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Herr X geht durch die Stadt

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WENN ES AN DER TÜR LÄUTET, muß es nicht unbedingt der Briefträger sein, der Beamte für die Ablesung der Gas- und Stromzähler oder jener der Post, den die Telephonuhr interessiert. Auch die Polizei muß es nicht sein oder ein Vertreter für Lesezirkel oder Staubsauger. Es kann ein freundlicher jüngerer Herr sein, der sich entsprechend ausweist und — im Gegensatz zu den obgenannten Türgästen — auch entgegenkommender Begrüßung sicher ist. Dieser Herr X, der durch die Stadt geht, der durch Oesterreich reist, ist ein Abgesandter des Instituts für Markt- und Meinungsforschung in Wien, das in seinem Büro sechzehn Angestellte und im Außendienst rund hundert Interviewer beschäftigt. Die Gesamtleitung hat Dr. Walter Fessel, dem ich eben jetzt im Büro in der Tein-faltstraße gegenübersitze. Es gibt natürlich noch einen Leiter der Interviewerabteilung, einen Fachmann, der mit dem „Sampling“ (vom englischen Wort „sample“, soviel wie „Probe“ oder „Muster“) zu tun hat, eine Stelle für die Auswertung und, wie überall, wo es um die Zusammenstellung und Auswertung vielseitiger Daten geht, auch eine Hollerithabteilung. Das also sind die Aerzte, welcher der öffentlichen Meinung den Puls fühlen, mit einem Fremdwort, das erst verhältnismäßig kurze Zeit durch die Spalten der Zeitungen geht, als „Demoskopen“ bezeichnet.

DEMOSKOPIE — ein aus.dem Griechischen stammendes Wort, soviel wie „Volksbescb.au“ — wurde 1946 auf der Internationalen Tagung der Amerikanischen Gesellschaft für Meinungsforschung für die Umfrageforschung vorgeschlagen. Institute, die sich dieser Aufgabe widmen, gibt es in der Welt viele, sie sind fast immer private Unternehmen (nur in England gibt es ein staatliches, auch in den Vereinigten Staaten ein solches, das freilich nicht viel von sich hören läßt). „Warum privat?“ fragt man, wissend, daß sich staatliche Institutionen gerne eines solchen Betriebes bedienen. In Oesterreich wäre eine staatliche Einrichtung dieser Art zwangsläufig dem Mißtrauen weiter Bevölkerungskreise ausgesetzt. Man würde sich sofort fragen: „Wem nützt das?“ Oder man würde unweigerlich Vermutungen aufstellen, ob etwa das Finanzamt hinter der einen, die Sozialversicherung hinter der anderen Frage stecke. Man würde außerdem argwöhnen, daß die staatliche Organisation, zu Parteizwecken mißbraucht werden könne. Es soll aber jeder unbefangen seine Meinung sagen, die Gewißheit haben, daß die Äußerungen niemandem Nachteile bringt und der Name des Befragten nicht in die Oeffentlichkeit gerät. Man stelle sich bloß vor, was die vorgesetzten Instanzen bei einer Befragung über Verkehrstarife sagen würden, läsen sie die Meinung des Weichenstellers Y, der sich etwa einfallen ließ, den Dienstweg zu überspringen. - • . ■ -■ • “. * ifSvW„.

VON DER MARKTFORSCHUNG lebt die Demoskopie. Es ist für eine Firma wichtig zu wissen, wie man besser verkauft oder warum man plötzlich schlechteren Absatz verzeichnen muß. Die Meinungsbildung dagegen findet bei den politischen Organisationen oder den verschiedenen Kammern erhebliches Interesse, und im allgemeinen werden die Resultate diesen Stellen auftragsgemäß übergeben und können nicht veröffentlicht werden. Neben den wirtschaftlichen und politischen Faktoren, die sich an einer Befragung engagieren, die übrigens streng unparteilich durchgeführt wird, gibt es auch Untersuchungen ohne Auftrag. Wir fragen an dieser Stelle natürlich gleich, ob ein Markt-und Meinungsforschungsinstitut in der Lage ist, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und hören, daß dies keineswegs der Zweck der Befragung ist oder sein soll. Es liegt freilich auf der Hand, daß die Publikation solcher Umfragen in der Presse einer Beeinflussung gleichkommt. Aber doch eigentlich durch die Art und Weise, wie die Mitteilung pressetechnisch gebracht wird. Es ist überaus interessant, eine feststehende Tatsache beispielsweise durch die Schriftgröße, die Schriftart, fette Lettern oder Sperrung* Einrückung — oder Weglassung von Textteilen — verändert, genau gesagt, stimmungsmäßig variiert zu sehen. Das ist freilich genau die Vorgangsweise, die mit Agenturmeldungen ihr „aufmachungsgemäßes“ Spiel treibt. Wir hören von den Mitarbeitern des Instituts indes, daß sich die Bevölkerung auch durch die Aufmachung nicht täuschen läßt und überraschend instinktsicher zum Kern der behandelten Frage vorstößt.

DER ZWECK EINER BEFRAGUNG ist ein rein wissenschaftlicher. Man will Interesse für dieses Fachgebiet mit so starkem soziologischem Einschlag wachrufen, man möchte die Bevölkerung aufklären, wozu die Umfrage gut ist, und anderseits dem Auftraggeber zeigen, ob er sich auf richtigem oder falschem Weg befindet. Auf den wirtschaftlichen Sektor angewendet, vermag dies unnötige Investitionen und damit zweckentfremdete Kredite zu vermeiden, welche den Kapitalmarkt belasten, und zuletzt Fehlleitungen des Volksvermögens aufzuhalten. Auf politischem Gebiet — sofern die Auftraggeber ernstlich gewillt sind, aus den Ergebnissen der Umfrage zu lernen — hängt von der zuverlässigen Befragung das soziale Klima ab. Ja — und nun frage ich vorwitzig, wo denn zwischen der Wirtschaft und der Politik eigentlich die Kultur bleibe? Ich werfe die Möglichkeit in die Debatte, ich wäre ein Theaterdirektor und wollte wissen, ob man Boulevardkomödien oder literarisches Theater, ob man Avandgardist sein oder sich retrospektiv verhalten solle. Und was die Umfrage kosten würde? Der Leiter des Instituts konstatiert anerkennend, daß ich mehr Geld für eine Befragung auf rein kulturellem Gebiet aufwenden möchte, als das allgemein heute die zuständigen Faktoren tun. Nun: je kleiner der Kreis der zu Befragenden ist, und im wesentlichen schränkt sich diese Theaterfrage j auf eine städtische Schicht ein, desto kostspieliger kommt die Neugier. Man muß bedenken, daß in diesem Falle es sich um eine wenig fluktuierende Masse handelt und daß die Einbeziehung jener Kreise, die dem Kulturleben fernstehen, sowie jener Menschen, die man gewinnen will, eine Menge von „Fehlbefragungen“ verursachen muß. Um möglichst objektiv zu sein, heißt es also, nicht bloß den Abonnenten der philharmonischen Konzerte und den Stammplatzinhaber der Burg zu interviewen, sondern auch draußen in den Randgebieten der Stadt den Schrebergärtner, den Bewohner einer Zinskaserne, der zweimal wöchentlich ins Kino geht, die Hausbesorgerin, den Arbeiter am Kolonia-kübel, die berufstätige Hausfrau — und so fort. Unter hunderttausend Schilling dürfte* die Sache kaum zu machen sein. Bedenken wir nur: Es gibt Fälle, wo der Befrager nicht zwei- oder drei-, sondern bis zu fünfmal kommen muß, um den Gesuchten anzutreffen. -*

WIE IST DIE ORGANISATORISCHE ANLAGE einer Befragung? Der Leiter des Instituts weist auf die große Karte der Republik zu seiner linken Hand. „Es sind Zellen nach streng mathematischen Grundsätzen und langen Ueber-legungen vorgesehen. Innerhalb dieser Zellen werden Orte ausgelost. In den Orten wieder — wo Einwohnerverzeichnisse und ähnliche Hilfsmittel zur Genüge vorhanden sind — werden Adressen gezogen. Zu diesen namentlich und berufsmäßig genau Bekannten kommt der Befrager. Die Interviews werden im nachhinein natürlich mit den verschiedenen Angaben der Bevölkerungsstatistik verglichen. Stimmt der Vergleich, dann kann man sagen, daß man gut liegt.“ Ob diese Befragungen überall stattfänden, auf der Straße, in Wartesälen, auf Verkehrsmitteln, wollen wir wissen und entsinnen uns gewisser Interviews von Rundfunkreportern. Und wir hören, daß die Befragungen fast ausschließlich in den Wohnungen abgehalten werden — es sei denn, es handle sich um ganz bestimmte, eng umgrenzte Sonderprobleme. Das Interview, eine wissenschaftliche Arbeit, sich von einem Zeitungsinterview vielfältig unterscheidend, ist eine der tragenden Säulen der Arbeit. Sie erfolgt an Hand eines Fragebogens und gewährt dadurch vergleichbare Resultate, die vor Simplifizierung bewahren.

WIE VERHÄLT SICH DIE BEVÖLKERUNG zur Befragung? Ist sie mißtrauisch? Als Antwort werden uns die Statistiken der einzelnen Umfragen vorgelegt. Wir ersehen daraus, daß die Rubrik „Keine Meinung“ oder die Formulierung „Keine Antwort“ immer, oder fast immer, am Ende der Tabellen steht. „Man fühlt sich oft geradezu geschmeichelt, wenn man um seine Meinung gefragt wird“, erklärt der Leitet des Instituts, das man übrigens nicht mit dem Namen „Gallup“ verbinden soll. In der Tatsache einer freien Meinungsäußerung liegt die kaum zu unterschätzende Bedeutung individueller Stellungnahme, ein psychologisches und soziologisches Ventil inmitten einer Welt der Vermassung.

„WELCHE THEMEN GAB ES?“ fragen wir weiter. Uns wird eine mehrseitige, umfangreiche Liste überreicht;' Wir staunen bei der Lektüre über das Fingerspitzengefühl für diskussionsreife Fragen. Wir erleben den Wellenschlag wirtschaftlicher, politischer und zuweilen wenigstens auch kultureller Geschichte: Wiener Straßenbahnfahrpreise, Ausgabe von Volksaktien, das Schicksal der ungarischen Flüchtlinge, die Frage der Verstaatlichung der USIA-Betriebe, die Formulierung des Neutralitätsbegriffes und seine Einschätzung durch die Bevölkerung, das Problem der konfessionellen Schulen, die Ansicht der Nicht-Wiener über die BundeshauptStadt (nebstbei: 61 Prozent der Nicht-Wiener waren im Wurstelprater, dagegen nur 22 Prozent bei einer Opernaufführung), die Frage, ob der, welcher photographiert, wirklich mehr vom Leben hat, wie der Werbeslogan sagt, der Begriff von „Freiheit“ — und so fort. Zum Schluß eine kleine Probe vom „Kunstkartentest“. Bei einem repräsentativen Querschnitt der österreichischen Bevölkerung wurden fünf Karten vorgelegt, auf denen der Name des Künstlers und die Bezeichnung des Themas unkenntlich gemacht worden waren. Die Karten zeigtent 1. Waldmüllers „Praterbäume“, 2. Ruisdaels „Der große Wald“, 3. Monets „Der Sommer“, 4. Münchs „Winternacht“ und 5. von Klee „Vollmond“. Die Frage lautete: „Ich habe hier fünf Kunstkarten, die nach Originalbildern gedruckt wurden. Wenn Sie sich eines dieser Bilder in Originalgröße als Geschenk aussuchen könnten, für welches würden Sie sich entscheiden?“ Mit der Bezeichnung: „Es gefällt mir am besten“ erzielte Waldmüller 45 Prozent, dann folgte Ruisdael mit 39, Monet mit 13, Münch mit einem Prozent, und bei Klee sagten 72 Prozent, er gefalle ihnen am wenigsten.

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