daß die führenden Kreise unter den Juden, des Prozesses wegen, ausnahmsweise ihre Osterfeier um einen Tag verschoben hätten, sind fehl am Platz. Wenn nun aber Jesus das Ostermahl „an dem Tag, da man das Osterlamm zu schlachten pflegte" (Markus 14, 12) oder, wie Lukas noch schärfer betont, ,,an dem man das Osterlamm schlachten mußte“ (22, 7), gehalten hat, dann muß es sein, daß Er und die Seinigen diesen Tag für den 14. Nisan, während die Juden, das heißt die Gegner Jesu unter den Juden; allem Anschein nach den Freitag für das gleiche vom Gesetz vorgesehene Datum hielten.

Hier liegt offenbar eine Diskrepanz in der Kalenderberechnung vor. Es ist in diesem Zusammenhang auf die primitive Weise, in der das Erscheinen des Neumondes, das den Ausgangspunkt für den Monat bildete, hingewiesen worden. Dies geschah nämlich durch direkte Beobachtung mit dem bloßen Auge, und da konnte leicht eine Abweichung zwischen Galiläa und Jerusalem entstehen. Allein, es wird in den Berichten der Evangelisten nicht der Eindruck erweckt, als handle es sich hier um eine einmalige und akute Divergenz: vielmehr scheint hier ein alter und vernarbter Bruch vorzuliegen, der deshalb nicht eigens erwähnt wird.

P. Lagrange, der Gründer der Bibelschule St. Etienne in Jerusalem, hat als erster in seinem Markuskommentar und später in seinem „Evan- gile de Jesus-Christ“ die Ansicht vertreten, daß im Todesjahr Jesu der 15. Nisan, also der eigentliche Ostertag, an einem Sabbat stattfand und naß für diesen Fall Rabbi Hillel im Jahre 25 v. Chr. schon durchgedrückt hatte, daß, um den Vorabend zu Ostern zu entlasten, das Schlachten der Lämmer um einen Tag verfrüht wurde. Lagrange nahm dabei an, daß die Galiläer sowie die meisten konservativen Leute vom Lande an der althergebrachten Sitte festhielten und meinten, das Lamm am gleichen Abend essen zu müssen, an dem es geopfert war. Die Pharisäer, die im allgemeinen dem Volke näherstanden, scheinen in dieser Sache mit dem Volke gehalten zu haben, indessen die Sadduzäer und die führenden Kreise in der Stadt, darunter die Mitglieder des Sanhedrin, sich von dieser Neuerung distanziert haben. Wohl werden sie, liberal wie sie waren, dem Wunsche der kleinen Leute willfahrend, ihre Lämmer am Donnerstag abend geopfert haben, um sich somit für den Freitag die ohnehin ungeheure Arbeit zu erleichtern.

Ein weiterer Schritt zur Lösung dieser Frage wurde vom deutschen evangelischen Pfarrer Billerbeck unternommen. Unter seiner vieljährigen Lese von Parallelen zum Neuen Testament aus Talmud und Mischna ist es ihm gelungen, eine alte Streitigkeit zwischen Pharisäern und Sadduzäern, betreffend die kalendermäßige Fixierung des Pfingsttages, aufzudecken. Demnach vertraten die ersteren den Standpunkt, Pfingsten, das ist der 50. Tag nach Ostern, solle stets an einem Sonntag stattfinden. Da diese fünfzigtägige Periode von dem Tag ab in der Osterwoche gezählt wurde, als die Erstlingsgarbe im Tempel dargebracht wurde, folgerten sie daraus, dieses Opfer müsse immer am Sonntag in der Osterwoche stattfinden, ungeachtet ob die Darbringung der Garbe am Tag, der unmittelbar auf das Osterfest folgte, geschah oder nicht. Sie erlaubten sich zu diesem Zweck sogar kleine Umstellungen im Kalender, die sie mit Spitzfindigkeiten zu motivieren verstanden. War zum Beispiel der 15. Nisan ein Freitag — wie es angeblich im Todesjahre Tesu der Fall gewesen sein soll —, wurde das Osterfest um einen Tag verschoben, so daß die Darbringung der Erstlingsgarbe am folgenden Tag stattfinden konnte. Die Pharisäer und mit ihnen die breiteren Schichten des Volkes, zumal am Lande, machten da nicht mit. Ihnen war es nämlich gleichgültig, an welchem Tag das. Pfingstfest gefeiert wurde

Dadurch entstand ganz besonders in Jahren, wenn Ostern auf einen Freitag fiel, eine abweichende Chronologie, indem der gleiche Donnerstag von den Pharisäern und ihrem Anhang als der 13., von den Sadduzäern und den von ihnen beeinflußten Kreisen m der Stadt dagegen als der 14. Nisan bezeichnet wurde. Die letzteren schlachteten das Osterlamm am Freitag abend, hielten Ostern am Sabbat und brachten am Sonntag die Erstlingsgarbe der Ernte dar. In seinem „Leben lesu Christi" hat der römische Professor Ricciotti diese Lösung sehr ausführlich behandelt, ohne sie deshalb für endgültig zu halten.

Inzwischen haben die in letzterer Zeit berühmt gewordenen Handschriften vom Toten Meer auch dieser Debatte frische Zugluft zugeführt. Diesen jüdischen Schismatikern aus der Zeit Christi, die in Qumran am nordwestlichen Ufer des Toten Meeres ihren Hauptsitz hatten, wird nämlich in ihrer Regel eingeschärft: „ ... daß sie nicht irgendeines der Worte Gottes überschreiten in'ihren Zeitperioden und nicht voreilen mit ihrer Zeitrechnung und nicht nachhängen hinter den ihnen festgelegten Festterminen ..." (G. Molin, Die Söhne des Lichtes. S. 19). Diesen Faden hat die Französin Mlle. A. Jaubert aufgegriffen, und an Hand minuziöser Erforschung anderer jüdischer Apokryphen sowie des sogenannten „Buch der Jubiläen“ und des „Ersten Buch des Henoch" (beide aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.) ist es ihr gelungen, den Nachweis zu erbringen, daß diese Dissidenten am Toten Meer einen Kalender bewahrt hatten, der in gewissen Punkten vom damaligen offiziellen jüdischen Kalender abwich, in Wirklichkeit aber den ursprünglichen israelitischen Kalender darstellen dürfte, der auch den fünf Büchern des Moses zugrunde gelegen war.

Nach diesem Kalender hat das Jahr 364 Tage gezählt, das sind genau 52 Wochen oder vier Vierteljahre zu je 91 Tagen. Jedes Vierteljahr ist aus drei Monaten zusammengestellt, und zwar aus zwei zu 30 und einem dritten Monat zu 31 Tagen. Interessanterweise setzt das Jahr immer an einem Mittwoch an. Dies hat einen tieferen Grund. Nach dem Schöpfungsbericht der Bibel sind Sonne und Mond, die die Jahreszeiten und Monate zu regeln haben, am vierten Tag des Hexameron, also an einem Mittwoch, erschaffen worden. Auffallend ist. daß auch im „Buch der Jubiläen“ der sakrale und unabänderliche Charakter dieses Kalenders, dessen Uebertretung dem „Bruche mit dem heiligen Bunde“ gleichgestellt wird, so sehr hervorgehoben wird.

Was nun die Ostern betrifft, soll daran er innert werden, daß der Monat Nisan (nach unserem Kalender Mitte März bis Mitte April) jedenfalls in der nachexilischen Zeit als der erste Monat des jüdischen Kalenderjahres galt. Wenn es nun im 3. Mosesbuch, 23, 5. hieß: „Am 14. Tag des ersten Monats, gegen Abend, findet die Paschafeier statt . .dann mußte das an einem Dienstagabend zutreffen, so daß der darauffolgende Ostertag immer an einem

Mittwoch stattfand Damit ergibt sich nun für die Chronologie der Karwoche ein völlig neuer Gesichtspunkt. Ist es wahrscheinlich, daß die von den Mönchen in Qumran so streng gehütete Sitte auch dem gläubigen und konservativen Volk am Land noch stets heilig war, während die liberale Aristokratie unter Einfluß der Sadduzäer hier vom alten abgerückt war, dann muß nur noch die Frage gestellt werden, ob ein

„letztes Abendmahl" am Dienstag abend sich mit den Angaben unserer Evangelien versöhnen läßt. Auch dieses Problem ist schon untersucht worden, und zwar mit positivem Ergebnis. Tatsache ist, daß sich aus den vier Evangelien keine einzige Stelle anführen läßt, wo der Donnerstag ausdrücklich als der Tag des letzten Abendmahles gekennzeichnet würde. Ja, auch der Apostel Paulus spricht zwar in diesem Zusammenhang „von der Nacht, in der Er verraten wurde", und die Gründonnerstagliturgie hat den Ausdruck „vor dem Tag Seines Leidens“, aber damit ist noch nicht gesagt, daß es zugleich der Tag Seines Todes gewesen ist. Anderseits lassen sich die ungefähren Zeitangaben der Evangelisten, ohne daß ihnen Gewalt angetan wird, in die nfeue Zeitspanne Dienstag bis Freitag mit Leichtigkeit einfügen. Ja, es muß gesagt sein, die vielen verschiedenen Ereignisse sowie die Verhöre bei Kaiphas und Annas, der langwierige Prozeß bei Pilatus, die Ueberfiihrung nach Herodes, die ansonsten im Laufe eines einzigen Vormittags untergebracht werden mußten, machen in dem erweiterten Rahmen einen glaubwürdigeren Eindruck. Es würde hier zu weit führen, dies alles zu belegen.

Es ist klar, daß auch diese Hypothese nicht imstande ist, sämtliche Lücken zu schließen. Es ist nicht schwer, hier Fragen zu stellen, worauf es nach dem jetzigen Stand der Forschung noch keine befriedigende Antwort gibt. Jedenfalls steht nunmehr mit Sicherheit fest, daß es zur Zeit lesu und unter Seinem Volk umstrittene Kalenderfragen gegeben hat und daß damit eine mögliche Erklärung für die abweichenden Osterberechnungen in unseren Evangelien nahegelegt wird. Ob die hier erwähnte Lösung imstande sein wird, die alte Tradition vom Gründonnerstag als dem Tag des letzten Abendmahles zugunsten des Dienstags zu verrücken, können wir einstweilen dahingestellt lassen.

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