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Hollands „innere Integration“

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Heute, im Zeitalter der Ökumene, versteht man es nicht mehr, daß sich noch vor weniger als 30 Jahren die christlichen Konfessionen hinter haushohen Mauern verschanzten. Die Niederländer, ein ohnehin verschlossener Menschenschlag, die sich in langwierigen Religionskriegen hoffnungslos entzweit und zu eigensinnigen Individualisten entwickelt hatten, machten darin keine Ausnahme. Nicht zufällig hieß es: Ein Holländer ein Theologe, zwei Holländer eine Kirche, drei Holländer eine Synode, vier Holländer ein Schisma. Mag dieses überspitzte Wort insbesondere aur die Protestanten mit ii.iren 80 Scparaikirchengemeirideh zielen, die Katholiken verleugneten ihre urholländische Art ebensowenig.

Bis dann die verfeindeten Brüder eines Tages während der deutschen Besatzung im KZ einander wiederfanden und auf kleinstem Raum notwendig ins Gespräch kamen. Die trennenden Schranken, das war jedem ohne weiteres klar, sollten fallen.

Von der Staats- zur Volkspartei

Glich auch die Wirklichkeit nicht ganz dem Bild, das Idealisten in der Bedrängnis vorgeschwebt hatte, so wurde doch manches anders. Die katholische Staatspartei benannte man in eine Volkspartei um, womit ihre demokratische Grundeinstellung betont wurde. Künftig sollte sie „jedem Niederländer offenstehen und das allgemeine Wohlsein fördern“. Damit befreiten sich die Katholiken aus der selbst gewählten Isolation, und ihre neue Partei bekannte sich zum aktiven Christentum und zu einer fortschrittlichen Sozialpolitik.

Doch die Öffnung nach links genügte vielen nicht mehr. Namhafte katholische Politiker wie Jan Willems, Geert R u y g e r s und andere traten aus der Partei aus und gliederten sich als geschlossene katholische Arbeitsgruppe der „Partij van de arbeid“ an. Diese PvdA ist eine verjüngte, entschärfte, verbürgerlichte Neuauflage der alten SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei), die auf junge Idealisten anfangs eine bezaubernde Wirkung hatte. Sogar die scharfe Verwarnung eines bischöflichen Amandementes konnte die Rückkehr der Dissidenten nicht erzwingen. Anderseits rief die Lösung der Kolonialfrage (der gelungene Freiheitskampf der Indonesier) vorübergehend eine konservative katholische nationale Partei auf den Plan.

Stabil bei den Wahlen

Weder Stürme noch gelegentliche Rückschläge und Desertion aber konnten der katholischen Volkspartei etwas anhaben. Sie behauptete sich bei allen Nachkriegswahlen als die stärkste: eine progressive, offene, moderne Partei, wenn auch der Streit zwischen Partikularität und Integration noch längst nicht ausgetragen sein dürfte.

Eine von vielen herbeigesehnte, durchaus in der Linie der Entwicklung liegende Zusammenarbeit der katholischen KVP mit der sozialistischen PvdA stößt immer noch auf Widerstand. Das demissionäre Kabinett de Q u a y war eine aus Katholiken, konservativen Protestanten und Liberalen formierte Regierung, und die Sozialisten begnügten sich mit der Rolle der Opposition. Allgemein erwartete man aus diesem Verhalten für die Katholiken einen Rückschlag bei den Neuwahlen. Doch weit gefehlt. Die KVP' gewann nicht nur ein Mandat hinzu (trotz der vielverbreiteten Ansicht; daß die Zeit der konfessionellen Parteien endgültig vorbei sei), die Sozialisten verloren fünf. Der Zug nach links fand somit sein vorläufiges Ende. Die PvdA hat offenbar doch die Zugkraft der ersten Nachkriegsjahre eingebüßt, der Zeit, da der Name Drees noch wie ein Fanfarenstoß wirkte und jeder „Bestfader“ und jede alte „Muhme“ strahlend erklärte, daß sie nunmehr ihre Altersrente vom guten Onkel Willem bezogen.

So sicher schien man im katholischen Lager seiner Sache, daß der Parteivorsitzende in Wahlreden eine christlich-demokratische Union (nach deutschem Muster) vorschlug. Die als äußerst konservativ bekannten Protestanten, die eine christliche Fraktion im Europa-Parlament billigten, lehnten ein gemeinschaftliches Programm in der Innenpolitik jedoch vorläufig noch ab.

Jedenfalls haben die christlichen Parteien im neuen Parlament die absolute Mehrheit. Sie hätten zur Not die Ministersessel unter sich verteilen können. Falls sich aber die Sozialisten und Liberalen als Flügelspieler in der Mannschaft beteiligten, wäre eine Regierung auf denkbar breitester Grundlage geschaffen, eine sehr stabile Regierung, wenn wir Prof. Z i j 1 s t r a Glauben schenken dürfen, der behauptet, daß der Unterschied zwischen Sozialisten und Liberalen in einem modernen Wohlfahrtsstaat verschwindend gering sei.

An der großen Koalition vorbei

Im politischen Stellungskrieg sieht die Sache wesentlich anders aus. Die

Sozialisten sträubten sich dagegen, mit den Liberalen am grünen Tisch platzzunehmen; die Protestanten lehnen eine Regierungskoalition mit den Sozialisten ab. Unter diesen Umständen mag der gequälte Formateur sich wohl wie jener Schiffer im Märchen vorgekommen sein, der die Aufgabe hatte, Wolf, Geiß und Kohl ungefährdet herüberzuholen, zwei von dreien aber nur auf einmal in seinem Kahn mitführen konnte. Denn auch die Opposition darf ja im demokratischen Staat nicht fehlen. Dazu aber wollte sich keine Partei freiwillig hergeben. Mitregieren macht eben Spaß und ist überdies erträglicher.

Daß schließlich, nach unerfreulichem und nicht gerade vorbildlich demokratischem monatelangem Feilschen und Bieten, doch wieder die Liberalen als Partner bevorzugt wurden, hat viele befremdet. Die Sozialisten halten sich nicht zu Unrecht für übertölpelt, um so mehr, weil sie sich mit dem Basis-Regierungs-Programm weitgehend einig erklärten, während die Liberalen in wichtigen Fragen, wie Wohnungsbau, Steuerpolitik, ferner Kinderzulage, Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben und anderes mehr betreffend, anderer (eben liberalerer) Meinung sind.

Gefahr für den Rechtskurs

Schmollend steht die PvdA nach wie vor als die verschmähte Geliebte abseits, obwohl sie immer noch über ein Mandat mehr verfügt als Liberale und Protestanten zusammen. Sie muß gelassen zusehen, wie andere nun viele ihrer ureigensten progressiven. Ideen in die Praxis verwirklichen, wobei die Liberalen es als ihre Aufgabe ansehen, dem sozialen Win etwas Wasser zuzufügen, damit er dem kleinen Mann nicht etwa zu Kopf steigt.

Ob sich die Katholiken dieses Liebäugeln mit den Liberalen und Konservativen dauernd leisten können? Wird sich der hartnäckige Rechtskurs nicht doch einmal rächen?

Verhalten und Aktionsprogramm der Gewerkschaften zeigen unverkennbar, daß der Wunsch einer engen Zusammenarbeit der progressiven Parteien im Herzen des Volkes lebt. Die katholische KAB unterhält mit dem sozialistischen NW weit innnigere Beziehungen der Freundschaft und Solidarität als mit dem protestantischen NCV. Die katholischen und sozialistischen Arbeiter sind mit der Entwicklung der Dinge nicht einverstanden.

Wo steht die Jugend?

Das gleiche gilt von unseren jungen Menschen, wenn auch das Ergebnis einer rezenten Jugendbefragung dem zu widersprechen scheint. Die bekannte Monatsschrift „Reflektor“ (Amsterdam) veranstaltete provisorische Parlamentswahlen für Jungen und Mädel der mittleren Schulen. Wenn es nach dieser Jugend ginge, wären die Liberalen heute die zweitstärkste Partei im Land. Die WD, die bei den echten Wahlen immerhin drei Mandate verlor, trug bei dem Entscheid unserer Spes Patriae einen Gewinn von 24 Mandaten davon. Die Sozialisten dagegen bekamen nur 26 Mandate insgesamt und würden demnach, könnte man diesem Experiment einige Bedeutung beimessen, in einigen Jahren zu einer zweitrangigen Partei herabsinken.

Inzwischen geht, von der Tagespolitik unberührt, in verantwortungsbewußten intellektuellen Kreisen das begonnene „Gespräch“ unentwegt weiter. „Te elfder ure“ (In letzter Stunde) ist eine fortschrittlich-katholische Zeitschrift, die den Durchbruch des Katholizismus befürwortet, damit das Christentum endlich und wahrhaftig der Sauerteig des Lebens werde. „Das niederländische Gesprächszentr-uro“, das nach dem Krieg gegründet wurde und Katholiken, Protestanten, Humanisten und Freisinnige beteiligte, hat ganze Arbeit geleistet und die lange Zeit für unüberbrückbar gehaltenen weltanschaulichen Gegensätze einander nähergebracht. Das Bedürfnis nach gegenseitigem Verständnis wächst.

Die Tendenz der Integration macht Fortschritte. Außenpolitisch fand sie in der Benelux Gestalt, vorbildlich für Europa. Die innere Integration allerdings hat einen schweren Stand, weil sie im alten Hort der Partikularität vorerst noch mit jahrhundertealten Vorurteilen aufräumen muß.

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