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Hundert Jahre Februarpatent

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I.

Als am 11. Juli 1859 Kaiser Franz Joseph den Vorfrieden von Villafranca unterzeichnete, der den Krieg vom gleichen Jahr beendete, unterzeichnete er auch gleichzeitig das Todesurteil über den neojosephinischen Staat, den er 1851 geschaffen. Dieser Staat konnte sich großer Erfolge auf wirtschaftlichen, kulturellen, ja religiösen Gebieten rühmen, besaß aber einen gewaltigen Schönheitsfehler: er gab den mündig gewordenen Völkern der Monarchie keinerlei Möglichkeit, ihr Schicksal mitzubestimmen. Die Nieder-

läge von 18 59 erschien deshalb den Völkern der Monarchie nicht so sehr als eine Niederlage Österreichs, denn als eine gerechte Niederlage dieses Systems. Und ihr Zorn richtete sich gegen die tragenden Männer dieses Systems, die Bach, Grünne, Kempen, Gyulay. Bei einem Besuch, den Graf Rechberg, Vorsitzender im Ministerrat, dem Kaiser in Verona abstattete, machte er ihn darauf aufmerksam, daß die Monarchie zugrundegehen müsse, wenn nicht die Männer des Systems fielen und Reformen Platz griffen. Mit einer jener plötzlichen Wendungen, die dem jungen Kaiser eigen waren, beendigte Franz Joseph rasch den Krieg und wandte sich den inneren Problemen des Staates zu.

Heute im nachhinein erscheint dieser Schritt des Kaisers als nicht richtig. Denn der Krieg war noch lange nicht verloren. Nach der Schlacht von Solferino hätte sich die kaiserliche Armee ins Festungsviereck zurückziehen können, wo sie unüberwindlich gewesen wäre. Die Lage Frankreichs dagegen wurde von Tag zu Tag bedrohlicher. Der Deutsche Bund, in dem Österreich den Vorsitz führte, beschloß die Mobilisierung von sechs Armeekorps, die am Rhein aufzumarschieren hätten. Napoleon IIL, dessen Armee nach Solferino ärger angeschlagen war als die österreichische, dessen Verbündete, die Piemontesen, für ihn nur ein Bleigewicht darstellten, hatte nur noch eine einzige große Chance: einen raschen Frieden. Er bot ihn Franz Joseph an und dieser griff mit beiden Händen darnach. Richtiger wäre es gewesen, die Reformen im Innern, die eines Tages doch getan werden mußten, mitten im Kriege durchzuführen und so gestärkt, den Krieg siegreich zu beenden. Aber der Kaiser beendigte den Krieg, um wenigstens im Innern seines Landes einen Sieg zu erringen.

II.

Diesen Sieg im Innern schien der Kaiser mit Erlaß des Oktoberpatentes zu erringen. Obwohl seit seinem

.ehrer Schwarzenberg skeptisch gegenüber den politischen Talenten des österreichischen Adels eingestellt, hatte er sich nach 1859 diesem Adel genähert, in der Hoffnung, in ihm jene tragende Schicht zu finden, mittels welcher es ihm möglich wäre, sein Reich nach seiner Idee zu regieren, Franz Joseph ging es vor allem darum, sein Reich als eine Einheit zu bewahren, von ihm den westlichen Konsistentialismus femzuhalten und sich als ausschlaggebene politische Macht erhalten zu sehen, da er mit Recht sich als das verbindendste Ele-

ment dieser Monarchie betrachten konnte.

Diese hochfeudalen Ratgeber des Kaisers, diese ungarischen und böhmischen Altkonservativen, glaubten dem Kaiser versichern zu können, daß seine Ideen Bestand hätten, wenn er ihr Programm annehme. Dieses Programm, das dann im Oktoberdiplom 1860 Wirklichkeit wurde, sah die Umwandlung der Monarchie in einen Bund mehr oder minder weniger selbständiger Staaten und die Reduzierung des Wiener Zentralismus auf ein Mindestmaß vor. Gemäß dieses Programms sollten alle Völker der Monarchie gleich behandelt werden.

Heute, im nachhinein, muß zugegeben werden, daß dieses Oktoberdiplom von 1860 einer der bedeutendsten und wohl auch richtigsten Versuche war, wie die Monarchie regiert werden konnte. Denn dieses Reich konnte nur auf föderalistischer Ebene bestehen, in dem alle Völker und alle historischpolitischen Länder gleichberechtigt waren.

Aber dieses Oktoberdiplom hatte zwei große Fehler, zumindest in den Augen seiner Zeitgenossen: Es gewährte nur einer sehr geringen Schicht eine parlamentarische Vertretung, und es gewährte allen Nationen die Gleichberechtigung und nahm dadurch zwei Nationen ihre führende Stellung, nämlich den Deutschen und den Madjaren. Die Deutschen wollten die westliche Reichshälfte als ihre Domäne betrachten und die Magyaren die östliche Reichshälfte als einen ungarischen Nationalstaat nach ihren Ideen geformt sehen. Unter dem Ansturm dieser beiden Völker mußte dieses große Konzept, kaum erlassen, schon wieder scheitern. Und wie immer, wenn etwas nicht funktioniert, wird ein Sündenbock gesucht. Die Hochfeu- len behaupteten, der Mißerfolg des Oktoberdiploms sei auf die Unpopularität der österreichischen Minister zurückzuführen, besonders des Innenministers, des polnischen Grafen Goluchowski. Der Kaiser möge diesen opfern und statt dessen den Abgott der Liberalen, Anton von Schmerling, zum Innenminister machen.

III.

Anton Ritter von Schmerling, ehemals Justizminister Schwarzenbergs, ehemals Mitglied der Paulskirche und Reichsminister Deutschlands, galt tatsächlich allgemein als Liberaler. Franz Joseph, dem Schmerling sicherlich dank seiner Vergangenheit nicht ganz genehm sein konnte, überwand, wie so oft in seinem Leben, auch hier seine persönlichen Gefühle und berief Schmerling zu sich. Schon bei der ersten Unterredung mußte der Kaiser erkennen, daß Schmerling dem Denken des Kaisers viel näher stand als er je

annehmen konnte. Denn Schmerling entpuppte sich als ein Anhänger des zentralistischen josephinischen Staates, der scheinbar nach 1859 für immer zugrundegegangen war. Wie der Kaiser war auch Schmerling ein unbedingter Anhänger der Reichseinheit, sah aber, ganz nach josephinischem Konzept, die Föderalisierung der Monarchie als ein Unglück an. Der Kaiser erkannte auch sogleich, daß Schmerlings Liberalismus nicht sehr tief war, und so akzeptierte er rasch dessen Programm. Gemäß diesem Programm sollten nicht mehr die Landtage, sondern ein zentraler Reichsrat die eigentliche parlamentarische Macht darstellen. Und dieser Reichsrat sollte sich gemäß einem Wahlsystem zusammensetzen, der dem deutschen Bürgertum beziehungsweise den Italienern dank einer raffinierten Geometrie den Vorrang vor den Slawen sichern mußte. Durch eine Gliederung in einen engeren und weiteren Reichsrat wollte Schmerling die Magyaren, die nur im erweiterten Reichstag vertreten sein sollten, zur Anerkennung der Reichseinheit zwingen. Diesen Reichsrat, bestehend aus zwei Häusern, sollte auch eine weitgehende legislative Kompetenz eingeräumt werden, vor allem das Urrecht aller Parlamente, das Budgetrecht. Kaiser Franz Joseph akzeptierte alle Wünsche Schmerlings. Zu spät bemerkten die Altkonservativen, welche Niederlage sie sich selbst bereitet hatten, als sie den jungen Kaiser auf Schmerling hinwiesen. Das am 21. Februar 1861 erlassene Februarpatent, welches sich äußerlich als eine Durchführungsverordnung für das Oktoberdiplom ausgab, widersprach aber diametral den Wünschen der Altkonservativen. Die Föderalisierung Österreichs, diese große Idee des Oktoberpatents, wurde damit für lange Zeit zu Grabe getragen. Die Landtage sanken auf ein provinzielles Niveau herab, wodurch den einzelnen Ländern der Monarchie die Möglichkeit genommen wurde, ihr Dasein als echter Staat zu leben. Neben all. diesen Negativen soll nicht die Großtat des Februarpatents vergessen werden, die Schaffung eines echten Parlaments.

IV.

Das österreichische Parlament ist seit seiner Gründung vor einem Jahrhundert fast immer der Bezeichnung treu geblieben, die es führt. Es ist ein „Rat“, ein „Reichsrat", ein „Nationalrat“, ein „Bundesrat“. Das österreichische Parlament war in seinen hundert Jahren des Bestandes nur selten ein „Tag" eine echte politische Institution, die niemand überspielen kann. In diesen hundert Jahren gelang es dem österreichischen Parlament nicht, jene Bedeutung zu erlangen, die ein englisches Unterhaus, ein amerikanischer Senat, ein Schweizer Parlament sich erringen konnten, Parlamente, die echte „Tage" und keine „Räte“ sind. Das österreichische Parlament hatte nur zu oft die Funktion

eines Ratgebers, der gar nicht gehört werden muß. Schon allein das Notverordnungsrecht des berühmten Paragraphen 14 gab die Chance, eben dieses Parlament immer wieder zu übergehen.

Nur zu oft setzte es sein Ansehen durch ein unwürdiges Verhalten oder durch eine Nichtwahrung seiner Rechte aufs Spiel. In der Ersten Republik schaltete sich das Parlament sogar formalrechtlich selbst aus, ohne daß diese Tat im Volk ein tieferes Echo hervorrief. Ja vielfach wurde dieser

Tod des Parlaments als ein gerechtes Schicksal angesehen, wobei nicht bedacht wurde, daß die Ausschaltung eines Parlaments immer an die Grundrechte eines Staates rührt. Und in der Zweiten Republik wurde das Parlament teilweise zu Österreichs teuerstem Notar umgewandelt. Denn die eigentlichen politischen Entscheidungen fallen nicht im Hohen Haus, und die Tätigkeit des Parlaments besteht vielfach nur darin, unter diese Entscheidungen sein Siegel zu drücken, um sie dadurch legal zu machen, so wie ein Notar durch sein Siegel einen Vertrag legal macht.

Nur von der „Ratfunktion" des österreichischen Parlaments aus ist es verständlich, daß es sich 1960 dem Diktat zweier Parteien beugte und die

Debatte über das Budget, das ureigenste Recht aller Parlamente, über die gesetzliche Frist verschoben werden konnte. Wer hat je ähnliches von einem englischen Parlament gehört?

So ist das einhundertjährige Dasein des Parlaments in Österreich ein Ereignis, das auch dazu führen soll, sich darüber Gedanken zu machen in welcher Weise das österreichische Parlament auf seiner Entwicklung weiterschreiten soll, damit endlich aus einem „Rat“ ein „Tag" werde.

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