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Ich stehe hier auf Befehl!

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Der Name des Generalfeldmarschalls Friedrich Paulus ist mit der Tragödie von Stalingrad engst verbunden, aber auch mit dem Versuch der sowjetischen Politik, den gefangenen Befehlshaber der 6. Armee im Rahmen dei politischen Kräftespiels einzuspannen. Deswegen muß das vorliegende Werk als ein Versuch gewertet werden, die Persönlichkeit von Friedrich Paulus getrennt von den Ereignissen der Jahre 1944/45 und nachher zu sehen. Im übrigen hat eine jüngste, sehr gründliche Untersuchung eines deutschen Historikers (Bodo Scheurig: Freies Deutschland, München i960; siehe „Die Furche“, Nr. 22, 28. Mai 1960) gezeigt, daß Paulus sich erst unter dem Eindruck der Ereignisse des 20. Juli 1944 dem Nationalkomitee bzw. dem „Bund deutscher Offiziere“ zur Verfügung stellte. Über die Beweggründe wird noch auf Grund des von Walter Görlitz herausgegebenen vorliegenden Buches zu berichten sein.

Der Herausgeber — selbst durch eine Reihe historischer Werke bestens bekannt — hat nicht nur Aufzeichnungen und Erinnerungen aus der Familie des Feldmarschalls verwenden können, sondern auch die Unterstützung zahlreicher ehemaliger Kameraden von Paulus erhalten; nicht zuletzt konnte er die von Dr. Hans Adolf Jacobsen, einem der hervorragendsten Sachkenner der Geschichte des zweiten Weltkrieges, gesammelten Unterlagen zur gegenständlichen Problematik verwerten.

Das Buch gliedert sich in eine Darstellung des Lebensbildes von Friedrich Paulus und in einen seht umfangreichen Dokumententeil, der zumeist auch die nach 1945 entstandenen Reflexionen des geschlagenen Feldherrn von Stalingrad über seine Führung, deren Ergebnisse und Schlußfolgerungen neben anderen Aufzeichnungen (Kriegstagebuch der Luftflotte 4 und persönliches Tagebuch des Chefs dieser Luftflotte, Generaloberst Wolfram Freiherr von Richthofen) enthält. Wenn auch an verschiedenen Stellen sowjetrussische Quellen herangezogen werden, darunter die Aufzeichnungen des Marsch Iis Jeromenko, so muß bedauert werden, daß, wie in allen Bereichen der Geschichte des zweiten Weltkrieges, die Ergebnisse der sowjetischen Geschichtsforschung noch zuwenig ins Deutsche übertragen wurden.

Wer war Friedrich Paulus, der Mann, der Stalingrad „auf Befehl“ in aussichtsloser Lage hielt, entgegen den Erwartungen Hitlers in Gefangenschaft geriet und dessen Namen Hunderttausende von Müttern und Witwen verfluchten, ebenso wie viele seiner ehemaligen Kameraden glaubten, in ihm einen zweiten Ybrck der deutschen Ostfront in den Monaten November 1942 • bis Jänner 1943 erblicken zu können? Der Lebensweg dieses Offiziers ist charakteristisch für die soziologische Schichtung des preußisch-deutschen Heeres vor 1914 und nach 1918. Der 1890 in der Provinz Hessen-Nassau geborene Friedrich Wilhelm Ernst Paulus war der Sohn eines kleinen Beamten, und sein Ziel, in die Marine Wilhelms II. aufgenommen zu werden, scheiterte an der Exklusivität des Offizierskorps der kaiserlichen Marine, in der Adel und reiche Eltern beliebter waren als Können. Nach einer kurzen Episode als Student an der juridischen Fakultät in Marburg kam Paulus in das Infanterieregiment Nr. 111 (Markgraf Ludwig Wilhelm), machte die übliche Laufbahn durch und heiratete eine rumänische Bojarentochter, für die ehemalige deutsche Armee eine bizarr-romantische, aber auch interessante außenpolitische Verbindung, die ihm im zweiten Weltkrieg um ein Haar die Stellung eines Generalstabschefs in einer geplanten Heeresgruppe unter dem Staatsführer Marschall Antonescu eingetragen hätte. Als Adjutant in verschiedenen Verwendungen, Generalstabsoffizier ohne besondere hervorragende Stellung, galt er als fleißiger, peinlich genauer Offizier und wurde in die Reichswehr übernommen, in der er, obgleich nicht dem preußischen Adel angehörend, als tonangebend und gegenüber den bürgerlichen Offizieren oft abstoßend wirkte, seinen vorgezeichneten Weg machte und nach 1933 zu einem der Mitschöpfer der deutschen Panzerwaffe wurde. Beck und vor allem Halder hielten viel von djesem, mehr an den Schreibtisch gebundenen, sehr korrekten und genauen Arbeiter und förderten ihn. Seine entscheidende Lebenswende war die dienstliche Begegnung mit dem späteren Generalfeldmarschall Walter von Reichenau. Dieser, ein begabter, aber auch politisch ambitionierter, den Freuden des Lebens jeder Art zugewendeter Offizier, nahm ihn als Chef des Generalstabes in seine 6. Armee, die bald als die „glückhafte“ bezeichnet wurde; an der Seite Rechenaus konnte er die Kapitulation tn Belgien erleben. Kein Geringerer als Generaloberst, Halder berief ihn zum Oberquartiermeister I, somit faktisch zum stellvertretenden Generalstabschef. Alle Planungsarbeiten der nachfolgenden Feldzüge tragen das Signum der genauen Arbeit von 'Paulus, der kaum damit rechnen konnte, eine Führungsaufgabe übertragen zu erhalten, bis nach dem plötzlichen Tod seines einstigen Gönners Reichehau am 20. Jänner 1942 die 6. Armee inr mitten schwerster Kämpfe ihm überantwortet wurde. Er hat diese Armee aus den Winterkämpfen in den verfehlt angesetzten Sommerfeldzug 1942 geführt, bis Stalingrad; den Befehlen gehorchend, ohne zu ahnen, welchem Schicksal er entgegenging. Erst nach der Einschließung und der zunehmenden Verschlechterung der Lage im Kessel zeigte sich in der Krise am 19. Dezember 1942, daß dieser Offizier, der in seinem Äußeren, trotz der bürgerlichen Herkunft, so sehr der typische Generalstabsoffizier des preußisch-deutschen Heeres war, politischen Erwägungen, selbständigem Handeln in einer historischen Stunde völlig unzugänglich war. Das Erschütternde des vorliegenden Werkes ist wohl die Tatsache, daß Paulus so wie viele Offiziere seiner Generation unte^ dem Druck der Dolchstoßlegende stand. In seiner nach 1945 verfaßten rückblickenden Betrachtung (S. 262/263) heißt es:

„Entbindet die Aussicht auf den eigenen Tod oder den wahrscheinlichen Untergang oder die Gefangenschaft der eigenen Truppe den Verantwortlichen vom soldatischen Gehorsam?

Für diese Fragen möge heute ein jeder für sich selbst und vor seinem eigenen Gewissen die Antwort finden.

Damals hätten Wehrmacht und Volk eine solche Handlungsweise meinerseits nicht verstanden. Sie wäre in ihrer Auswirkung ein ausgesprochen revolutionärer, politischer Akt gegen Hitler gewesen. Es steht auch dahin, ob ich durch ein befehlswidriges Verlassen der Position Stalingrad nicht gerade Hitler die Argumente in die Hand gespielt hätte, die Feigheit und den Ungehorsam der Generale an den Pranger zu stellen, ihr (ihnen) die ganze Schuld an der sich immer drohender abzeichnenden militärischen Niederlage aufzubürden.

Einer neuen Legende, nämlich der des Dolchstoßes von Stalingrad, hätte ich den Boden bereitet zum Nachteil des Geschichtsbildes unseres Volkes und der ihm so nottuenden Erkenntnisse aus diesem Kriege. Die umstürzende Absicht, die Niederlage bewußt herbeizuführen, um damit Hitler und das nationalsozialistische System als Hindernis für die Beendigung des Krieges zu Fall zu bringen, ist weder von mir erwogen worden, noch kam sie mir aus meinem ganzen Befehlsbereich in irgendeiner Form zur Kenntnis.

Solche Gedanken lagen damals außerhalb des Bereiches meiner Überlegungen. Sie lagen aber auch außerhalb meiner persönlichen Eigenart. Ich war Soldat und glaubte damals, gerade durch Gehorsam meinem Vaihwtä'Me'iptk IE 'm“J|“I I - iVtds die Verantwfirtljäiktil der mil;t0t<mteltfcn Führer anbetrifft, soec/aÄaeH e skh, ^takthch gesehen, in der Ausführung meiner Befehle in der gleichen Zwangslage wie ich im Rahmen der großen operativen Lage und der mir erteilten Befehle.

Vor den Truppen und den Truppenführern der 6. Armee sowie vor dem deutschen Volk trage ich die Verantwortung, daß ich die von der Obersten Führung gegebenen Durchhaltebefehle bis zum Zusammenbruch durchgeführt habe.

Friedrich Paulus, Generalfeldmarschall des ehemaligen deutschen Heeres.“

In diesen Sätzen ist wohl die Tragödie des deutschen Generalstabs enthalten, der nicht erst seit 1933, sondern schon unter Ludendorff die bewußte Heranbildung von „Erfüllungsgehilfen“ und nicht mehr von operativ handelnden Persönlichkeiten erlebte, dessen eigenwilligste Köpfe, wie etwa Manstein, vor der großen Entscheidung zurückscheuten. Es blieb der nächsten Generation überantwortet, in der Gestalt Staufenbergs Konsequenzen zu ziehen, und der im Aktenteil zitierte Brief Staufenbergs vom

Zum vorliegenden Werk sei nur noch kritisch bemerkt, daß die Arbeit des österreichischen Publizisten Heinrich Maria Waasen, „Was geschah in Stalingrad?“ (Salzburg 1950), hätte beachtet werden müssen.

DIE ENTFESSELUNG DES ZWEITEN WELTKRIEGES. Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939. Mit Dokumenten. Von Walther H o f e r. Fischer-Bücherei, Band 323. Großband, 379 Seiten. Preis 3.30 DM.

Das vorliegende Werk des Schweizer Historikers, der lange Zeit in West-Berlin lehrte, ist die Überarbeitung eines zuerst vom Institut für Zeitgeschichte in München vor sechs Jahren herausgegebenen Buches, das sich längst einen festen Platz in der internationalen historischen Literatur gesichert hat. 'Siehe meine Besprechung in „Die österreichische

Die wertvollste Ergänzung des vorliegenden Bandes ist die beigegebene Dokumentation, welche sich auf die seither veröffentlichten Aktenpublikationen zu stützen vermag. In dieser Synthese von Darstellung und Dokumentation wird das Werk — das sei vorweg hervorgehoben — für das Selbststudium und den Unterricht an höheren Schulen und Universitäten ein unentbehrlicher Helfer sein.

In Gliederung und Einteilung folgt Hofer im großen den früheren Ausgaben und betont, daß auch die neuen Aktenfunde zeigen, daß letzten Endes der zweite Weltkrieg „entfesselt“ wurde, zum Unterschied von der „Entstehung“ des ersten Weltkrieges. Die einzelnen Phasen dieser „Entfesselung“, vor allem das verhängnisvolle Erwerbsgeschäft auf Gegenseitigkeit zwischen Molotow und Ribbentrop am 23. August 1939 sowie der unbändige Drang Hitlers zur kriegerischen Lösung, finden in dieser meisterhaften Darstellung eine Aufhellung, die auch die zukünftige Geschichtsschreibung höchstens ergänzen, kaum aber übertreffen kann.

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