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„Herr Doktor, in der Zeitung steht… “

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Es ist nahezu neunzehn Uhr in der Ordination. Eine Stunde später als üblich ging der letzte Patient. Der Herr Doktor, der im Behandlungsraum vor mir sitzt, schiebt einen Stoß von Krankenscheinen nach links und zündet sich eine Zigarette an. Die erste des langen Nachmittags, und er nimmt für eine Weile die Brille von den Augen. Er denkt sorgfältig über die gestellte Frage nach, ob die Zeitung, sowohl die Tagespresse als auch die Wochenpresse, die sich mehr allgemeinen Fragen widmen kann, für die ärztliche Tätigkeit von Einfluß sei, und wenn ja, welche Art diese Wechselwirkung annehme.

„Gerade der vorletzte Patient, der heute bei mir war, hat mich wieder einmal sehr überrascht. Sehen Sie, es kommt immer wieder bei uns wie auch in der Apotheke vor, daß ein Kranker, verblüffend geladen mit Wissen über allerlei Aerztliches, natürlich auch über die Medikamente, sogleich nach der gestellten Diagnose loslegt; daß er, wenn eine Diagnose noch nicht eindeutig möglich’ ist, an Hand seiner Selbstbeobachtung (und Kranke beobachten sich mit unerhörter Ausdauer) eine Amateurdiagnose stellt. Und sehr oft kommt der Satz, der mich immer so nachdenklich macht: „Aber Herr Doktor, in der Zeitung steht, daß …” und dann kommt ein Gemisch von Tatsächlichkeit und psychologisch begreiflicher Umdeutung zum Vorschein, in dem man sich erst zurechtfinden muß. Ja, gewiß! Die Presse hat für uns Aerzte eine ganz unglaubliche Wichtigkeit, und es scheint mir, dieser Einfluß ist seit der Differenzierung in der Pharmakologie und in den verschiedenen Heilerfolgen, die ihr oft ganz überraschend zu verdanken sind, noch gewachsen. Gewachsen aber, das meine ich, ist auch die Größe der Verantwortung. Wir haben gelegentlich des Kampfes gegen den Medikamentenmißbrauch deutlich erfahren, was sinnvolle Aufklärung in der Presse vermag. Wir erleben freilich tagtäglich, hauptsächlich in den Illustrierten, ‘eine Fülle von Reportagen, die zu sehr verallgemeinern, und, leider, im Anzeigenteil auch.die Reklame für neue Wundermittel. Hier sich einen fachlichen Ratschlag zu holen, wäre meiner Meinung nach für den Journalisten geboten.”

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Das waren die Worte des Arztes draußen im fünfzehnten Bezirk. Seine Patienten setzen sich gleicherweise aus Arbeitern und Angestellten zusammen. Ein Teil von ihnen gab ohne weiteres zu, sich in der Freizeit mit der Lektüre populärmedizinischer Bücher zu befassen. Ein Arzt im Nordosten des Stadtgebietes erhielt sogar zu einer „Unterrichtung” von einem Patienten eine Sammlung von Zeitungsausschnitten. Das Interesse der Oeffentlichkeit an medizinischen Fragen ist also — auch unabhängig von akuten Krankheitsfällen — überaus rege.

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Das Symposion der Pressestelle der Oester- reichischen Aerztekammer am Ende der ersten Oktoberwoche in Wien unter dem Titel „Arzt und öffentliche Meinung”, auf dem an zwei Tagen weit über zwei Dutzend Referate gehalten wurden, war also fällig. Themen wie: „Gesundheitspolitik in der Presse”, „Der Patient liest Zeitung”, „Die Mitarbeit und das Interview des Arztes in einer Tageszeitung” (allein das hätte einen Tag Diskussion und mehr gefüllt), „Der Informationsdienst der pharmazeutischen Industrie”, „Das ärztliche Problem im Fernsehen” (und im Rundfunk), „Welche Rolle spielt der Arzt als Filmfigur” haben die Fülle der aktuellen Fragen beleuchtet. Es ist nicht Sache einer Tagung, die Probleme zu lösen, sondern An-regungen zu geben — und an solchen hat es wirklich nicht gefehlt.

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Nach einer statistischen Erhebung des Instituts für Zeitungswissenschaft der Universität Wien im Jahre 1954 sind 66,6 Prozent regelmäßige, 25,4 Prozent gelegentliche Zeitungsleser (Tagespresse); bei der Wochenpresse liegt das Verhältnis 37,8 regelmäßigen zu 30,6 Prozent gelegentlichen Lesern. 29,8 Prozent dieser glauben dem nichtpolitischen Abschnitt ganz, 61,3 Prozent zum Teil. Beim II. Kongreß der „Union Internationale de la Presse Medicale” 1956 in Paris vertrat Prof. Dr. Henri Pequignot die Meinung: Man muß die Bevölkerung in medizinischen Fragen unterrichten, teils, weil man nicht anders kann, teils, weil es bestimmte Vorteile hat. Und hier schon taucht ein markanter Punkt auf: Diese Aufgabe wird als sehr schwierig erkannt, weil eine schlechte (sachlich oder tendenziös aufgemachte) Meldung eher gelesen wird als eine seriöse. Hier muß eingeschaltet werden: Seriosität darf nicht mit Langeweile oder Unverständlichkeit gleichgesetzt bleiben.

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Demnach erwächst einer ärztlichen Pressestelle — auch bei uns — eine ganz besondere Aufgabe. Bedenken wir dabei nur, daß nach der Umfrage eines Meinungsinstitifts mehr als die Hälfte befragter Chirurgen eine populärwissenschaftliche Krebspublizistik grundsätzlich ablehnt. Eine Pressestelle kann demnach schwerlich gegen den Wind reden. Aber sie kann eine mittlere Linie suchen, und sie wird diese um so eher finden, je stetiger (und nicht nur bei sozialpolitischen Streitfällen) die Zusammenarbeit einer Pressestelle, die ihrerseits den Aerzten gewisse Unterlagen (für Interviews beispielsweise) zur Verfügung stellt, mit den Journalisten sich gestaltet. Im dauernden Verkehr mit den einzelnen Persönlichkeiten ergibt sich von selbst, die Einschätzung der Seriosität des Berichtenden.

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Eine geplante Lösung des Problems der Beziehungen zwischen Arzt und Presse sieht unter anderem vor: Zur Information der Zeitungen wird ein Informationsdienst erscheinen; Einführung eines Auskunftsdienstes für medizinisch-wissenschaftliche Fragen, wie sich ein solcher in Frankreich bereits bewährt hat; Ungebundenheit des Journalisten nach der individuellen Berichterstattung hin; journalistisch ausgebildete Aerzte oder ärztlich gut unterrichtete Journalisten verfassen die einschlägigen Artikel, Dazu wäre noch zu erwägen, ob nicht regelmäßige Vorträge (auch mit Lichtbildern) für die Männer der Presse eingerichtet werden könnten. Bei besonderen aktuellen Anlässen — man denke nur an die jetzige Grippewelle — müßten außerordentliche, unterrichtende Zusammenkünfte arrangiert werden. Hier, wie auf allen Gebieten der Beziehungen zwischen Arzt und Presse, die im allgemeinen gut sind, liegt die Möglichkeit vor, auch publizistisch zu heilen; unnötige Beunruhigung der Oeffentlichkeit, die ohnehin mit politischen Dingen bombardiert wird, fernzuhalten. Sachlichkeit, Anschaulichkeit, Verständlichkeit: auf die Dauer werden sich Informationen in diesem Geiste besser „verkaufen” lassen als farbig schillernde Luftballons, die der nächstbeste Wind verträgt.

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