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Hellmut Butterwecks journalistisch großartige "Entmystifizierung" der Nürnberger Prozesse (oben). Die Gespräche von Gefängnispsychiater Goldensohn mit den Nürnberger Kriegsverbrechern liegen jetzt auf Deutsch vor und geben einen ernüchternden Einblick in die "Denk-Lage" der Angeklagten (unten).

Sechzig Jahre sind es in diesen Tagen auch, dass der Nürnberger Prozess gegen die "Hauptkriegsverbrecher" des ns-Regimes begonnen hat. Nun ist an Literatur zur durchaus umstrittenen ersten juristischen Groß-Aufarbeitung des Dritten Reichs kein Mangel, manchmal gibt es neues historisches Material (vgl. die Protokolle des Gefängnis-Psychiaters Goldensohn, unten), das in Buchform erscheint.

Dennoch ist eine Neuerscheinung, eine journalistische Neuaufrollung der Geschehnisse zwischen dem 20. November 1945 und dem 1. Oktober 1946 mehr als lesenwert: Hellmut Butterweck, jahrzehntelang Redakteur der Furche, ist mit dem im Czernin-Verlag aufgelegten "Der Nürnberger Prozess - Eine Entmystifizierung" ein großer Wurf gelungen.

(Vor-)Urteile entkräftet

Was Butterweck auf fast 450 (durch zu kleinen Druck wenig lesefreundlichen) Seiten zu entmystifizieren sucht, sind festgefahrene (Vor-)Urteile über den Nürnberger Prozess, die sich seit Jahrzehnten in den Hinterköpfen der Historiker, Juristen und interessierten Zeitgenossen festgesetzt haben: Der Prozess habe auf eigens für ihn formulierten Rechtsprinzipien beruht, und sei daher problematisch, weil dieses Recht rückwirkend auf die Verbrechen der ns-Größen angewendet wurde - so ähnlich lautete einer der Hauptvorwürfe gegen das juristische Prozedere.

Mehr Straf- statt Politprozess

Es ist faszinierend, dass es Butterweck demgegenüber gelingt - bei gleichzeitiger Offenlegung der Schwächen des Verfahrens - aufzuzeigen, wie sehr aus einem politischen Prozess, als der das Nürnberger Verfahren durchaus konzipiert war, ein Strafprozess gegen "gewöhnliche" Kriminelle wurde, sodass bei den zwölf Todesurteilen, sieben Haftstrafen und drei Freisprüchen am Ende die individuellen Mordanklagen viel mehr den Ausschlag gaben als die "politischen" Delikte wie das Führen eines Angriffskriegs.

Plastisch dargestellt wird, wie schwierig es war, die unterschiedlichen Rechtssysteme der usa und Großbritanniens, dann Frankreich und Deutschlands sowie der Sowjetunion auf einen Nenner zu bringen. Dass die deutschen Verteidiger der Angeklagten etwa keine Ahnung von der angelsächsischen Prozess-Säule des "Kreuzverhörs" hatten (was heute jedem halbwegs us-Fernsehserien-Kundigen einen Lacher kosten würde), macht Butterweck seinen Lesern plausibel. Auch die Eitelkeiten, Animositäten und Details der Ankläger und Richter baut der Autor vor seinen Lesern nachvollziehbar auf. Wie sehr sich der amerikanische Chef-Ankläger Jackson in seine Emotionen verrannte, wie der britische Lordrichter Lawrence den Prozess in juristisch kaum angreifbare Bahnen lenkte, wie die rabiaten Rechts-Begehrlichkeiten der Sowjets abgebogen wurden: all dem spürt Butterweck penibel und dennoch kurzweilig geschrieben nach.

Altmodisch eingefangen

Im Zeitalter der elektronischen Bilderflut-Dokumentationen (und die gibt es zum Nürnberger Prozess ja von der Wochenschauberichten an zuhauf) die Prozessatmosphäre durch ein altmodisches Medium wie ein Buch plastisch werden zu lassen, kann kaum genug gewürdigt werden. Nicht nur die Stimmungen auf den Anklägerbänken oder bei den Richterstühlen fängt Butterweck ein, auch die Angeklagten kommen zu Wort und erstehen in ihrer Monstrosität und kleinbürgerlicher Banalität, die bei den ns-Kriegsverbrechern ja erstmals so offensichtlich zu Tage traten. Dazu kommt auch die Kunst des Journalisten, dem Leser nicht allzuviel Vorwissen zuzumuten.

Who's Who in Nürnberg

Butterweck ist ein Könner seiner Profession und porträtiert jeden wesentlichen Protagonisten des Verfahrens. Insbesondere die Angeklagten werden in 19 Kurzkapiteln (einem "Who's Who" von Karl Dönitz, dem Nachfolger Hitlers nach dessen Selbstmord, bis zu Stürmer-Chef Julius Streicher) in ihren Lebensdaten und (Un-)taten dargestellt. Die gleiche Methode wendet Butterweck gegen Ende des Buches an, wenn er die Urteile Angeklagten für Angeklagten ausführt.

Dazwischen liegen - auch wenn das Thema eigentlich nicht zulässt, es so zu charakterisieren - spannende Episoden, wie sich die Kämpfe zwischen Anklägern und Angeklagten und ihren Verteidigern entwickeln, moderiert vom Lordrichter und seinen Kollegen. (Man sieht hier deutlich, wie stark das angloamerikanische Prozess-"Spiel" das Verfahren in diesem Punkt bestimmt.)

Die Darstellung, wie Hermann Göring seine unverfrorene Strategie bis zum legendären Kreuzverhör, das seinen letzten - für sein Leben aber vergeblichen - Großauftritt auf der Weltbühne darstellt, anlegt, oder wie sich Albert Speer durchschwindelt und am Ende nicht zu den zum Strang Verurteilten gehört, macht dem historischen Journalisten (oder journalistischen Historiker?) Butterweck so schnell keiner nach.

Ein Buch, das sich Leser um Leser verdient hätte; schade, dass bislang - von ein paar Zeilen in der Zeit abgesehen - das deutsche Feuilleton gar nicht, das österreichische von dieser zeitgeschichtlichen Darstellungs-Großtat so wenig Notiz genommen hat. Otto Friedrich

DER NÜRNBERGER PROZESS

Eine Entmystifizierung

Von Hellmut Butterweck

Czernin Verlag, Wien, 2005

448 Seiten, geb., e 27,-

Was waren das für Menschen? Die, die den Mord an sechs Millionen Juden befahlen, organisierten, überwachten und durchführten. Was waren das für Menschen, die tagsüber Massenmörder und am Abend oder in ihrer Freizeit liebende Familienväter und Ehemänner waren? Kategorien wie Verbrecher oder Mörder erscheinen angesichts des Ausmaßes des Holocaust als völlig ungeeignet, um Männer wie Hermann Göring, Ernst Kaltenbrunner oder Joachim von Ribbentrop (drei der Hauptkriegsverbrecher der Nürnberger Prozesse) zu beschreiben. Diese Männer müssen krank gewesen sein, gestört, müssen pathologische Sadisten, vielleicht sogar Monster gewesen sein.

Der Kriegsverbrecher Seelen

Liest man die Aufzeichnungen des amerikanischen Gerichtspsychiaters Leon Goldensohn, der über sechs Monate Gespräche mit 19 Hauptkriegsverbrechern oder Zeugen wie Rudolf Höß führte, so entdeckt man das Gegenteil: die von Hannah Arendt bereits 1963 beschriebene "Banalität des Bösen". Diese Männer waren keine Monster - zumindest nicht in dem Sinne, dass auf sie normale gesellschaftliche Normen oder Kategorien keine Anwendung finden würden. Auf die von Goldensohn interviewten Männer trifft der gleiche Schluss zu, zu dem der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Buch "Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden" kommt: dass "die weit überwiegende Mehrheit der Täterinnen und Täter psychologisch exakt jenem Bild entspricht, das wir uns selbst zuschreiben würden: normal' zu sein".

Vier Jahrzehnte nach dem Tod von Goldensohn liegen seine Aufzeichnungen nun erstmals der Öffentlichkeit vor. Der Psychiater, der im Auftrag der amerikanischen Armee während der Nürnberger Prozesse den seelischen Zustand der Hauptangeklagten kontrollieren sollte, hat aus langen Gesprächen schlaglichtartige Porträts in Frage- und Antwort-Form gemacht. Was keine ganz leichte Aufgabe für den Mediziner war, sahen die Inhaftierten in den Visiten doch vor allem eine weitere Chance zur Verteidigung. Sie redeten buchstäblich um ihr Leben, zwölf von ihnen vergeblich.

Ums Leben geredet

Nicht nur darum sind die Aufzeichnungen von Goldensohn keine leichte Kost. Es finden sich aussagen wie: "Ich empfand nie Hass gegen die Juden. Mit ist klar, dass das dumm klingt - dass schwer zu verstehen ist, wie jemand, der antisemitische Reden hielt und als Nummer zwei in einem Regime mitarbeitete, das fünf Millionen Juden vernichtete, sagen kann, er sei kein Antisemit gewesen. Aber es ist wahr." Wer das gesagt hat, war niemand geringeres als Hermann Göring, ehemals Reichsmarschall des Großdeutschen Reichs. Und Joachim von Ribbentrop, Außenminister des Dritten Reichs, sprach sich gänzlich von jeder Verantwortung frei: "Ich stand unter Hitlers Bann, das kann man nicht leugnen. Ich war von ihm seit unserer allerersten Begegnung im Jahre 1932 tief beeindruckt. Er hatte eine hypnotische Kraft, vor allem in den Augen. Jetzt beschuldigt uns das Tribunal der Verschwörung. Ich frage Sie: Wie kann es in einer Diktatur eine Verschwörung geben? Ein Mann und nur einer trifft alle wesentlichen Entscheidungen. Das war der Führer."

Interessant an den Aussagen dieser Männer ist dabei weniger, dass sie im Kleinreden der eigenen Verantwortung groß waren. Interessant ist, dass sie ihre Beteiligung am Holocaust - wenn sie sie denn überhaupt einräumten -, in ein System aus Pflicht, Gehorsam und historischer Notwendigkeit einbetteten. Was, wie Welzer in seinem Buch argumentiert, ein typisches Reaktionsmuster von Massenmördern sei. Die meisten Täter, seien dazu fähig, "sich selbst als Opfer einer Aufgabe wahrzunehmen, die ihnen die historischen Umstände zu diktieren scheinen", schreibt er.

Dass es sich - nicht nur im Fall des Dritten Reiches - dabei um eine nur fiktive Begründung handelt, spielt keine Rolle. Wichtig sei lediglich, dass man eine radikale Trennung zwischen zwei Personengruppen herstellen könne: Juden versus "Arier", oder Hutu versus Tutsi. Das Erschreckende dabei ist, dass sich solche Differenzen durch Propaganda und die Praxis alltäglicher Ausgrenzung schnell und leicht aufbauen lassen. Was gerade auch die ethnischen Säuberungen in Jugoslawien gezeigt haben.

Ganz normale Menschen

Die Aufzeichnungen von Goldensohn zeigen, vor allem wenn man sie zusammen mit dem Buch von Welzer liest, dass in Nürnberg nicht über pathologischen Sadisten zu Gericht gesessen wurde, sondern über ganz normale Menschen. Menschen, die, wie der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß, über nervöse Beschwerden klagte: "Ich hatte viel zu tun. Die Vernichtung war ja nur ein kleiner Teil meiner Arbeit." Andreas Bock

Die Nürnberger Interviews Gespräche mit Angeklagten und Zeugen

Von Leon Goldensohn, herausgegeben und eingeleitet von Robert Gellately

Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2005, 458 Seiten, geb., e 30,80

Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.

Von Harald Welzer

Verlag S. Fischer, Frankfurt/M. 2005, 336 Seiten, geb. e 20,50

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