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Hemmschwelle zur Gewaltanwendung sinkt

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dieFurche: Geht Frieden schaffen ohne Waffen?

Curt Gasteyger: Der Slogan ist sehr einprägsam, aber er deckt die volle Problematik nicht ab. Die Steine der Intifada (des palästinensischen Jugendaufstandes gegen Israel) - sind das Waffen oder sind sie Ausdruck einer tiefergehenden Frustration? Sie waren jedenfalls außerordentlich wirksam. Es zeigt, man kann heute auch politische Ziele ohne Waffen, aber auch mit Gewaltanwendung in verschiedenster Weise erreichen, mit Gewalt im weitesten Sinne.

dieFurche: Kann man mit „Liebe" Kriege verhindern?

Gasteyger: Es stellt sich überhaupt die Frage, wieviel diese ganzen Bemühungen in unserem Jahrhundert geholfen haben. Wir haben ja überall sehr starke pazifistische Bewegungen gehabt. Man muß mit Bedauern feststellen, daß sie die Natur des Menschen kaum geändert haben. Wenn man Konrad Lorenz liest, dann siehtman, daß in jedem Menschen die Anlage zur Gewaltanwendung vorhanden ist. Und die Hemmschwelle gegenüber Gewaltanwendung ist bei uns eher im Sinken.

dieFurche: Da stehen wir doch vor einer gigantischen Herausforderung heute, wenn dem so ist?

Gasteyger: So ist es. Das erklärt sich natürlich in allererster Linie dadurch, daß die ethischen und in unserer Gesellschaft muß man sagen: christlichen Grundsätze der Nicht-Gewaltanwendung - liebe deinen Nächsten - heute bestenfalls zu einem Ornament unseres gesellschaftlichen Bildes geworden sind. Natürlich richten sich noch Menschen danach, aber im Versuch, sich danach zu richten, sind sie in der weitgehend säkularisierten Gesellschaft wesentlich schwächer geworden beziehungsweise völlig abwesend. Durch die Entchristlichung, durch das Verschwinden religiöser Werte und ihrer Beachtung haben wir, unbewußt oder bewußt, die von mir genannte Hemmschwelle gesenkt, sodaß man letztlich weniger zurückschreckt, Gewalt in verschiedenster Art anzuwenden als das möglicherweise in einer sozial viel geordneteren, in sich glaubensmäßig wesentlich gefestigten Gesellschaft der Fall wäre.

dieFurche: Woraus schließen Sie das?

Gasteyger: Das eine außerordentlich traurige Beispiel sind die Drogensüchtigen, die zum Teil sehr schwierige menschliche Enttäuschungen und Erlebnisse zu vergessen suchen, aber gleichzeitig dadurch, daß sie Drogen nehmen, ihre innere Hemmschwelle zur Gewaltanwendung senken. Das andere Beispiel sind die frustrierten Minderheiten, die durch ihre Randstellung stärker zur Gewaltanwendung geführt werden. Die staatliche Autorität ist gesunken und gleichzeitig die Möglichkeit gestiegen, leicht Waffen zu erwerben, um eigene Ziele durchzusetzen.

dieFurche: Hat Pazifismus dann noch eine Chance?

Gasteyger: Die Aufgaben, mit denen es wir heute zu tun haben, um Sicherheit, Frieden, Ordnung und Stabilität zu erreichen, richten sich nicht nur und nicht immer in erster Linie auf direkte Gewaltanwendung, geschweige denn auf große Kriege. Sie richten sich auf Fragen, wie eine Gesellschaft überleben kann, die außerordentlich verletzlich geworden ist hinsichtlich technologischer Katastrophen, hinsichtlich Massenmigration, Drogenhandel, organisiertem Verbrechen oder sozialer Unsicherheit und Arbeitslosigkeit. Das sind meines Erachtens die großen Themen. Die Fragestellung scheint mir nicht mehr diejenige des Pazifismus zu sein: Wie verhindere ich Gewaltanwendung?, sondern sie ist viel weitreichender, viel tiefer.

dieFurche: Die Forderung nach Abschaffung der Heere ist zu vergessen?

Gasteyger: Das ist eine offene Frage. Internationale Kriege «oder interne Bürgerkriege bleiben eine Möglichkeit, sehr oft werden sie auch zur Realität. Bei inneren Bürgerkriegen greift der Pazifismus nur schwer, weil die Wurzeln dieser Gewaltanwendung ganz anders liegen als bei der geplan ten Aggressivität einer staatlich kon trollierten Militärmacht.

dieFurche: Pazifisten fordern, daß man schon viel früher ansetzen muß, um Gewalt zu verhindern

Gasteyger: Man kann nicht genug tun, um Menschen zu friedlichem Verhalten, zu Dialog, zu Abscheu ge gen Gewaltanwendung in jeder Form zu erziehen und das entsprechende Bewußtsein zu entwickeln. Das bleibt eine dauerhafte Aufgabe der Eltern, Lehrer und der Massenmedien. Das möchte ich nicht nur auf den Pazifismus begrenzen. Allerdings muß uns bewußt werden, daß es auch eine andere Einstellung zur Gewaltanwendung gibt. In nichtchristlichen Ländern, wie zum Beispiel im Bereich des Islam, ist das Verhältnis zur Gewaltanwendung und zur Machtausübung in vielen Bereichen ein ganz anderes. Das mag eine Entwicklungsphase sein, aber jedenfalls muß man diesen Unterschied zur Kenntnis nehmen.

Mit dem Schweiler

Sicherheitsexperten Curt Gasteyger sprach Franz Gansrigier.

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