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Historische Konsequenz

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Wenden wir uns nun Österreich zu. Historisch gesehen hat hier die Große Koalition unbestritten großartige Leistungen vollbracht. Zweimal in der Geschichte hat sie den Zusammenbruch eines Reiches überstanden und einen neuen Staat aufgebaut: 1918/20 und 1945. Zweimal hat sie die Revolution von links, einmal die Rätediktatur, das andere Mal die Volksdemokratie verhindert, zwar nicht allein, aber entscheidend. Beide Male hat das Mitwirken der Sozialisten die Arbeiterschaft an den Bestand Österreichs interessiert, 1918/20 vor allem dadurch, daß sie Österreich trotz der unvorstellbaren Notlage, die damals herrschte, in die Reihe der sozial fortschrittlichen Staaten Europas vorstieß.

Der Austritt der Sozialdemokraten aus der Koalition nach den Wahlen von 1920, noch mehr aber die Abneigung des größten Teils ihrer Führer, die Oppositionsrolle aufzugeben, gehören zusammen mit dem Willen des priesterlichen Bundeskanzlers Seipel, die Sozialdemokraten von der Regierungsbeteiligung auszuschließen, zu den wichtigsten Elementen der tragischen Entwicklung Österreichs in der Ersten Republik.

Anders verhielt es sich 1945. Der Anschlußgedanke, dem die österreichische Sozialdemokratie bis zur Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland gehuldigt hatte, war tot. Der Wille aber, an der Macht teilzunehmen, gehörte zum neuen politischen Einmaleins der österreichischen Sozialisten. Die Volkspartei begrüßte diesen Willen, weil sie sich allein, obwohl sie bei den Nationalratswahlen im Herbst 1945 die absolute Mehrheit errungen hatte, nicht imstande fühlte, das schwere Aufbauwerk zu vollbringen.

Allerdings maßten sich die beiden Parteien damals drei Dinge an, die in späteren Jahren die eigentliche Belastung der Großen Koalition darstellten. Sie betrachteten den Staat als ihr Eigentum und teilten ihn untereinander nach dem Proporz auf. Sie sprachen sich selbst von jeder Schuld in der Vergangenheit frei und machten an die 600.000 registrierte ehemalige Nationalsozialisten dafür verantwortlich, was seit 1918 an Unglück über Österreich hereingebrochen war. Schließlich versuchten sie mit Hilfe der Alliierten, jede Form des Protestes gegen ihre Politik schon im Keime zu ersticken, vor allem dadurch, daß sie alle Versuche, neue politische Gruppen ins Leben zu rufen, als neonazistisch anprangerten. Eine solche Entwicklung mußte notgedrungen zu einer Art Balkanisierung der österreichischen Politik führen.

Die Bevölkerung wählte bis 1966 immer so, daß die beiden Großparteien den Schluß ziehen mußten, ihre Zusammenarbeit entspräche dem Willen des Volkes. Dies hatte mehrere Gründe. Der Lebensstandard der österreichischen Bevölkerung hatte eine bis dahin noch niemals erreichte Höhe erklommen, und die Bevölkerung schrieb diesen Erfolg der Großen Koalition zu, obwohl in der Bundesrepublik eine Kleine Koalition einen noch größeren Wirtschaftserfolg zu erzielen vermochte. Was aber noch wichtiger war: Österreich blieb das politische Fieber der Ersten Republik erspart. Die beiden Großparteien garantierten den inneren Frieden. Dafür nahm die Bevölkerung die Nachteile hin: den Pro porz und eine gewisse Korrupierung des Staats- und des staatlichen Wirtschaftsapparates.

Mehrheitsentscheidung gegen Proporz

Kritisch wurde die Lage erst, als die Großväter aus der ersten Reihe des politischen Establishment traten und den Vätern die Nachfolge überließen. Diese waren der Zusammenarbeit ein wenig müde und besaßen den Ehrgeiz, es allein besser zu machen. Wenn Raab und Gorbach auch parteiinternen Revolten weichen mußten, im Grunde stürzten sie über Pittermann. Die Zusammenarbeit der beiden Großparteien war zur bloßen Routine geworden und bedeutete kein inneres Anliegen mehr. Die Jugend drängte nach und forderte Taten. Unbelastet von der Vergangenheit und vielfach in Unkenntnis der Ereignisse in der Ersten Republik verlangte sie nach klaren Entscheidungen. Olah war der erste, der diesem Verlangen Rechnung tragen wollte. Er stürzte darüber, weil er mit Hilfe einer politischen Restpartei die bisher führende Regierungspartei aus ihrer Position drängen wollte.

Klaus und Withalm, die neuen Führer der ÖVP, erfaßten ebenfalls die veränderte Lage und nützten sie aus. Es gelang ihnen, der Bevölkerung den Eindruck zu vermitteln, die SPÖ bremse die Regierungstätigkeit, was teilweise auch tatsächlich der Fall war. Bei den Wahlen 1966 riefen sie die Bevölkerung zur klaren Mehrheitsentscheidung auf und hatten Erfolg damit.

Diese Mehrheitsentscheidung im Frühjahr 1966 war für die politische Entwicklung Österreichs von großer Bedeutung. Sie verscheuchte zwei Ängste, die noch in vielen Menschen aus der Zeit der Ersten Republik lebten: Daß im Bürgertum die Neigung zur autoritären Führung nach wie vor lebendig sei, und daß die Sozialisten in der Opposition unberechenbar wären. Beides traf nicht zu. Die ÖVP hält sich an die demokratischen Spielregeln und die SPÖ ist bis jetzt ein Musterbeispiel für das, was allgemein als verantwortungsbewußte Opposition bezeichnet wird. Ohne die abwägende Haltung der Gewerkschaften, die in ihrer Mehrheit sozialistisch sind, und der SPÖ-Führung stünde die ÖVP wesentlich angeschlagener in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise da.

Es zweifelt deshalb auch die Allgemeinheit nicht, daß die SPÖ, wenn sie bei den nächsten Wahlen die absolute Mehrheit erränge, die demokratischen Spielregeln ebenso beach-

ten würde wie die ÖVP. Somit wären für ein „Regierungsoppositionsspiel“ nach dem Muster Großbritanniens die politischen Voraussetzungen vorhanden. Die Parteien brauchen voreinander nicht mehr Angst zu haben. Nicht vorhanden sind dagegen die notwendigen Mehrheitsverhältnisse. Eine Alleinregierung mit nicht mehr als fünf Mandaten Vorsprung hält eine Partei länger als eine Wahlperiode nicht aus. Sie bliebe wegen Überforderung ihrer Mandatare auf der Strecke.

Photo: Wasche!

Es ist deshalb anzunehmen, daß die SPÖ, sollte sie die absolute Mehrheit mit weniger als zehn Mandaten Vorsprung erringen, kaum eine Alleinxegierung anstreben wird, falls sie eine vernünftige Basis für eine Koalitionsregierung zustandebringt. Eine Mehrheit von zehn Mandaten aber ist beim gegenwärtigen Wahlsystem in Österreich ziemlich ausgeschlossen. Sollte aber die ÖVP gewinnen, dann wird ihre Mehrheit noch geringer sein als gegenwärtig, so daß sie kaum allein zu regieren imstande ist.

Eine Kleine Koalition mit der FPÖ scheidet wegen der schwierigen außenpolitischen Lage Österreichs aus. Aus all diesen Gründen ist es wahrscheinlich, daß nach den nächsten Nationalratswahlen, die wahrscheinlich schon im Herbst 1969 stattfinden, wieder eine Regierung kommen wird, die auf der Basis der Zusammenarbeit beider Großparteien ruht.

Das Wichtigste: Arbeitsfähigkeit

Es ist kein Zweifel, daß die Alleinregierung einer Partei besser abschneidet als eine Koalitionsregierung, wenn diese arbeitsunfähig wird, wie dies spätestens seit 1963 der Fall gewesen ist. Wenn die Zusammenarbeit jedoch funktioniert, dann wird sich eine Koalitionsregierung in Österreich besser durchsetzen als eine AHeinregierung. Dies aus mehreren Gründen:

1. Österreichs außenpolitische Lage ist äußerst diffizil. Seine drei Hauptprobleme, die Ostpolitik, die Frage der europäischen Wirtschaftsentwicklung und die Lage in Südtirol, erfordern die Anteilnahme und Zustimmung der gesamten Bevölkerung. Jedes einseitige Vorgehen einer

Partei, die das Vertrauen von nur der Hälfte der Bevölkerung besitzt, kann eine krisenhafte Situation heraufbeschwören.

2. Die Mentalität der österreichischen Bevölkerung ist nicht auf Opposition eingestellt. Alle Interessengruppen wollen Anteil an der Verantwortung haben und an den Vorteilen, die mit der Verantwortung verbunden sind. Die Nachteile ertragen sie dann leichter. Andernfalls fühlt sich die Hälfte der Bevölkerung zurückgesetzt und glaubt, daß ihre Interessen zu wenig vertreten werden.

3. Der mit Recht so angeprangerte Proporz der Großen Koalition hat seine Fortsetzung in dem Bündeproporz der ÖVP gefunden. Für politische Außenseiter ist es fast noch schwerer, derzeit zum Zug zu kommen als in der Ära der Großen Koalition, weil die ÖVP im Bewußtsein ihrer Macht wähnt, auf Außenseiter verzichten zu können, während früher beide Großparteien einen gewissen Eifer zeigten, politische Randschichten nicht dem Koalitionspartner zu überlassen, öffentliche Ausschreibungen haben sich auch unter der ÖVP-Alleinregierung im allgemeinen als eine Farce erwiesen.

4. Da in Österreich im Gegensatz zu fast allen westeuropäischen Ländern die Intelligenz zum größten Teil konservativ ist, kommt in der ÖVP-Alleinregierung der notwendige geistige Fortschrittswille zu wenig zum Ausdruck.

5. Wir wissen nicht, ob Österreich in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht nicht noch einmal einen Preis für seine politische Neutralität zahlen muß. Geht es in der Ost-West- Entspannung vorwärts und macht die wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas Fortschritte, darin wird dies auch Österreich zugutekommen. Tritt jedoch der umgekehrte Fäll ein, dann wird uns die Neutralität etliche Opfer abverlangen. Diese der Bevölkerung begreiflich zu machen, wird nur eine Große Koalition in der Lage sein.

Das Streben der Parteien nach der absoluten Mehrheit ist nicht undemokratisch, sondern natürlich. Anderseits ist aber ebenso die Angst vor dieser absoluten Mehrheit bei beiden Parteien lebendig, wenn sie seit 1966 auch ständig, dank der demokratischen Haltung der ÖVP, abnimmt. Was noch nicht völlig beseitigt werden konnte, ist der Stachel, der sich als Ignorierung der Vorschläge des um nur einige Prozent schwächeren Gegners, der in die Opposition gehen mußte, darstellt. Trotz der an sich positiven Entwicklung zum Regierungs- und Oppositionsspiel scheint doch in weiten Kreisen der Bevölkerung das Verlangen nach Zusammenarbeit der beiden Großparteien wieder zu wachsen. Es wäre deshalb gut, wenn die ÖVP- und SPÖ-Parteistrategen nicht nur darüber nachdenken, wie sie die nächsten Wahlen gewinnen, sondern auch darüber, welche Grundlagen für die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit nötig sind, damit sich die entscheidenden Fehler aus der Ära vor 1966 nicht wiederholen.

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