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Hoffen und Bangen nach dem Tage X

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Wer jahraus, jahrein an der gähnenden Leere deutscher Schaufenster vorübergeschritten war, ihr trostloses Bild seinem Bewußtsein eingeprägt hatte, mußte über die erste und augenfälligste Wirkung der westdeutschen Währungsreform in Erstaunen und Verwirrung geraten. Kaum waren die Bargeldfluten zu 90 Prozent aufgesogen, die aufgeblähten Bankguthaben im wörtlichen Sinne „dezimiert“, als ein überraschendes Warenangebot herandrängte. Kaum mehr gekannte in- und ausländische Güter traten plötzlich einer durch jahrelangen Mangel warenhungrigen Käuferschaft vor Augen, die nicht wußte, wofür sie die paar D-Mark ausgeben solle, die ihr die Währungsreform belassen hatte. Die Behörden mahnten zur Besinnung, empfahlen ein Aufsparen der Kaufkraft für dringliche Bedarfsartikel und prophezeiten eine baldige Warenknappheit. Sie verwiesen darauf, daß die Produktion nicht einmal den normalen Bedarf decken, geschweige denn der aufgestauten Nachfrage genügen kann. Das Trugbild wurde dadurch noch verführerischer, daß der Geldmangel sogar landwirtschaftliche Produkte, die im heutigen Deutschland noch auf Jahre hinaus eine Mangelware sein müssen, auf den Markt brachte. So entstand eine „Psychose des Kauftaumels“, von der sich nicht jeder freihalten konnte.

Hinter dieser ephemeren Blüte, die das deutsche Wirtschaftsleben für den Augenblick verschönert, stehen sehr gewichtige ungelöste Fragen und Sorgen, denen der Tag X neue — zum Teil erwartete — Erscheinungen hinzufügte. Eisenbahn und Straßenbahnen mußten einen rund fünfzigprozentigen Einmahmeverlust aus dem Personenverkehr buchen. Man glaubt, daß Tarif maßnahmen diesen Einbruch selbst im günstigsten Fall nur teilweise auffangen werden. Die Reichsbahn allein beziffert ihren Verlust auf eine Milliarde D-Mark. Sie wird zu einer Senkung des Personentarifs kommen müssen. Doch diese Senkung dürfte sich in bescheidenen Grenzen halten. Auch mit einer wesentlichen Herabsetzung des Gütertarifs, so erwünscht sie der Wirtschaft wäre, sollte niemand rechnen. Freilich ist der Verkehrsrückgang nicht ein durchaus unerfreuliches Zeichen. Der Ausfall der Hamsterfahrten ins „Kar-- toffelparadies“ Niedersachsen, Hauptlieferant für Rhein und Ruhr, und der vielen anderen Hamsterreisen trug wesentlich dazu bei. Größere Besorgnis könnte eine andere Tatsache wecken: von den 28,7 Millionen Sparkonten mit einem Sparkapital von 46,5 Milliarden Reichsmark innerhalb der drei Westzonen sind mehr als die Hälfte durch die Abwertung und den Abzug der Kopfquote als verloren anzusehen. In Nordrhein-Westfalen erlöschen 65 bis 70

Prozent aller Sparkonten. 85 Prozent von ihnen gehören Kleinsparern, das sind vorwiegend Rentner, Vertriebene, Kriegsversehrte, Studenten. Sie alle stehen vor dem Nichts und bilden den Herd neuer Not. An ihnen zeigt sich die deutsche Armut, die der Währungsschnitt offenlegte.

Die Reaktion des Arbeitsmarktes auf die Währungsreform läßt sich noch nicht ganz übersehen. In Hamburg verdoppelte sich die Zahl der Unterstützungsempfänger, im Ruhrgebiet sind größere Entlassungen angekündigt. Die Behörden nutzten bereits die Möglichkeit der Kündigung von Privatverträgen und wollen überdies Gehälter und Pensionen um zunächst 20 Prozent beschneiden. Der Zudrang zu den Arbeitsämtern kam mehr und mehr in Fluß. Die erneute, vielfach unerwartete Aufnahme von Demontagen droht zum Ausfall von 130.000 Arbeitsplätzen zu führen und bringt die wirtschaftlichen Grundlagen vieler Gemeinden ins Schwanken. In erster Linie sind exportintensive Produkticrnen betroffen. Sdrwerpunkte der Demontage liegen in Essen, Düsseldorf. Duisburg, Bochum, Dortmund, Hamm, M.-Gladbach, Krefeld, aber auch in kleineren Städten des westdeutschen Industriegebietes. Verhandlungen wegen eines Aufschubes blieben bis zur Stunde ohne Ergebnis. Die Demontage soll dem Vernehmen nach beschleunigt werden.

In dieser Situation verdienen die warnenden Worte des Wirtschaftsministers von Nordrhein-Westfalen besondere Aufmerksamkeit: „Ich sehe einen langsamen, aber sicheren Anstieg der Arbeitslosigkeit voraus. Machen wir uns doch keine Milchmädchenrechnung auf. Der Mangel ist noch nicht überwunden. In den Schaufenstern liegt nur gehortete Ware. Unserer Wirtschaft fehlen immer noch Lebensmittel, Rohstoffe und vor allem Sicherheit vor Demontagebefehlen.“ Angesichts der erhöhten Rohmaterialienkosten sei in Zukunft mit einer Erhöhung der Preise für lebenswichtige Erzeugnisse zu rechnen. Ein „gigantischer Lohnkampf“ werde in Bälde die Wirtschaft beunruhigen. Der Minister ist in Sorge um die Wiederbeschäftigung von 252.000 Bauarbeitern; die Bauindustrie in Westdeutschland liegt sozusagen still. In diesem Augenblick erinnert die Nachricht, in Nordbayern habe sich die Zahl der freiwilligen Meldungen zum Ruhrbergbau um 150 Prozent erhöht, an das Sprichtwort: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.

In breiteren Volkskreisen allerdings wird das alles recht wenig bedacht, und es wäre durchaus vc -stellbar, daß es dort einmal ein echt unangenehmes Erwachen geben könnte. Denn ein nicht geringer Teil der westdeutschen Wirtschaft befindet sich in ernster Finanz- und Kreditnot. Das sind alle die Betriebe, die früher ehrlich handelten und keine Ware horteten, heute daher über keine Vorräte verfügen. Sie sind außerstande Löhne und Gehälter in angemessener Höhe zu zahlen und sich ohne Kreditaufnahme neue Barmittel zu beschaffen. Auch die staatlichen und kommunalen Verwaltungen, die wirtschaftlichen Verbände, die Reichspost und Reichsbahn sind im Bedrängnis. Sie alle haben 100 Prozent Abstrich ihrer Geldmittel in Kauf nehmen müssen und sehen sich nun gezwungen, gleichsam vom Nullpunkt aus wieder anzufangen. Um die vordringlichsten Finanzierungsfragen zu lösen, wurde der Solowechsel wieder aufgegriffen. Doch er ist teuer und wird ungern benutzt. In kurzer Zeit dürfte sich zeigen, welche Teile der Wirtschaft morsch sind und abfallen werden und welche noch gesunden Teile dem Gesamtwerk geopfert werden müssen. Die Wiedereinrichtung der Konkursabteilungen bei den Amtsgerichten deutet darauf hin, daß man sich an maßgeblicher Stelle keinen Illusionen hingibt. Die jüngste politische Entwicklung scheint allerdings auch wenig dazu angetan, großen wirtschaftlichen Aufschwung erwarten zu dürfen. Eine große Zeitung sprach im Zusammenhang mit Berichten über ein im Rahmen der Londoner Empfehlungen zu erlassendes Besatzungsstatut von „Prokura für die Westregierung" und meinte, die Unfreiheit in Außenpolitik und Außenhandel sei zwar eine vorläufige, aber sie hemmt. Der bayrische Ministerpräsident erweckte „schmerzliche Erinnerungen an Versailles“. Von dieser Warte aus betrachtet, sieht die zunächst allgemein mit großen Hoffnungen begrüßte Entwicklung anders aus.

Die Zeitungen rufen zur „Leistung aus Not“ auf und ihre Leitartikel stimmen überein in der Forderung, wer mit seinem Einkommen die untere Grenze des Lebensnotwendigen berühre, der müsse bestrebt sein, durch intensivere Arbeit und durch Überstunden mehr zu verdienen. Das ist sehr schön gesagt, und wie gern würden abertausend daraufhin ans Werk gehen. Jedoch: Wo? Im Bergbau bietet sich am ehesten Gelegenheit. Die Kohlenindustrie aber wünscht von der bizonalen Verwaltung für Finanzen einen Zuschuß von 200 Millionen D-Mark, unid niemand weiß ihn aufzubringen. Der Direktor dieser Ver waltung sprach vielmehr die Ansicht aus, die „Ausnützung der deutschen Ohnmacht“ werde es unmöglich machen, die Wirtschaft der Bizone in Ordnung zu bringen und rentabel zu gestalten. Das mag ein wenig zu schwarzseherisch sein, es bekräftigt aber die Begrenzung der Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Was sollen da erst die freien Berufe oder gar die Studenten beginnen? Beim Studentenwerk Köln meldeten sich an einem Tage mehr Studenten zu Arbeiten jeglicher Art als sonst in einem ganzen Semester. An den anderen Hochschulen sieht es ähnlich aus; nur 50 bis 60 Prozent haben Geldzuwendungen von Eltern oder Verwandten, durch eigenen Verdienst als Werkstudenten oder durch Renten (zum Beispiel bei Schwerversehrten) und Umschulungsbeihilfen. Sie sind infolgedessen in der glück lichen Lage, ihr Studium fortsetzen zu können. Opferringe der Altakademiker, Akademische Notgemeinschaften werden gebildet, die Einrichtung einer Studienkreditanstalt wurde vorgeschlagen. Dennoch werden mindestens 30 Prozent der Studierenden die Universitäten verlassen müssen. Kardinal Frings, Erzbischof von Köln, regte eine Kollekte in allen Kirchen seines Erzbistums für die in Not geratenen Studenten an. Ähnliche Maßnahmen wurden von protestantischer Seite getroffen. E och sind sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Es liegt auf der Hand, daß alles dies gerade in den Kreisen der geistig empfindsameren Menschen mit Besorgnis beobachtet wird. Die Künstler bangen sehr um ihre Zukunft. Nur die westdeutschen Theater, in den Dingen der Krise und Gefährdung erprobt, ließen sich nicht entmutigen, während das Echo in Süddeutschland weit pessimistischer ist. Viele Häuser gingen sogleich nach dem Tag X in die Sommerferien, um in Ruhe sich vortasten zu können. Noch ist nicht zu übersehen, ob sie von irgendeiner städtischen oder staatlichen Seite her subventioniert werden können. Im Rheinland, wo man bekanntlich von unbekümmerterer, zu Optimismus neigender Wesensart ist, sprach Kölns Generalintendant Herbert Maisch aus, was auch die anderen Bühnenleiter denken: Unsere Bühnen werden auch diese Krise überstehen. Sie bauen auf die bewährte Theaterfreude und -treue des Volkes und rechnen mit dem tatsächlich unverminderten Verlangen nach Entspannung, Aufmunte-mag oder geistiger Anregung. Darauf vertrauen übrigens auch die Buchverlage und Buchhändler im deutschen Westen und Süden. Beide warten mit erstaunlichen Angeboten auf. Bücher, die noch vor wenigen Wochen unmöglich zu bekommen waren, werden jetzt in Hülle und Fülle angeboten. Der Nachschub soll vollauf gesichert sein; jedenfalls behaupten die Verleger, sie könnten liefern, was immer gewünscht werde. Kriegs- und Nachkriegsliteratur wird freilich allg emein abgelehnt. Die Wünsche richten sich auf die namhaften Autoren der früheren Zeit, so auf Carossa, Tunmermans, Ina Seidel, Binding, Wiechert (seine neueren Werke, die eine Zeitlang „Mode“ waren, sind weniger beliebt), Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen und sehr stark auf die Klassiker. Lebhafteste Nachfrage herrscht nach Bucherscheinungen aus Österreich und der Schweiz. Jedoch dampfen die Preise, die sich zwischen 2.50 und 70 D-Mark bewegen, manche Begehrlichkeit, Zeitungen, Zeitschriften, Kunstwerke finden kaum Käufer, obwohl sie ihre Preise ganz erheblich reduzierten. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Musiker, die ohne hin unter der Nahrangsnot aufs schwerste litten, sehen sich in drückende Sorgen gestürzt.

Sie stehen damit keineswegs allein. Politiker, Wirtschaftler, Männer und Frauen, die den Ereignissen auf den Grund zu gehen pflegen, vernahmen mit Nachdenklichkeit die Meinung des Vizepräsidenten der Weltbank, Garner, der sagte, der bisherige deutsche Wiederaufbau sei nur Flickwerk. Freilich ist der Kreislauf der Ware und des Geldes wieder in Gang gekommen — und bei einem gleichmäßigen Anhalten von Kaufkraft und Produktion würde er fraglos jenen wirtschaftlichen Zustand schaffen, den nur die Alten und Ältesten kennen. Aber die Einsichtigen wissen, daß dieser Zustand noch sehr fern und daß im Augenblick wenig Aussicht besteht, ihn in absehbarer Zeit zu errichten, da die wichtigsten Voraussetzungen fehlen. Sie begleiten den Kreislauf mit Hoffnung — und bangen zugleich vor ernsten politischen oder wirtschaftlichen Kreislaufstörungen, die durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Das Volk in West und Süd der deutschen Lande ist mehr denn je ein Volk zwischen Hoffen und Bangen.

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