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Humanistischer Sozialismus

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Auf der Tagesordnung der Internationalen Sozialistischen Konferenz, die vom 4. bis 7. Juni in Wien abgeikalten wurde, standen keine grundsätzlichen theoretischen und ideologischen Fragen, wie etwa die des Verhältnisses von integralem Marxismus und Revisionismus, sondern die praktischen und taktischen Gegenwartsprobleme, vor die sich der demokratische Sozialismus Westeuropas heute gestellt sieht: die schon seit geraumer Zeit die Sozialistische Internationale beschäftigende Spaltung im italienischen Sozialismus, dann die Frage „Sozialismus und Demokratie” als das eigentliche Hauptthema der Tagung, die Z u- kunft des Ruhrgebiets und schließlich der Austausch praktischer Erfahrungen der einzelnen Länder in der Planwirtschaft. Und doch wurde hinter allen diesen Gegenwartsfragen eine letzte ideelle Entscheidung sichtbar, die der ganzen Konferenz ihre besondere Note gab: die Entscheidung für die Sicherung der menschlichen Freiheit und gegen jegliche Diktatur des Einparteienstaates, die Entscheidung für die unverletzlichen Rechte des einzelnen und der Minderheit, für ein in der zweitausendjährigen abendländischen Geschichte wurzelndes Bild der menschlichen Persönlichkeit, kurz die Entscheidung für Europa.

Das trat gleich zu Beginn in dem vielleicht wichtigsten praktischen Entschluß zutage, der von der Konferenz gefaßt wurde: bei der Aufnahme der italienischen Partei „S o- zi ali s tische Einheit” (der Gruppe Saragat-Lombardo) als vollwertiges Mitglied und der Suspendierung der Mitgliedschaft der Nenni-Sozialisten bis zu ihrem in Genua im Juni stattfindenden Parteitag, wobei bemerkenswerterweise gerade die Saragat- Sozialisten sich dafür einsetzten, daß die Türe nicht ganz zugeschlagen werde. Denn sie hoffen, nach diesem Parteitag der Nenni- Gruppe eine Einigungskonferenz zustande zu bringen, an der alle wirklich demokratischen Sozialisten Italiens teilnehmen sollen. Der Beschluß der Konferenz bedeutet damit eine Art Ultimatum an die Nenni-Sozialisten, entweder ihre Gemeinschaft mit den Kommunisten zu lösen oder aber endgültig auf die weitere Verbindung mit dem demokratischen Sozialismus zu verzichten. Eine klare Alternative und Grenzziehung also, die in den Beratungen über das Thema „Sozialismus und Demokratie” und in der Stellungnahme zu „Volksdemokratie” und „Einparteienstaat” im Sinne eines eindeutigen Bekenntnisses zu den demokratischen und der Abgrenzung gegenüber den „volksdemokratischen” Methoden noch deutlicher in Erscheinung trat.

Es ist klar, daß diese Abgrenzung — sosehr sie im einzelnen auch von taktischen Erwägungen, vor allem durch die Angriffe aus kommunistischem Lager auf die „Rechtssozialisten” seit der K om i n f ortng rümdu ng im Vorjahr bestimmt ist — doch zugleich auch den Ausdruck einer inneren geistigen Entwicklung darstellt, die sich im europäischen Sozialismus seit de.r Jahrhundertwende in steigendem Ausmaß, aber unter dem Eindruck der Ereignisse der letzten Jahrzehnte und Jahre vollzogen hat.

Stärker als in der Rhetorik der Kundgebung auf dem Rathausplatz — obwohl im allgemeinen auch hier, ebenso wie in dem Begrüßungsartikel des Wiener Parteiorgans, die angedeutete Linie durchaus erkennbar blieb — trat diese Entwicklung bei einer Veranstaltung in Erscheinung, die’zwar nicht offiziell, sondern nur personell mit der Konferenz in Zusammenhang stand, die jedoch zugleich als ein ideeller Vorspruch zur Tagung aufgefaßt werden konnte: in dem Vortrag, den der französische Abgeordnete und ehemalige Finanzminister Andre Philip am Vorabend des Konferenzbeginns im Rahmen des französischen Instituts über „Sozialismus und Humanismus” hielt.

Der Vortragende, eine der hervorstechenden Gestalten der Konferenz, ging dabei zunächst von dem humanistischen Ansatzpunkt aller sozialistischen Bestrebungen aus, die sich besonders deutlich bei den sogenannten „utopischen” Sozialisten und bei Prond- hon gezeigt hätten, an den man heute, über Marx zurückgehend, vielleicht wieder stärker anknüpfen müsse. Denn wenn das große Verdienst von Karl Marx auch in jener Schärfe seiner kritischen Analyse begründet liege, die, als Methode immer wieder auf die sich ändernden Verhältnisse angewandt, die wichtigste Erbschaft dieses Denkers an die sozialistische Bewegung darstelile, so seien doch unleugbar viele seiner Prophezeiungen, vor allem in der Konzentrations-, Akkumu- lations- und Verelendungstheorie, nicht eingetroffen. Einmal sei die Ent- wiklung des Proletariats selbst nicht auf der von Marx prophezeiten Linie des fortschreitenden Anwachsens und der Verelendung der ungelernten Handarbeitermasse erfolgt, sondern im Gegenteil, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Technisierung, durchdie Ausformung neuer Gruppen und Zwischenglieder gekennzeichnet. Zugleich befinden sich heute vielfach Arbeiter und Unternehmer desselben Industriezweiges in einer gemeinsamen Front gegenüber anderen Interessengruppen. Vor allem aber hat sich auch die Wirtschaft selbst nicht ausschließlich auf der von Marx vorgezeichneten Linie der Konzentration entwickelt, sondern neben dem modernen Monopolkapitalismus — für dessen Überwindung durch Sozialisierung sich Philip aussprach — vor- und frühkapitalistische Wirtschaftsformen beibehalten, deren Kontrolle und Koordinierung — nicht Sozialisierung — auch in einer sozialistischen Wirtschaftsordnung genüge. Diese sozialistische Ordnung aber kommt nicht, wie Marx meinte, durch eine zwangsläufige Entwicklung von seihst, sondern muß durch bewußtes, willensmäßiges Mandeln herbeigeführt werden. Dabei liegt in der Frage der Sozialisierung das Problem bei Jedem Industriezweig anders, so daß die zweckmäßigste Lösung sich oft erst nach mancherlei Versuchen, der Erfolg jeweils erst nach Jahren feststellen läßt. Allgemein aber ist dabei jede übermäßige Zentralisation und Bürokratisierung von Übel. Ihnen muß durch Weitgehende Selbstverwaltung, Dezentralisation und Verantwortlichkeit der unteren Instanzen begegnet werden.

Ans der Fülle der dadurch angeschnittenen Probleme griff der Vortragende, dessen Ausführungen sich durch die logische Klarheit des geschulten romanischen Juristen auszeichneten, schließlich zwei Punkte als wichtigste Forderungen für die Zukunft heraus: die Mitbestimmung der Arbeiter an der Führung der Betriebe und die Schaffung einer europäischen Einheit zur Bewahrung des westlichen Freiheits- und Persönlichkeitsbegriffes. Denn die Ziele eines demokratischen Sozialismus könnten nur auf demokratischem Weg unter Anerkennung der Rechte der Persönlichkeit und der Minderheit, nur in einem Mehrparteienstaat mit einer funktionierenden und regulierenden Opposition verwirklicht werden. Jegliche Diktatur aber gefährde Freiheit und Persönlichkeit und damit das Erbe der zweitausendjährigen abendländischen Kultur, zu deren Bewahrung sich Philip in seinem Schlußwort erneut bekannte.

Deutlich trat so in der theoretischen Formulierung dieses Vortrags wie in der praktischen Arbeit der folgenden Konferenz die geistige Wandlung zutage, die sich in unserem Jahrhundert innerhalb des europäischen Sozialismus vollzieht. Diese Wandlung ge- offenbart und durch die Autorität einer internationalen Konferenz unterstrichen zu haben, ist die zeitgeschichtliche Bedeutung dieser Tagung. Das Beispiel und das geistige Erbe der angelsächsischen Demokratien, das über die englische Labour Party in den europäischen Sozialismus eingeströmt ist, bat zu dieser Entwicklung ebenso beigetragen wie die nun schon ein halbes Jahrhundert zurückliegenden, übrigens auch zum Teil durch die englischen Fabier angeregten theoretischen Erwägungen der deutschen Revisionisten, vor allem des, durch die heutige Entwicklung gerechtfertigten Eduard Bernstein — auf den sich Philip ausdrücklich bezog —, oder, gerade in der Frage der Sozialisierung, die praktischen w i rescha f ts pol irischen Erfahrungen, welche die westeuropäischen, besonders die englischen und französischen Sozialisten, als Regierungsparteien in den letzten Jahren sammeln konnten. Vor allem aber war und ist es auch heute noch das Erlebnis und die Gefahr der Diktatur jeglicher Farbe, die den verantwortungsbewußten sozialistischen Arbeiterführern Westeuropas den Blick geöffnet hat für die geistigen Grundlagen der abendländischen Kultur, für die bereits in den vormarxistischen Anfängen erkennbaren humanistischen Ursprünge des sozialistischen Gedankenguts.

Trotz aller Vorbehalte, die mancher im einzelnen erheben mag, trotz aller unvermeidlichen, ja notwendigen Spannungen sind angesichts dieser Entwicklung im europäischen Sozialismus die Voraussetzungen für eine christliche Sozialpolitik so günstig wie nie zuvor, mit dem sozialistischen Partner, mit dem man sich ja in den meisten westeuropäischen Staaten längst in praktischer Regierungskoalition befindet, auch i d e e 1 ins Gespräch zu gelangen.

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