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Haarnetz für die Fischer
Der EU-Vertretung in London ist der Kragen geplatzt. Haarsträubende Märchen über die EU sind Lieblingsthemen der britischen Medien.
Der EU-Vertretung in London ist der Kragen geplatzt. Haarsträubende Märchen über die EU sind Lieblingsthemen der britischen Medien.
Unter dem Titel „Glauben” Sie alles, was in den Zeitungen steht? befaßt sich eine kleine Schrift mit Behauptungen und Gerüchten, die die Europäische Union diskreditieren. In vier Kapiteln werden offensichtliche Unwahrheiten, Mißverständnisse, Fehlentwicklungen durch nationale Übereifrigkeit und schließlich auch Vorschriften angeführt, die zwar richtig beschrieben sind, jedoch nach EU-Meinung ihre guten Gründe haben.
Zu den offensichtlichen Unwahrheiten gehört die vom „European” verbreitete Behauptung, daß eine EG-Richtlinie alle Fischerboote verpflichtet, mindestens 200 Kondome mit sich zu führen, um „safe sex” der Schiffsbesatzung zu gewährleisten. „Daily Star” und „The Inde-pendent” wiederum wußten, daß Fischer auf ihren Booten aus hygienischen Gründen Haarnetze tragen müssen. In diese Kategorie gehört auch die Bestimmung, wonach alle Zoos und Wildparks in der Gemeinschaft von Griechenland bis Schottland, von Portugal bis Dänemark, das Werbesymbol eines Elefanten obligatorisch verwenden müssen, gleichgültig, ob dieses Tier in natura gezeigt wird oder nicht.
Die EU-Broschüre dementiert auch das Kommissionsverbot erotischer, „sexistischer und das weibliche Geschlecht beleidigender” Strandpostkarten („Daily Express” und andere). Dagegen berichten Zeitungen, in Dublin, daß die Europabehörden Irland zwingen wollen, Nacktbadestrände zu errichten. Andere Zeitungsenten beziehen sich auf das Projekt eines europäischen Aristokratenverzeichnisses, um so den Mißbrauch von Titeln auf Weinflaschen zu verhindern. Auch das behauptete Verbot von privater Autowäsche ohne entsprechende Olent-sorgungsanlage ist ein Märchen. Unrichtig ist die Behauptung von „The Sun”, daß hausgemachte Marmelade, selbstgebackener Kuchen und frische Farmeier nicht mehr auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und Dorffesten verabreicht werden dürfen. An die zwingend Einführung eines Euro-Christbaumes mit vorgeschriebenen Normen für Form, Farbe und Wurzelwerk ist auch nichtgedacht.
Herzstück der Kategorie Mißverständnisse sind die auch auf dem Kontinent belachten Vorschriften der Gurkenkrümmung. Hier erklärt die Londoner EU-Vertretung, daß es sich bei dieser Richtlinie um eine Standardisierung handelt, die die Qualitätsunterschiede der verschiedenen Sorten deutlich machen soll. Die Anregung kam von der Industrie selbst, die offensichtlich Interesse daran hat, die Zahl der Gurken in einer Standardschachtel festzulegen. Der EU-Entwurf, wonach jedes zu menschlichen Genuß bestimmte Wild noch im Revier von einem Veterinärmediziner inspiziert und eingefroren werden muß, bezieht sich ausschließlich auf die Jagd zu rein kommerziellen Zwecken.
Die Standardisierung von Särgen dient nach Angaben der Broschüre ausschließlich dem Transport über die nationalen Grenzen. Unrichtig ist - und das werden manche bedauern - die Behauptung, wonach politische Parteien in Wahlzeiten direkte Postwurfsendungen aufgrund Brüsseler Vorschriften nicht mehr verschicken dürfen. Aufregung verursachte auch die Mitteilung des „Daily Star”, wonach sich Esel und Hunde auf Stränden mit blauer Flagge nicht aufhalten dürfen.
Mitunter werden EU-Vorschriften durch nationale Bestimmungen verschärft, Kritikern wird dann unter Hinweis auf die Brüsseler Bürokratie der Wind aus den Segeln genommen. So bestehen in Großbritannien ein Verkaufsverbot von Second-Hand-Spielwaren bei Wohltätikeits-veranstaltungen und spezielle Vorschriften betreffend Lagertemperaturen von Austern und Muscheln.
Die Londoner EU-Mission bemüht sich aber auch, die wahren „Mythen” der Brüsseler Legislative zu erklären. So wird um Verständnis gebeten, wenn Bettungsmannschaften wegen Fahrlässigkeit zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn Lärmpegel für Rasenmäher generell festgelegt wurden oder in einer Verordnung bestimmt wird, daß Karotten als Obst zu gelten haben. Diese seltsame Definition ermöglicht es den portugiesischen Marmeladefabrikanten, Jam aus Karotten herzustellen.
Alle diese Fälle zeigen, daß sich die Europäische Integration nicht allein in den entrückten Sphären der hohen Politik und Wissenschaft verwirklichen kann. Sie erfordert ebenso eine mühsame und zeitraubende Befassung mit vielen tausend Details, die unter Berücksichtigung entgegengesetzte Interessen festgelegt werden müssen. Zwar hat die Europäische Gemeinschaft schon vor geraumer Zeit auf eine generell Harmonisierung der Gesetzgebung verzichtet und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der nationalen Vorschriften eingeführt. Danach - kann durch das berühmte Urteil des Europäischen Gerichtshofes „Cassis de Dijon” erhärtet - ein Produkt innerhalb der Union vertrieben werden, wenn es im Herstellerland zugelassen ist. Erforderlich sind allerdings gemeinsame Mindeststandards, um einen Wettbewerb mit gleich langen Spießen zu gewährleisten.
Dies bietet ein weites Feld für Phantastereien und absichtsvollen Unterstellungen. Darin findet auch die im Vorfeld der österreichischen EU-Volksabstimmung präsentierte Mär von der Schildlaus im spanischen Yoghurt, portugiesischen Wasserdieben und Brüsseler Goldräubern durchaus ihren würdigen Platz.
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