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Harold Wilson im Sattel

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Alljährlich im Herbst veranstalten die politischen Parteien Großbritanniens ihre Parteikongresse, wodurch sie die Zeit zwischen den Sommerferien und dem Beginn der Parlamentssession in Westminster Anfang November nutzbringend verwerten.

Schien es im Sommer noch sehr wahrscheinlich, daß Premierminister Wilson im Oktober oder November die Wählerschaft neuerlich zu den Urnen riefe, ist inzwischen klargeworden, daß er diese Möglichkeit nie erwogen hat. Der Reigen der Parteikongresse hat zumindest auf diesem Gebiet Klarheit gebracht. Er hat überdies die innenpolitischen Fronten sichtbar werden lassen.

Zünglein an der Waage

Den Reigen eröffnete Ende September die Liberal Party in Scarborough, dem schönen Seebad an der Ostküste Englands. Mr. Joe Grimond, der langjährige Führer der Liberalen, stand in diesem Jahr vor größeren Schwierigkeiten als je. Die hauchdünne Mehrheit der Arbeiterpartei wertete die parlamentarische Stellung der zehn liberalen Abgeordneten im Unterhaus erheblich auf; mit einem Schlag fühlten sie sich in die Rolle des Züngleins an der Waage hineingedrängt. Von einer solchen Lage träumen kleine Parteien an sich, und es wäre sicherlich falsch, wenn man den Gefühlszustand Mr. Grimonds als traurig bezeichnete. Aber gleichzeitig sah er seinen Traum von der einheitlichen Linken in weite Fernen gerückt.

Und zwar aus zwei Gründen. Die l.abour Party konnte aus innerparteilichen Verhältnissen den ideologischen Ballast endgültig über Bord werfen und sich zu einer wirklich modernen Massenpartei wandeln. Sie mußte aber, zumindest offiziell, an Artikel 4 ihrer Statuten, der die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, vor allem der Eisen- und Stahlindustrie, vorsieht, weiterhin festhalten. Die sozialistische Regierung hat außerdem vor kurzem die Absicht verkündet, Gewinne aus Grundstücksverkäufen künftig mit einer Steuer von 40 Prozent zu belegen. Verstaatlichung und Grundstückssteuer stießen auf starken Widerstand bei den Liberalen. Der Traum von einer gemeinsamen linken Front der Liberalen Partei und der Arbeiterpartei mußte allerdings schon deshalb zerrinnen, weil die Liberalen im wesentlichen die gleiche Klassenstruktur wie die Toriea haben. Oder um dem Kommentator der „Financial Times“, Nigel Lawson, zu folgen: Die Liberale Partei ist das natürliche Sammelbecken unzufriedener Konservativer; sie ziehen Mr. Grimond und seine Partei als das kleinere Übel einer Stimmenthaltung vor. Einem echten Pakt zwischen Mr. Grimond und dem sozialistischen Premierminister würden sie zweifellos bei der nächsten Wahl den Wechsel präsentieren.

Ein nicht zu übersehender Unterschied zwischen Liberaler und Sozialistischer Partei liegt in der entgegengesetzten Einstellung zu einer europäischen Integration. Die Liberalen fordern eindeutig den Beitritt Großbritanniens zur EWG. Mr. Grimond warnte am Schluß des Kongresses in Scarborough den Premierminister vor übereüten Entschlüssen, ließ aber durchblicken, daß die liberalen Abgeordneten in Westminster allgemein die Regierung stützen würden. Neben ihrer Abneigung gegen die Tories wollen die liberalen Führer, vor allem Mr. Grimond, eine vorzeitige Wahl wegen der leeren Parteikasse vermeiden.

Die Revolte fand nicht statt

Während die Liberalen in Scarborough mühsam einen Weg zwischen Scylla und Charybdis suchten, legte das Kabinett Wilson eine Woche später Rechenschaft über ein Jahr Regierungsarbeit ab. Allgemein hatte man eine offene Revolte des linken Flügels befürchtet, der über die Verteidigungspolitik, die) britische Haltung zu den Bombardements, in Süd.- und Nordvietnam, Aden, Rhodesien und das Ausbleiben echter sozialistischer Reformen in zunehmendem Maß unruhig wurde. Man redete sich in Blackpool heiser; die Revolte blieb freilich aus. Gewiß, prominente Vertreter der Linken, wie etwa Mr. Slaughter und Mr. Allaun, nützten ihre Gelegenheit, aber eine geschickte Regie der Tagesordnungspunkte sicherte der Regierung che nötige Stimmen-anzahi.

Freilieh blieb der Kongreß nicht ohne Störung. Zunächst ist festzuhalten, daß Mr. Cousins, Minister für Technologie, nicht unter seinen Kollegen, sondern inmitten der Delegation der Transportarbeitergewerkschaft Platz genommen hat. Als der Kongreß über die Einkommenspolitik des Kabinetts abstimmte, rührte Mr. Cousins keinen Finger, um seinem Kollegen Mr. George Brown die Stimmen der Transportarbeiter zu gewinnen. Tatsächlich erzielte hier die Parteiführung die knappste Mehrheit. Die Vorschläge Mr. Browns, vor Streiks eine Art Abkühlungsperiode gesetzlich zu erzwingen, sind eben nicht gerade beliebt, zumindest nicht unter Gewerkschaftsführern, die um ihren Einfluß bangen.

Der sozialistische Jahreskongreß offenbarte daneben noch eine bemerkenswerte Tatsache. Der linke Flügel, der einst Attlee und Gaitskell große Schwierigkeiten bereitete, ist ohne Führung. Ihm fehlt die große Persönlichkeit, die den marxistisch-ideologischen Anschauungen in der Parteiöffentlichkeit zum Durchbruch verhelfen könnte. So konnte nicht der Eindruck ausbleiben, beim linken Flügel handle es sich bloß um einige Sektierer, die nie zufrieden sein können. Der in letzter Zeit immer militanter werdende Ton des „New Statesman“ scheint allerdings dies nicht zu bestätigen. Auch die Konferenz von Blackpool hat die innerparteilichen Klüfte nur oberflächlich geglättet. Hinter dem Vorhang, den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, geht die innerparteiliche Diskussion zweifellos weiter. Die ruhige Haltung der Linken ist augenblicklich nur erzwungen durch das parlamentarische Kräfteverhältnis. Sobald Mr. Wilson eine allfällige Wahl mit einer größeren Mehrheit gewinnen würde, dann würden gewiß wieder die Gegensätze stärker aufflammen.

Das Wissen um diese mächtige, latente linke Strömung dürfte Premierminister Wilson auch bewogen haben, dem merkwürdigen Verhalten Mr. Cousins schweigend zuzusehen. Dieser stellt nämlich den potenten Kandidaten für die Führung des linken Flügels dar. Deshalb vermeidet Mr. Wilson eine offene Auseinandersetzung, um nicht aus Gründen der Parteidisziplin zu einem politisch fragwürdigen Schritt gezwungen zu sein.

Konservative: für Europa

Einigkeit war das Generalthema des konservativen Parteikongresses in Sri#foton. Mr. Heath konnte sich von seiner Popularität überzeugen. Damit er seinem Ruf als Reformator Oer Tories gerecht wurde, rückte er von der Tradition ab, nahm an der Tagung aktiv teil und erschien nicht, -wie alle seine Vorgänger, erst nach Ende des Kongresses zu einer großen ■propaganäaschau. Die Tagung bot ja auch reichliche Gelegenheit, sich mit dem politischen Dokument der Tori«, „Putting Britain Right Ahead“, das rechtzeitig für die Gespräche von Brighton veröffentlicht worden war, auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt, dieser Broschüre «teht der Entschluß, bei nächster passender 'Gelegenheit wieder einen Versuch in Brüssel zu wagen. Unter Heath haben sich die Konservativen endgültig Jür Europa entschieden. Auf dieser Linie liegen die vorsichtigen Andeutungen des Verteidigungsministers des Schattenkabinetts. Mr. Enoch Powell, die Position GroßbuitBhniens östlich von Suez, welche Tüir. Wilson so hartnäckig wie seine WBEgHmger verteidigt, doch fallenzulassen, weil sie unhaltbar geworüen aei.

Opposition nach ohne Chancen

Wie nicht anders zu erwarten, nehmen die Bemühungen um eine Neuordnung lites Verhältnisses zwischen Unternehmern und Gewerkschaften «amen wichtigen Platz ein. Die Konservativen wollen die Irr munitüt 'öer Gewerkschaften ein-«ehränken und ■•mich gewisse offizielle

Streiks gesetzlich verbieten. Ihre Denkweise ähnelt jener, die in den USA zu dem bekannten Taft-Hart-ley-Gesetz geführt hat, das dem Präsidenten die Befugnis einräumt, Streiks für eine Zeitspanne von sechs Monaten als gesetzwidrig und ungültig zu erklären. Damit weicht der konservative Standort bezüglich Gewerkschaften sachlich gar nicht so sehr von jenem des Kabinetts Wilson ab; der Unterschied liegt bloß im Tonfall. Zu dieser Einmütigkeit haben die Streiks in der Automobil-industrie beigetragen, die diesen wichtigen Zweig lahmlegten, wodurch namhafte Devisenausfälle im Export hingenommen werden mußten.

Die Konservativen würden auch, wenn sie wieder die Regierung stellen, eine Steuerreform durchführen und die Kompetenzen zwischen den Ministerien neu verteilen. Die Kör-perschaftssteuer und die Kapitalertragssteuer, welche die Regierung entweder schon durchsetzte oder bald verabschieden wird, müßten „drastisch geändert werden“. Nach Ansicht einiger Kommentare sollen diesen beiden Steuern die Zähne gezogen werden, damit sie nicht mehr wehtun können.

Obgleich Mr. Heath in Brighton mehrmals erklärte, die Konservativen strebten eine baldige Neuwahl an, unterließ er es bisher, die Regierung wirklich in die Enge zu treiben. Offenkundig will er noch Zeit gewinnen, um sich als Parteiführer zu etablieren und auf jene Fehler der Regierung zu warten, die einen Wahlerfolg wahrscheinlich machen. Gegenwärtig hätte die Opposition kaum Chancen. Noch nie war eine Regierung nach einjähriger Amtszeit unter den Wählern so populär wie das Kabinett Wilson. Das augenblickliche Vertrauen in den Pfund Sterling hat sich in politische Dividenden verwandelt. Dies hat Mr. Wilson so zuversichtlich gemacht, daß auch er es mit der Neuwahl nicht eilig hat. Er ist überzeugt, jederzeit mit einer vergrößerten Mehrheit nach Westminster zurückkehren zu können. Das wirklich merkwürdige Verhalten der öffentlichen Meinung scheint ihm recht zu geben.

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