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Hiroshima jeden Augenblick moglich

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Es ist von Physikern, Historikern und Publizisten in den letzten Jahren oft geäußert worden, das Atombombardement Hiroshimas sei in Wahrheit nicht der Schlußstrich unter den zweiten Weltkrieg, sondern die erste Kampfhandlung eines dritten Weltkrieges zwischen den damals noch offiziell verbündeten Amerikanern und Russen gewesen. Dokumentarisches Beweismaterial zur Unterstützung dieser vorläufig nur auf Indizien beruhenden Behauptung ist allerdings bis heute nie beigebracht worden. Sehr viel leichter läßt sich dagegen folgende andere Behauptung beweisen: Hiroshima war die erste verlorene Schlacht des Westens im Kampf um die öffentliche Meinung der Welt.

Durch diese Untat hat der „christliche“ Westen aber nicht nur in den Augen der Nicht-christen und Atheisten des Planeten moralisch Bankrott gemacht, sondern — eine Tatsache, die mindestens so schwer wiegt — im tiefsten den Glauben an sich selbst verloren. Mit Hiroshima kam die Furcht über uns, eine Furcht, die wir zwar immer wieder verdrängen, im Grunde aber doch nie mehr loswerden können. Mit Hiroshima kamen neue Zweifel über uns, Zweifel an den ethischen Motiven und der politischen Weisheit unserer führenden Politiker. Durch die Atomaufrüstung, die sofort nach der ersten Verwendung der Atomwaffe einsetzte, hat der Westen, wie wir jetzt wissen, zwar für kurze Zeit seine militärische Ueberlegenheit gestärkt, aber gleichzeitig sein geistiges und seelisches Potential auf verhängnisvollste Weise geschwächt.

Wer heute in der westlichen Welt umherfährt und mit vielen Menschen, besonders jungen Menschen spricht, konstatiert, daß die überwiegende Mehrzahl nicht mehr in der Hoffnung auf eine bessere Welt lebt, sondern in der Angst vor einer früher oder später eintretenden, im Grunde unvermeidlichen Endkatastrophe. Diese Erwartung, die unserem ganzen Leben einen so hektischen, auf schnellen Genuß und ungehemmten Verbrauch gerichteten Charakter gibt, ist aber nur zum Teil auf der Vorstellung gegründet: „Die Kommunisten schrecken vor nichts zurück!“, sondern mindestens ebensosehr auf der Annahme: „Auch unsere Seite ist leider zu allem fähig.“ Das ist eine innere Vorstellung von sich selbst, zu der die Menschen des christlichen Abendlandes vor den Greueln der Judenvergasung, der Bombenteppiche und dem Massenmord von Hiroshima niemals fähig gewesen wären.

Gaskammern gibt es heute, Gott sei Dank, nicht mehr. Massenangriffe von Bombern mit Napalm-Bomben sind technisch überholt. Aber ein „Hiroshima“ ist auch jetzt noch jeden Augenblick möglich. Mehr noch: ein „SuperHiroshima“.

Es ist in den vorherigen Zeilen versucht worden, eine tiefere Schicht unserer öffentlichen Meinung aufzudecken, einen Zustand der Massen-Neurose, der viel gefährlicher für die Zukunft des Westens ist als jene „Panik“, welche die Regierungen und Generalstäbe durch Verschleierung und Verkleinerung der atomaren Gefahren verhindern wollten. Denn das Wissen um den fortgesetzten atomaren „Sündenfall“ hat die schöpferischen Kräfte des Abendlandes bereits jetzt entschieden beeinträchtigt.

Als kürzlich die amerikanische Purdue-Uni-versität einmal eine Untersuchung darüber anstellte, weshalb so verhältnismäßig wenig junge Menschen die Wissenschaft als Beruf wählten, zeigte sich, daß ein großer Teil der Befragten antwortete: „Weil die Wissenschaftler böse sind, und ich will nichts damit zu tun haben.“ Ein tieferes Studium der öffentlichen Meinung der jungen Menschen, nicht nur in den USA, sondern auch in Westeuropa, würde vermutlich zeigen, daß der Konformismus und die fehlende Vitalität, die man der Jugend vorwirft, in Wahrheit eine Art Weltflucht sind, eine Flucht vor den großen Aufgaben und Verantwortungen, die man auf einer Erde, in deren Himmel ständig Bomber mit explosionsbereiten Waffen kreuzen, nicht auf sich nehmen möchte.

Ein weiteres Indiz für die Beeinträchtigung unserer schöpferischen Kräfte: Ist es nicht auffallend, daß der Westen noch nicht einen konkreten und konstruktiven „Wirtschaftsplan“ entwickelt hat, der im Falle eines Abbaues der Rüstungen die Konjunktur auffangen und stützen würde? Solange ein solcher Plan aber nicht vorliegt und jedermann bekannt ist, solange infolgedessen die Auffassung „Abrüstung bedeutet Wirtschaftskrise“ verbreitet bleibt,werden weder die Russen noch unsere eigene öffentliche Meinung glauben, daß es dem Westen mit seinen Abrüstungsvorschlägen wirklich ernst ist.

Der einzige großzügige und detaillierte Plan, der seit Jahren aus Washington gekommen ist, wurde Ende November bekanntgegeben. Nicht weniger als 20 Milliarden Dollar — mehr als die ursprünglich für den Marshall-Plan angesetzte Gesamtsumme — sollen für ein umfassendes Bauprogramm ausgegeben werden? Und was soll da gebaut werden: riesige Luftschutzkelleranlagen, in denen sich die Ueberlebenden der Explosionsund Feuerwirkungen eines feindlichen Atomangriffes vor dem radioaktiven Fall-Out schützen sollen.

Es besteht gar kein Grund, weshalb ein in der Atomrüstung sein Heil suchendes Westeuropa den Amerikanern nicht auch auf dem Weg in eine Art von Höhlenzeitalter folgen sollte. Bisher haben Wir doch noch alles nachgemacht. Weshalb nicht auch den nächsten „logischen Schritt“ nach der Etablierung von Raketenstützpunkten wagen, die ja zum Teil bereits vor .Feindsicht durch Untergrundanlagen geschützt werden müssen. Auch das ließe sich immer noch damit entschuldigen, daß man diese „Dinger“ im Ernst ja nie verwenden werde, sie aber als Wechselgeld braucht, um mit dem Osten zu einem günstigen, politischen Geschäftsabschluß zu kommen. Es ist allerdings anzunehmen, daß Moskau in diesen für es uninteressanten Handel niemals eintreten wird, sondern lieber lächelnd zuschaut, wie wir uns mit der Atomrüstung moralisch und wirtschaftlich weiter ruinieren. *

Gegen diese „Logik des Wahnsinns“, wie C. F. v. Weizsäcker es so treffend genannt hat, immer wieder zu protestieren, ist eine Aufgabe der öffentlichen Meinung. Darüber hinaus aber muß sie darauf drängen, daß der Westen endlich wieder versucht, positive, begeisternde Ziele zu entwickeln. Eines, aber nur eines dieser Ziele hat kürzlich Professor Fritz Baade, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, entwickelt, als er von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer globalen Ertragssteigerung sprach, die imstande wäre, die verdoppelte Menschenzahl von fünf Milliarden Lebewesen, mit der wir im Jahre 2000 rechnen müssen, zu ernähren.

Dies ist ein materielles Ziel, in das sich allerdings Elemente echter Menschenliebe mischen müssen, um es zu etwas anderem als einem großen, neuen „Geschäft“ zu machen. Darüber hinaus dürfte eine echte Gesundung der öffentlichen Meinung von einer Besinnung auf jene geistigen Güter abhängen, die uns kein feindlicher Angriff und nicht einmal eine eigene fehlgeleitete Verteidigung jemals dauernd rauben kann.

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