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„Ich entdeckte: Der Fötus ist ein Mensch”

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Von einem Vorkämpfer der Abtreibung hat sich Bernard Nathanson zum radikalen Abtreibungsgegner gewandelt. Ein Gespräch über seine Bekehrung.

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Von einem Vorkämpfer der Abtreibung hat sich Bernard Nathanson zum radikalen Abtreibungsgegner gewandelt. Ein Gespräch über seine Bekehrung.

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OIEFüRCHE: In den siebziger Jahren waren Sie ein Meinungsführer im Kampf für die Abtreibung. Sie leiteten die größte Abtreibungsklinik der Welt Was empfanden Sie dabei? Bernard Nathanson: Ich führte etwa 5.000 Abtreibungen selbst durch und hatte die Aufsicht über 70.000 weitere, also waren es insgesamt 75.000 in meinem Leben. Es war für mich wie jede andere Arbeit eines Gynäkologen, ich hatte dabei keine besonderen Gefühle.

DIEFURCHE: Dann kam es zum spektakulären Wechsel, „pro-life”... nathanson: Das war eine Periode von vier oder fünf Jahren und kein Erlebnis wie auf dem Weg nach Damaskus. Ich forschte an Embryonen, lange und intensiv. Und auch, als ich meine Meinung schon geändert hatte, ging es stufenweise weiter: Eine Zeitlang führte ich Abtreibungen durch, wenn es um die Gesundheit der Mutter, um ihr Leben ging. Oder wenn das Baby deformiert war. 1979 schließlich hörte ich ganz auf damit. Ich fühlte, daß wir nun genug über menschliche Föten wußten, um zu erkennen, daß sie Teil der menschlichen Gemeinschaft sind.

DIEFURCHE: Und seither schließen Sie Abtreibungen auf jeden Fall aus? Nathanson: Ja, es gibt keine Umstände, unter denen ich eine Abtreibung sanktionieren würde.

DIEFliRCHE: Fühlten Sie Reue, Schuld, oder Scham? nathanson: Erst im Rückblick empfand ich Schuld. Sie müssen verstehen: Als ich abtrieb, tat ich das aus Überzeugung. In jener Situation des Vietnamkriegs, der anti-autoritären Welle der Rebellion, tat ich, was ich für richtig hielt für die Frauen.

DIEFURCHE: Was war die wichtigste Erkenntnisfür Ihre Meinungsänderung? nathanson: Einsichten der Medizintechnik, die uns ein Fenster in die Frau gab. So konnten wir den Fötus studieren. Mit Ultraschall, elektronischer Herzüberwachung. Medizinstudenten vor der Ära des Ultraschalles haben nie den Fötus in der Frau gesehen. Sein Menschsein war eine Sache des Glaubens. Aber nach 1973 erhielten wir empirische Daten, konnten wir das bestätigen. Und das war sehr beeindruckend.

DIEFURCHE Dennoch gibt es laut UNO-Schätzung weltweit ca 45.000.000 Abtreibungen Wie rech fertigen das die Abtreibungsbefürworter heute? nathanson: Sie sprechen noch immer vom Personsein. Es ist ihr mächtigstes Argument: Bestimmte Menschen seien eben noch keine Personen. Es war in der Mitte des 19. Jahrhunderts, daß wir in den USA festsetzten, daß Schwarze keine Personen seien. Hier in Europa wurden in den 30er und 40er Jahren Juden nicht als Personen angesehen, Zigeuner, Homosexuelle. So dient das Wort Personalität dazu, eine bestimmte Gruppe von Menschen auszuschließen, es setzt Standards für das Menschsein. Aber: Wer von menschlichen Eltern stammt, ist Mensch.

DIEFURCHE: In den 70er Jahren arbeiteten Sie mit Feministinnen wie Betty Freedan zusammen Welche Rolle spielt der Feminismus heute in der Abtreibungsfrage? nathanson: Heute spielt er die Schlüsselrolle auf der anderen Seite. Die Feministinnen bestehen auf dem, was sie reproduktive Freiheit nennen, reproduktive Bechte. Heute erleben wir eine Perversion der Autonomie. In der westlichen Gesellschaft haben wir das Prinzip und das Becht zu tun, was wir wollen. Das wird inzwischen so verehrt und aufgeblasen im Verhältnis zu allen anderen Verantwortlichkeiten und Freiheiten, daß es einen gottähnlichen Status erhält. Alle Bindungen zu Gemeinschaft, Kirche, Familie wurden in diesem Drang, freie Wahl zu garantieren, vergessen. Nun ist die freie Wahl unser Gott.

DIEFURCHE Was bedeutet für Sie die Kenntnis Gottes? nathanson: Meine Änderung der Sichtweise der Abtreibung hat nichts damit zu tun. Meine Konversion zum Christentum ist eine ganz andere Angelegenheit. Die katholische Kirche und ich - wir waren schon sehr lange auf parallelen Gleisen gefahren, vor allem auf dem Gebiet der Bioethik. Und dann entschied ich mich aus vielen Gründen, daß sie zusammenführen sollten. Protestantische Kirchen haben so ein Spektrum von Ansichten zu sozialethischen Fragen, daß ich mir nicht vorstellen konnte, Protestant zu werden. Die einzige Kirche, die hartnäckig und eindringlich der Abtreibung und anderen Übeln unserer Gesellschaft widerstanden hat, ist die katholische. Das war ein Grund. Ein anderer ist, daß sie die Macht hat, mir Vergebung zu erteilen für die schwere moralische Last, die ich getragen habe und die ich in die nächste Welt tragen würde. Ich habe mehrere Male geheiratet. Es gab schreckliche Dinge, ich hatte es verzweifelt nötig, Vergebung zu finden und liebende Sorge in einem spirituellen Sinn, im Glauben, in einer Kirche. Aber verstehen Sie bitte: Ich. bin noch immer Jude. Und ich bin stolz, Jude zu sein. Diese Tradition ist für mich wundervoll, das Essen, der Humor, die Sprache, die Jiddischkeit. Ich werde immer Jude sein. Aber ich bin einen Schritt weitergegangen und wurde ein Jude, der Jesus Christus angenommen hat. dieFl'RCHE: Kehren wir zurück zum Kampf gegen die Abtreibung. Es gibt radikale Gruppen in den USA, sie greifen die Kliniken an, schießen Abtreiber nieder. Was meinen Sie dazu? nathanson: Ich denke, daß alles, was nicht gewalttätig ist, erlaubt ist. Da gibt es viele Dinge, die die Anti-Sklaverei-Kämpfer taten, und die wir tun in der Bewegung gegen Abtreibung: Prinzipiell nicht gewalttätig, aber demonstrierend, aufklärend, die Frauen beratend, sie um sich kümmernd. Ich ziehe die Linie bei jeder Art von Gewalt, egal ob physisch oder emotional.

DIEFURCHE Es gibt ja noch andere Bereiche, in denen das Leben bedroht ist-zum Beispiel die „Sterbehilfe”. Wird die Gesellschaft da den gleichen Weg einschlagen wie bei der Abtreibung? nathanson: Das ist sehr schwierig zu sagen. Die amerikanische Ärztevereinigung hat sich scharf gegen Euthanasie ausgesprochen. Derzeit liegen zwei Euthanasie-Fälle beim Obersten Gerichtshof, die erörtert werden. Eine Entscheidung wird in den nächsten Monaten erwartet. In der Abtreibungsfrage gab es ja das Urteil des „Su-preme Court” in der Sache „Boe v. Wade” 1973. Mich würde es nicht überraschen, wenn der Oberste Gerichtshof sagt: Wir wollen nicht noch einmal in diese gesellschaftlichen Angelegenheiten involviert werden. Jeder Staat kann selbst entscheiden, wir wollen damit nichts zu tun haben. In diesem Fall werden Staaten wie Oregon, Washington und Kalifornien die Euthanasie legalisieren. Als Ergebnis werden dort kleine Krankenhäuser entstehen, die das machen. Und wenn Sie in Michigan wohnen, werden Sie mit Ihrem alten Vater, der krebskrank ist, nach Oregon fliegen, ihn überreden, das Papier zu unterschreiben, und ihm die Injektion geben lassen. Zuerst wird es diskret, fürsorglich und rein zugehen, eine komfortable Atmosphäre herrschen. Aber nach einiger Zeit - so ist es auch bei den Abtreibungskliniken geschehen - werden diese Krankenhäuser von den Geschäftemachern übernommen, sie werden die Kosten stark reduzieren. Und dann wird es heißen: Her mit Ihrem Vater, Injektion hinein. Und weg mit ihm.

DlKFl KCl IE: Haben Sie noch Kontakt mit Ihren Mitstreitern für die Legalisierung der Abtreibung? Wie denken diese über Ihren Sinneswandel ? Nathan son: Ich glaube, denen ist das egal. Was ich mache, ist an die öffentliche Meinung zu appellieren. Ich habe vor vielen Jahren diese Tätigkeit begonnen. Ich wurde vor Jahrzehnten sehr bekannt für meinen Kampf für die Legalisierung der Abtreibung. Als ich meine Meinung änderte, fühlte ich mich moralisch verpflichtet, damit ebenso laut zu sein und öffentlich zu werden. So begann ich Filme zu machen, Bücher zu schreiben. Vorträge zu halten. Auch um Gleichheit gegenüber meinen früheren Aktivitäten herzustellen. Das ist meine geistliche und moralische Verantwortung.

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