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Heute wie vor einem Jahr

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Der erste Jahrestag der ungarischen Oktoberrevolution fällt in eine Zeit, die für historische Gedenkstunden aus mehr als einem Grund ungünstig ist. Dieser schmerzhaft einsam dastehende Gedenktag trifft heute auf eine Menschheit, die, vertreten durch einige Wissenschaftler, die bisherigen Grenzen ihrer Welt gesprengt hat und damit gleichsam auch von ihrer bisherigen Geschichte und ihrem Selbstbegreifen ein gutes Stück abgerückt zu sein scheint. Anderseits — während der „Sputnik”, der sowjetische Satellit, die Erde in diesen letzten zwei Wochen mehr als 250mal umflogen und dabei mehr als 10 Millionen Kilometer We£ zurückgelegt hat — bereitet sich das Volk der Sowjetunion auf den 40. Jahrestag einet anderen Oktoberrevolution vor, die im Lichte der seither abgelaufenen vierzig Jahre und auch im Urteil zahlreicher Kommunisten heute zum geschichtlichen Vorgestern gerechnet wird.

Ereilte auch die ungarische Revolution bereits in diesem einen Jahr dasselbe Schicksal, oder hat sie den Menschen Europas und deri mm er kleiner werdenden Welt heute noch etwas zu sagen?

Es waren die Akteure dieser Revolution selbst, die bei ihrer Demonstration am 23. Oktober auf historische Vorbilder zurückgriffen und durch ihre patriotischen Handlungen den Geist der Geschichte heraufbeschworen, der in ihrem Volk ja besonders lebendig erhalten geblieben war. Diese und das Pathos jener Stunden und Tage, der Gefühlsüberschwang und die große Spontaneität, die für vieles, was vor einem Jahr geschah, kennzeichnend waren, bereiteten vielen Konformisten in Ost und West, den „Technikern”, vor allem den Technikern der Macht, ihren Anbetern und Nachahmern, arge Verlegenheit. Und es wäre aufschlußreich, zu wissen, ob es mehr Menschen im Osten oder im Westen waren, die diese heißen Budapester Tage alles in allem für eine Fehlleistung hielten, die besser vergessen werden sollte.

Als die Kommunisten diesen elementaren Gefühlsausbruch, der sich jeder Lenkung und Kontrolle entzog, erlebten, begannen sie von „Agenturen der Imperialisten” als von den Initiatoren des „konterrevolutionären Putschversuchs” zu sprechen. Sie, die ihre Revolutionen nur als von klugen Verschwörern von langer Hand vorbereitete Aktionen darzustellen wagen, konnten es erst recht nicht zugeben, daß diese Revolution in einfachen Menschenherzen geboren wurde. Und gerade darin besteht ihre eigentliche Bedeutung.

Es ist bekannt, daß die Voraussetzung für den Auftakt und das mögliche Gelingen des Budapester Oktoberaufstandes der 20. Moskauer Parteikongreß schuf, bei dem, im Februar 1956. die höchsten Führer der Sowjetunion das System der Produktionsnormen, der Wirtschaftsplanung und die politische Arbeit scharf kritisierten, für alle Fehler den toten Diktator als Verantwortlichen hinstellten und selbstgesteuerte innere Verbesserungen bei gleichbleibendem System forderten. So hätten die Aenderungen des Jahres 1956 auch in Ungarn früher oder später zur Rückkehr des „Leninisten” Imre Nagy an die Regierung geführt und Moskau wäre, soweit man den Berichten über die internen Diskussionen im Kreml Glauben schenken kann, mit einer nationalkommunistischen Lösung unter Imre Nagy einverstanden gewesen. Somit waren es eine Handvoll Politiker, die all die Reformen ankündigten, Schuldige von ihren Posten entfernten und einen vorsichtigen Umbau des kommunistischen Systems einleiteten. Polen verhalfen glückliche Umstände und vielleicht eine andere historische und gesellschaftliche Entwicklung dazu, daß es dort bisher dabei blieb. Erst kürzlich ließ Parteisekretär Gomulka kommunistische Publizisten in den Parteiorganen scharf tadeln, weil diese die Durchsetzung des Kommunismus mit „humanitären und moralischen Prinzipien” förderten. Das Verbot der Zeitung „Po Prostu” zeigt ebenfalls, daß Gomulka seinen Kurs nicht durch „Kräfte von unten” gefährden lassen will, gefährden lassen darf. Diese vorläufige Endphase des „polnischen Oktober” nimmt jedoch nichts von seiner politischen Bedeutung, aber als eine Lehre von weithin leuchtender Sichtbarkeit war der ungarische Oktober wirksamer, denn hier waren die kommunistischen Politiker, wie Imre Nagy und Janos Kadar (und auch alle anderen Politiker), von Anfang an die Getriebenen, die ihre Entscheidungen offensichtlich unter dem Zwang des revolutionären Volkswillens trafen. Dies gilt besonders auch für die Neutralitätserklärung und die Anrufung der Vereinten Nationen, wodurch Imre Nagy als Antwort auf die militärische Intervention der Sowjetunion gegen ein Grundprinzip aller kommunistischen Parteien der Welt verstieß. Ein solcher Fall war in der Geschichte des Kommunismus noch niemals vorgekommen. Dies erschien Milovan Djilas als ein „neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit”, denn da wurde „das Problem der Freiheit im Kommunismus auf die Tagesordnung gesetzt — das heißt, die Ersetzung des kommunistischen Systems selbst durch ein neues soziales System”.

Wodurch kam dieser „dialektische Sprung” — wie der dialektische Materialismus den Liebergang von der Evolution in die Revolution nennt — zustande?

Der bekannte Publizist Robert Jungk schreibt in seinem Vorwort zu einem soeben erschienenen Buch über die ungarische Revolution („Tagebuch eines ungarischen Studenten” beim Alfred-Scherz-Verlag, Bern): „Die ganze umständliche Maschinerie, die den Menschen unserer Tage allgegenwärtig einspannt, ist vorübergehend in Fortfall gekommen. Ein paar Zeitgenossen ohne Geld, ohne Waffen, ohne technische Apparatur beschließen, ihrem Gewissen zu folgen, und innerhalb weniger Tage gelingt es ihnen, Millionen marschieren zu machen.”

Diese Worte, die an die Erfahrung einer spontanen Aktion Budapester Studenten — einer Art Rütlischwur auf einer Wiese — anknüpfen, sind für die Zeitgenossen, die Geschichte und Politik irgendwie angehen — und dies trifft schließlich auf alle zu —, ein das Tagesgeschehen an Bedeutung weit überragender F ‘.nweis. Der moderne Mensch, der sich - -Tbst zu begreifen sucht, ist nur selten in der Lage, sein Verhältnis zur Umwelt, zur Masse klar zu erkennen. Das Menschentum im Massenzeitalter, wie dies Alfred Weber feststellt, schließt die Masse mit ein: und dies heißt, von dem alten Persönlichkeitsbewußtsein zu einem neuen, „wfrve’rbunde- nen” Persönlichkeitsbewußtsein zu gelangen. Das moderne Menschentum zu erfahren heißt demnach, erkennen, daß auch die Masse aus Individuen besteht.

Hier hilft uns die geschichtliche Erfahrung nicht weiter, denn die alten Schemata sind auf die neuen Begebenheiten nicht einfach anzuwenden. Es wäre lehrreich, den Weg des „neuen Menschentums” in allen seinen Erscheinungsformen, in die privaten und in die politischen, wie sie sich in Budapest im vergangenen Jahr offenbarten, zu verfolgen. Es würden sich dabei vermutlich historische und soziologische Eigenheiten — der durch Gefühle der Verlassenheit und der Angst diktierte Nationalismus der Ungarn etwa — und mit allen Völkern gemeinsame Merkmale — etwa in der Mentalität der Jugend, in ihrer Einstellung gegenüber Politik und Moral — scharf hervorheben. Die Herausarbeitung dieser Elemente sollte Aufgabe einer europäischen Geschichtsschreibung sein, die auch die Aufgaben einer politischen Pädagogik zu erfüllen hätte.

Im „Satellitenring” der Sowjetunion ist heute eine aus vielen Details erkennbare Konsolidierung im Gange. Vieles indessen, was von seiten einer aktiven Ostpolitik westlicher, hauptsächlich europäischer Regierungen in diesem Jahr hätte geschehen können, unterblieb, und Gelegenheiten gingen vorüber, ohne daß man es versucht hätte, auf die Ereignisse Einfluß zu nehmen. Und die Massen in Ungarn, vor einem Jahr brutal zum Verstummen gebracht, blieben weiter stumm. Das Versagen der Politiker ist dort vollkommen. Aber das Schweigen der Massen zu deuten, ist nach alldem nicht schwer: es ist die Sprache der im Stillen Hoffenden — des Menschen, der seine Persönlichkeit in einer neuen Wir- Verbundenheit wi edergefund en hat. Sie ist also, richtig verstanden, eine Freiheitsbotschaft — heute noch so wie vor einem Jahr.

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