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Hochschulnot im deutschen Westen

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Würzbarg, im Februar 1947 Mit einem heftigen Ausfall gegen die Presse begann die 24jährige Studentin der Philosophie: „Die Zeitungen sollten endlich aufhören, uns Studenten als Problem der neuen Universitäten Deutschlands anzusehen. Die Professoren, vielmehr die nicht vorhandenen Professoren, sie sind das große Problem!“ Und dann versidierte diese Tochter einer alten Gelehrtenfamilie — übrigens Nichtarierin nach der Definition der einstigen Nürnberger Gesetze —, es sei nicht an ihr, sich Gedanken über die Zukunft der Wissenschaften zu machen, aber sie wolle endlich etwas lernen und das könne sie nur in sehr bescheidenem Maße. Nicht nur, daß die Bücher fehlten, eigene, wie die der Bibliotheken, an Vorlesungen und Seminarübungen mangle es genau so. „Wie soll ich zu einer Doktorarbeit kommen? Ich studiere Philosophie und Geschichte, bin im dritten Semester. Hören kann ich an der Würzburger Universität die Vorlesung des einzigen Philosophen, Professor Hans Meyer. Seit 24 Jahren liest er ein und dasselbe; welchen Namen es auch immer trägt, es ist trotzdem nur Geschichte der Philosophie. Bei den Historikern habe ich die „Wahl“ zwischen zweien und kann mir aussuchen, ob ich eine Einführung in das Studium der alten Geschichte, eine Vorlesung über Deutsche Geschichte im Spätmittelalter, Geschichte der Spätantike oder über Geschichte Nordamerikas hören will.“

Inzwischen hatten sich mehrere Studenten zu uns gesellt und nahmen an der Unterhaltung teil. Einige stimmten temperamentvoll ihrer Kommilitonin • zu, vor allem, soweit es die höheren Semester betraf. Nicht nur die mangelnde Quantität der Dozenten bemängelten sie, auch die Qualität einzelner Professoren, die ihre erste Berufung erhielten. Der einzige Physiker, so behaupteten sie, bringe Formeln an die Tafel, die nicht stimmten, bei Mißfallenskundgebungen komme er dann völlig aus dem Konzept. Der aus Breslau berufene Germanist habe alle Skripten, und Bücher verloren Mühselig stopple er aus Lektüre in der Seminarbücherei seine Vorlesung über neue deutsche Literatur zusammen. — Daß die jungen Leute nicht aus Kritiklust verallgemeinerten, zeigte sich, als ein Student den frischernannten Professor Michael Seydlmeier pries. Seine Vorlesung über mittelalterliche Geschichte sei reich an eigenen Gedanken, sie sei wohl die beste der Fakultät.

Meine Gesprächspartner versicherten mir, nicht nur sie seien der Ansicht, die ehemaligen Würzburger Professoren sollten schnellstens vor die Spruchkammer, damit die „Mitläufer“ wieder lesen könnten. Das sei durchweg die Meinung der Studentenschaft und als solche auch in der Würzburger „Main-Post“ geäußert worden, wobei sich die Redaktion dem Wunsch mit der Begründung angeschlossen habe, die Schul- und Universitätsausbildung der deutschen Jugend sei durch den Mangel an Professoren weitgehend gefährdet. Für 16 Professoren und einen Dozenten ist, wie mir der Rektor mitteilte, das Dringlichkeitsverfahren bei der Spruchkammer beantragt. 65 Professoren und 25 Dozenten mußten wegen ihrer politischen Vorgeschichte ihre Tätigkeit einstellen. Nur 14 Persönlichkeiten Jconnten neu berufen werden.

Als ich kurz darauf mit einem Würzburger Dozenten das gleiche Thema erörterte, erfuhr ich weitere Einzelheiten der Professorennot. Entgegen den Erwartungen, die Rektor Professor Martin mir gegenüber äußerte, ist es nicht gelungen, die medizinische und juristische Fakultät zum Wintersemester wieder zu eröffnen. Ausschließlicher Grund ist der Mangel an Professoren. Die medizinische Fakultät hatte die Bedeutung der Julius-Maximilian-Universität ausgemacht. Sie allein hatte einen Namen von internationalem Ruf: Der bekannte Syphiloge Zieler vergiftete sich nach dem Einmarsch der Amerikaner; Professor Hitschel (Kinderheilkunde), Professor G a u ß, Nachkomme des berühmten Physikers und durch Gastvorlesungen auch in den USA bekannter Frauenarzt, mußten nach den bestehenden Bestimmungen als Pg. ebenso wie der Ernährungswissenschaftler Gräfe und die vielen anderen weniger bekannten Professoren entlassen werden. Fünf 1937er Pgs. anderer Fakultäten haben befristete Lehrberechtigung, so der Professor Schröder und der Archäologe Professor Möbius.

Bis die Entnazifizierungen erfolgen, bleibt es bei drei Medizinern und einem Juristen. Sie sind die Überreste zweier einst großer Fakultäten. Versuche, Kräfte anderer Universitäten zu berufen, sind fehlgeschlagen. Denn nicht nur Würzburg, alle. Universitäten des Westens leiden unter dem Professorenmangel. So hat Erlangen heute 60 Dozenten wie im Jahre 1898. Nur daß damals 900 Studenten und nicht wie heute 5000 sich in den'

Hörsälen drängten.

Die Professoren leiden in Würzburg unter den gleichen Nöten wie die Studenten. Nur“ 11 Professoren haben eine Woh-' n u n g. Die anderen, unter ihnen auch der Rektor, hausen in einem möblierten Zimmer* meist in einer der Universitätskliniken. Der Dozent für neue Geschichte, der wie' der Althistoriker an zwei Universitäten liest, kann daraus wenigstens einen Vorteil ziehenr alle drei 'Tage, wenn er Würzburg mit Göttingen vertauscht, bestätigt ihm die Nervenklinik, in der er wohnt, daß er aus der Klinik „entlassen“ ist, und dieses Papier sichert ihm einen Sitzplatz im D-Zug. Der Bücherbesitz der meisten ausgebombten Dozenten ist nicht besser als der ihrer Hörer. Der Altphilologe und Rektor Professor Martin besitzt als einziges lateinisches Lexikon einen winzigen Liliput-band.

Man hat guten Grund zu der Annahme, daß Deutschlands Universitäten eine ihrer traditionellen Aufgaben nicht wahrnehmen können: die wissenschaftliche Forschung. Aber sollen sie nun ganz und gar Schulen an Stelle von Forschungsstätten undAkademien werden? Solche Perspektiven erörterten die Dozenten, nachdem sie eine Presseerklärung des bayrischen Kultusministers gelesen hatten. Er plant, an die Ausbildungsstätten der katholischen Theologen, die theologischen Lehranstalten in sieben bayrischen Diözesen, je eine philosophische Fakultät für die ersten vier Semester anzuhängen. Überfüllung der Universitäten und Raumnot in den zerbombten Städten führte Minister Franz Fendt als Gründe dafür an. Woher aber mit den Dozenten, an denen es doch schon jetzt mangelt? „Schluß mit dem Berechtigungsfimmel der ,Berufenen'!“, äußerte der Minister. Er wolle als Hochschuldozenten Männer der Praxis heranziehen, Oberlehrer, Architekten, Ärzte, Anwälte. — Man wird abwarten müssen, ob hier hochqualifizierte Kräfte, die ja politisch unbelastet sein müssen, in größerer Zahl gewonnen werden können. Die Geschichte der deutschen Wissenschaft kennt ja wohl verdiente Männer, so den Historiker Dietrich Jäger, um nur einen zu nennen, die sich ihren Weg von der höheren Schule zur akademischen Forschung über eine Dozentur bahnten. Serienweise allerdings fanden sich solche Kräfte bisher nicht.

Doch nach solchen Schicksalsfragen für die Zukunft der traditionellen deutschen Universitäten fragen die in beängstigender Fülle sich herandrängenden Studenten nicht. Wird aus ihnen ein neuer Stamm von Wissenschaftlern erwachsen, der alte Überlieferung in neuer geistiger Fülle erstehen läßt?

Wie sind diese Studenten? Sind es Nazi, wie man mit erhobenem Zeigefinger ab und zu in den süddeutschen Zeitungen lesen kann? Leben sie vom Schwarzhandel, geistig dumpf und träge? Ich habe mich mit vielen Studenten vieler Hochschulen der US-Zone unterhalten, mit Professoren und Rektoren. Eines allein scheint mir sicher: Nichts wäre törichter als billige Verallgemeinerungen. In manchem erinnern die Studenten des heutigen Deutschlands an jene nach dem ersten Weltkrieg. Heute wie damals stehen junge Füchse neben Dreißigjährigen, die der Krieg aus der Bahn gerissen. Viele Studenten sind verheiratet, sind Väter. Vereinzelt sind die Fälle, in denen die Ehefrau den Unterhalt verdienen muß. Jedes Kollegheft, von Lehrbüchern ganz zu schweigen, ist ein seltener Schatz. Alles ist Problem im Alltag: so die Zulassung, die wegen Platzmangel sehr beschränkt ist. Uberall an den schwarzen Brettern der Universitäten sieht man neuzeitliche Tauschgesuche: „Tausche Zulassung in München mit Studienplatz in Göttingen.“ „Biete 20 Zigaretten dem, der mir Zimmer nachweist“, las ich in Erlangen.

So wie sie es im Kriege lernten, sich von einem Tag auf den anderen zu behelfen, leben diese Studenten weiter. Keine Heizung? In der Studentenunterkunft in Heidelbergs Kaserne zogen die Physiker Drähte über Drähte durch die Zimmer, heizen elektrisch und über'ießen es den Stadtvätern, sich über den enormen Stromverbrauch zu wundern. Kein Geld? Fragt einmal die Mixer in Heidelbergs amerikanischen Bars, was sie tagsüber treiben und Ihr werdet entdecken, daß es Studenten sind.

Diese Generation, die dem Tod mit hängender Zunge entronnen, muß sich ihr Studium wahrhaft erstreiten, materiell und geistig. Denn der Geist will erst erwachen, Freude an wissenschaftlichen Fragen enudeckt werden. Aber sie arbeitet schwer. Das versicherte mir Erlangens Rektor, Professor Eduard Brenner.

Aber sind es nicht doch Nazi? Eines vorausgeschickt: Niemand bestritt meine Beobachtung, daß die Studenten im deutschen Westen schwerlich Demokraten sind. Woher sollten sie es auch sein? Nehmen wir Eflangens Studenten: 3339 waren* Anwärter der NSDAP' oder Nichtführer in der HJ. 338 waren nichtaktive Mitglieder der NSDAP (ein Höchstprozentsatz von 10 Prozent ist von den Amerikanern festgesetzt) und nur 502 hatten weder der HJ noch der Partei angehört. Soweit die Vergangenheit. Und die Gegenwart? Sollen sie ihre Ansicht wie ein Hemd gewechselt haben?

In einem stimmen fast alle diese Studenten, die ich sprach, überein: sie sind politische Skeptiker, enttäuschte Menschen. Viele sind geradezu mit Abscheu gegen Politik geladen. Um die Parteien macht man einen großen Bogen herum. „Ich war einmal in einer politischen Versammlung. Nach einer Stunde war ich eingeschlafen. Sie verstehen: man ist abends verteufelt müde. Sobald gehe ich nicht wieder zu einer Parteiversammlung. Ich habe wenig Zeit und“ — dabei überzog ein ironisches Lächeln das Gesicht dieses Heidelberger Studenten — „und vor meinem dreißigsten Jahr kann ich nicht Abgeordneter werden; außerdem bestimmen das Notwendige ohnehin alles die Amerikaner.“

Natürlich gibt es auch noch eine schwache Minderheit von überzeugten Nationalsozialisten. Aber eine Aktivität war nicht zu entdecken. Daß diese Nazis, wenn sie unter sich sind, an den heutigen Verhältnissen kein gutes Haar lassen, überrascht nicht. Wenn es auch den ausländischen Besucher verblüfft, der gewohnt ist, überall nur die demokratische Kulisse zu entdecken, hinter der sich heute in Deutschland die echten Meinungen der breiten

Masse verstecken. Man hat aber den Eindruck, daß diese Art von Studenten nicht geheimbündelt, sei es, daß der fürchterliche moralische Zusammenbruch lähmt oder weil der Deutsche nach 1945 zur illegalen Tätigkeit genau so unbegabt ist wie vor und nach 1933. Wenn man diese jungen Menschen nicht von vornherein als verlorene Generation abstempelt, so könnte das ernsthafte Ringen um Wissen und Erkenntnis vielleicht gute Früchte tragen. So jedenfalls meinte der Chikagoer Professor Max Rheinstein, nachdem er sich als Vortragender an dem von der Universität Marburg veranstalteten Ferienkurse beteiligt hatte. Er schrieb, er habe kaum jemals bessere Studenten gehabt als jene in Marburg: „Die jungen Menschen müssen mit psychologischem Verständnis behandelt werden. Wenn wir fortfahren, sie vor den Kopf zu stoßen, so werden sie schließlich wirklich starrköpfig, und alle unsere Anstrengungen würden vergeben sein.“

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