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Haft bis zum letzten Tag

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Wenn es darum geht, die Wurzeln und Ursachen des Phänomens Nationalsozialismus zu erforschen, begnügen wir uns allzugern mit einigen Schlagworten wie zum Beispiel „Irregeleitetes Kleinbürgertum“, „Arbeitslosigkeit“1, „Eingewurzelter Antisemitismus“ oder „Frieden von Versailles“. Doch wir wissen, daß der Nationalsozialismus auch für Personen attraktiv war, für die es die genannten Gründe nicht gab. Da hören wir meist zu forschen auf, vielleicht in der Annahme, daß es nicht zielführend sei, den Beweggründen für die Ausnahmefälle in einer Massenbewegung nachzugehen.

Will man aber eine Ideologie wirksam bekämpfen, so muß man ihre gesamte Attraktionsspannweite kennen. Wir müssen daher auch wissen, wieso die sogenannten Ausnahmen Nationalsozialisten wurden und zum großen Teil bis zum Schluß Nationalsozialisten blieben. Zu dieser Gruppe gehört der Mann, der am 30. September, um 24 Uhr, zusammen mit dem ehemaligen Rüsitungs- minister Albert Speer aus dem Kriegsverbrechergefängnis Berlin- Spandau entlassen wird: Baldur von Sohirach.

Nichts an Baldur von Schirach war typisch für einen Nationalsozialisten. Er war kein Kleinbürger, sondern entstammte einer vornehmen Adelsfamilie. Von erlittener Arbeitslosigkeit kann nicht die Rede sein. Sein Antisemitismus war nicht eingewurzelt, sondern erlesen. Den Frieden von Versailles kann er nicht als Schmach erlebt haben, denn am Ende des ersten Weltkrieges war er erst elf Jahre alt. Ja, er kann nicht einmal als richtiger Deutscher be zeichnet werden: Unter seinen Vorfahren finden sich mehr Amerikaner als Deutsche.

Wieso war er also ein Nazi? Die Frage muß offenbleiben. Vielleicht hilft es uns aber weiter, wenn wir seinen Werdegang auf zeigen: Den Adelstitel verdankt die Familie Schirach der Kaiserin Maria Theresia. Sie war es, die mit „Nobilitations Diploma“1 vom 17. Mai 1776 „den Gottlieb Benedikt Schirach, Professor der Geschichte und Politik auf der Universität Helmstädt“, in den Adelsstand erhob, nachdem sie von ihrem Kanzler Kaunitz auf Schirachs ursprünglich in Österreich verbotenes Buch über ihren Vater Kaiser Karl VI. aufmerksam gemacht worden war. Baldurs Vater war großherzoglicher Intendant am Theater in Weimar. '

Mütterlicherseits entstammt Baldur von Schirach einer vornehmen französisch-amerikanischen Familie. Zwei Vorfahren hatten die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mitunterschrieben, ein anderer verlor bei den Sezessionskriegen als General ein Bein. Baldur von Schirach schließlich wurde 1907 in Berlin geboren. Als 17jähriger Gymnasiast las er Henry Fords „Der internationale Jude“. Ford hatte sein Buch zwar schon bald nach Erscheinen widerrufen und zurückgezogen, bei Schirach aber ging die Saat auf; den alliierten Richtern in Nürnberg berichtete er später, daß er durch die Lektüre dieses Buches zum Antisemiten wurde. Ein Jahr später, am 29. August 1925, trat er der NSDAP bei. Seine Mitgliedsnummer, die er damals erhielt, lautete 17.251.

So kam es zu Sentenzen wie zum Beispiel:

„In dieser Zeit der rassischen Erkenntnisse dürfen wir über der Erforschung der Gesetze unseres Blutes nicht die Sprache vergessen. Gewiß, sie kann auch von Fremdrassigen erlernt werden, aber im tiefsten Sinne des Wortes deutsch reden kann nur ein Deutscher. Wohl kann man in allen Teilen der Welt Menschen der verschiedensten Rassen antreffen, die die französische Sprache vollendet beherrschen, aber nur Menschen unseres Blutes sprechen vollendet deutsch. Unsere Sprache ist ein Rassenmerkmal!“

Aus Denkern wurden Soldaten

Aber war es Absicht oder Zufall, daß Schirach in derselben Rede (gehalten 1943 anläßlich der Weimar- Festspiele der deutschen Jugend vor HJ-Führern) eine der glänzendsten Formulierungen für die Wandlung der Bevölkerung während des Dritten Reiches brachte?

„Das deutsche Volk der Dichter und Denker hat sich zur Nation der Dichter und Soldaten gewandelt.“

Knapp zwei Jahre nach dieser Rede war Baldur von Schirach bereits selbst Soldat. Die Wehrmacht verlangte, daß er, der nie gedient hatte, einmal an die Front gehen sollte, außerdem war sie mit dem „Schöngeist“ als Jugendführer unzufrieden, da sich herausgestellt hatte, daß die vormilitärische Ausbildung der HJ wenig effektvoll war.

Schirach machte während des Frankreichfeldzuges im Infanterieregiment Großdeutschland eine Blitzkarriere und wurde nach wenigen Monaten zum Leutnant befördert.

Als der Wiener Gauleiter Josef Bürckel nach Lothringen versetzt wurde, ernannte Hitler in Paris den Schwiegersohn seines Leibphotographen zum neuen Gauleiter in Wien. Doch erst nach einer Intervention des Photographen durfte Schirach, der den neuen Posten als Entmachtung empfand, zusätzlich Reichsleiter für die gesamte Jugenderziehung bleiben.

Wien — Ballhausplatz

Schirach zog am 9. August 1940 in Wien ein, aber nicht in die ehemaligen Amtsräume Bürckels im Parlament, sondern er residierte am Ballhausplatz, wo er sich den Schreibtisch Metternichs aufstellen ließ. Hitler hatte ihm aufgetragen, die gesunkene Stimmung in Wien zu heben, wozu natürlich gehörte, den schlechten Eindruck, den die „Befreier aus dem Altreich“ unter Bürckel machten, wieder auszugleichen.

Ulrich von Hassell, der später wegen seiner Beteiligung am Putschversuch des 20. Juli 1944 hingerichtet wurde, besuchte den neuen Gauleiter anläßlich der Eröffnung der Wiener Herbstmesse im September

1940 und notierte darüber in sein Tagebuch:

„Schirach hat sich zur Parole gemacht, in allem den Unterschied zu Bürckels Methoden hervorzukehren. Er (dem übrigens die Falschheit auf dem Gesicht steht) markiert den ,Großzügigen, Verständnisvollen‘

und lobte in seiner Rede das Fürstenhaus, das aus Wien die Hauptstadt einer Welt gemacht habe, und seine hervorragenden Vertreter

Maria Theresia und Joseph II. Beim Empfang der Gäste zeigte er sich gewandt und liebenswürdig. Ab und zu kommt dann der großspurige Parteibonze durch. So, wenn er beim Frühstück zwischen Ricci und dem türkischen Botschafter unbekümmert allerhand Papiere studiert, die ihm überflüssiger-, aber wohlberechneterweise gebracht werden.

Es wurde von kaiserlichem Porzellan und Silber, mit Dienern in kaiserlicher Livree serviert — eine Geschmacklosigkeit, die den guten General Bardolff zu resigniertem Kopfschütteln veranlaßte. Das Essen wurde aus einem Hotel geholt, so daß wir zweieinhalb Stunden gequält bei Tisch saßen und Schirach verzweifelt vor dem Käse die Tafel aufhob. Beim Empfang im Rathaus nach der schönen ,:Zauberflöten' - Aufführung, gerierte sich Schirach mit der Tochter des ,Reichs-Trunkenboldes‘ Hoffmann als Souverän mit schnürbedecktem, die Namen der Gäste flüsternden Adjutanten. Dafür nahm er nachher wie ein kleiner Spießer neben seiner hohen Gemahlin Platz.“

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