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Digital In Arbeit

„Ich brauche das Gespräch“

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Ich bin alles andere als ein Menschenfeind; ich liebe die Menschen, und ich möchte ihre Dramen, ihre Träume und ihre Hoffnungen kennen: deshalb treibe, ich Geschichte. Ich habe sogar angefangen, selber eine Weltgeschichte zu schreiben, genauer gesagt, eine „Historianalyse“. (Zugegebenermaßen eine häßliche Bezeichnung, aber schließlich hat man sich auch an ein ebenso unschönes Wort wie „Psychoanalyse“ gewöhnt.) Es handelt sich nicht um eine Geschichtsphilosophie, wie sie etwa Hegel entworfen hat, auch nicht um eine methodologische Studie in der Art Toyn-bees. Mir geht es um die Grundformen der Gesellschaft und der Zivilisation, die sich in den einzelnen Zeitaltern entwickelt haben. Es gibt da bestimmte Formen, die im Laufe der Geschichte wiederkehren: Priesterherrschaft, Tyrannis, Demokratie, imperiales Reich und andere. Beispielsweise ist die kommunistische Gesellschaft bei weitem keine Erfindung des 20. Jahrhunderts: im alten China, im Persien des frühen Mittelalters und anderswo haben sich ähnliche Formen des Zusammenlebens gebildet und einige Zeit erhalten. Auch gibt es typische Entwicklungen, die sich mehrmals in der Geschichte wiederholen. Ein Beispiel, das jeder kennt: Ein kleiner Staat wächst, wird imperialistisch, überquert das Meer und gründet Kolonien; die Kolonien fallen vom Mutterland ab, das Reich zerfällt in lauter kleine Staaten, die nun ihrerseits die gleichen Stadien durchlaufen: sie überqueren das Meer, gründen Kolonien... und so geht es weiter.

Im Licht der Historianalyse wird die Geschichte gewissermaßen durchsichtig; man erfaßt allmählich den Sinn ihrer Werke, denn sie wollte in jeder Gesellschaftsform ein bestimmtes Menschheitsideal verwirklichen. Auch werden ihre Wiederholungen immer deutlicher...

Ein großer Teil dieser Arbeit ist schon abgeschlossen: über tausend Seiten. Es ist ein außergewöhnliches Buch, das mir viel Kopfzerbrechen macht; aber eines Tages werde ich es geschafft haben ...

„Das Jüngste Gericht“ ist offengestanden mein einziges Buch, das Buch meines Lebens. Seit fünfzig Jahren denke ich daran, und seit vierzig Jahren bemühe ich mich, es zu schreiben. Eigentlich habe ich es ja schon geschrieben, mehrmals sogar, Tausende und aber Tausende von Seiten. Aber es ist noch nicht fertig, und ich weiß auch nicht, ob ich es je soweit bringen werde. Ich bin nicht mehr jung, und ich habe noch so vieles nebenbei zu tun • • • Außerdem habe ich mich nicht immer in der Hand: plötzlich drängt sich mir ein neues Buch auf und zwingt mich zum Schreiben; und wenn ich nicht nachgebe, quält es mich ...

Früher sprach ich manchmal von zwei Arbeiten, die sieh in Vorbereitung befänden, „Betrachtungen über den Menschen“ und „Adam“ — aber das war immer das gleiche Buch vom Jüngsten Gericht, vielmehr' das gleiche Thema. Denn ich habe* dieses opus magnum niemals aufgegeben, nur Inhalt und Titel haben sich geändert. In meiner Jugend plante ich einmal eine erschöpfende, wissenschaftlich exakte Beschreibung des Menschen, eine kalte, nüchterne Studie, wie man sie vielleicht von einem anderen Planeten aus anstellen würde. Ich nannte das Buch „Betrachtungen über den Menschen“. Es war das Werk eines Naturwissenschaftlers, und es beschränkte sich darauf, den Menschen als siegreichen und mit Privilegien ausgestatteten Erdbewohner zu schildern. Ich schrieb also die Naturgeschichte von etwas, was eigentlich das Thema der Weltgeschichte ist. Ich hatte schon wer weiß wie viele Seiten vollgeschrieben, da gab ich eines Tages das Ganze auf: ich hatte den Menschen als Gottes Geschöpf erkannt, dem ich als reiner Naturwissenschaftler nicht beikommen konnte. Später nahm ich diese Arbeit wieder auf: ich schrieb am „Adam*, ich schrieb immerzu, ohne ein Ende abzusehen ...

Und daneben erschienen immer neue Bücher, denn ich hatte meinen Zeitgenossen eine ganze Menge zu sagen. Ich konnte auf das Gespräch mit ihnen nicht verzichten, um mich ausschließlich einem Buch zu widmen, das für alle Zeiten und für jedermann bestimmt war; ich mußte mich auch an sie wenden, denn ein Schriftsteller kann sich nun einmal seine Leser nicht heraussuchen, er kann sich auch nicht bloß auf seine posthumen Leser verlassen ...

Als ich einige tausend Seiten gefüllt hatte, sah ich ein, daß die Arbeit viel zu breit angelegt war. Ich wollte alle Werke des Menschen aufzählen, alle Kulturen beschwören, die Weltgeschichte ganz ausschöpfen, den Weg aller Gedanken zurückverfolgen, das religiöse Drama des Menschen schildern, seine Moral und seine Kunst erläutern... Selbst wenn ich ein Jahrhundert lang gelebt hätte, wäre ich nicht damit fertiggeworden. Ich habe mich dann auf einen einzigen Augenblick im Leben der Menschheit konzentriert, den allerletzten, schrecklichsten: ich beschloß, das Jüngste Gericht zu beschreiben ...

Fünfzig Kapitel, fünfzehnhundert Seiten ... das heißt, ich muß Tausende von bereits geschriebenen Seiten zusammenstreichen und raffen... Dabei denke ich oft an Dante: auch er wollte in der „Göttlichen Komödie“ über einen Teil der Menschheit berichten, nur einen Teil; was ich mir vorgenommen habe, ist viel ungeheuerlicher, viel furchtbarer. Ich weiß nicht, ob ich lang genug lebe, um mein „Jüngstes Gericht“ zu vollenden. Einmal sagte mir jemand, der ein paar Kapitel des Manuskripts gelesen hatte: Eigentlich sollte das der liebe Gott lesen, und zwar im ganzen;vielleicht erinnert er sich am Tage des Jüngsten Gerichts wieder daran.,.

Früher glaubte ich, daß das Christentum die menschliche Natur radikal ändern könne. Das war gleich nach dem ersten Weltkrieg, als ich „Das Leben des Herrn“ schrieb. Ich hatte gehofft, daß die Schrecken des Krieges die Menschen zu Christus führen würden. Die gleiche Wendung erwartete ich dann nach dem zweiten Weltkrieg. 1946 veröffentlichte ich die fingierten „Briefe des Papstes Cölestin VI. an die Menschen“. Es war der verzweifelte Schrei eines Menschen, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte. Doch mein Glaube bleibt auch nach dieser Enttäuschung fest, und ich hoffe weiter.

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