"Ich wollte es noch einmal wissen“

Werbung
Werbung
Werbung

Nora Kobermann war fast 50 Jahre alt und sehnte sich nach einer neuen Aufgabe. Heute betreut die Sozialarbeiterin und vierfache Mutter obdachlose Menschen - und möchte nun auch Freiwilligen möglich machen, es ihr gleichzutun.

Draußen vor der Tür gibt es ein Problem. Draußen im feucht-kalten Grau-in-Grau des Josefstädter Gürtels steht ein Mann mit Hausverbot - wegen Verdachts auf Tuberkulose. Doch er selbst beschwört, von nichts zu wissen. Eine ärztliche Bestätigung seiner TBC-Freiheit, die das Hausverbot wieder aufheben würde, hat er schon gar nicht dabei. "Dem muss man natürlich nachgehen“, sagt die drahtige Frau mit dem Kurzhaarschnitt und schlüpft rasch durch die Tür, um mit ihrem Teamkollegen das weitere Prozedere abzuklären.

Es ist einer dieser Fälle, die Nora Kobermann meint, wenn sie von der "Buntheit“ ihrer Arbeit spricht; von den ständigen Überraschungen; von der Tatsache, dass sie am Morgen eines Arbeitstages keine Ahnung davon hat, was er bringen wird und wie er endet. Gottlob ist die 52-Jährige ein abenteuerlustiger Mensch. "Das ist das, was ich brauche“, sagt sie nach ihrer Rückkehr mit einem schelmischen Lächeln, während eine anrauschende U6-Garnitur das Gewölbe zum Erbeben bringt. "Ich brauche keinen faden Bürojob, sondern ich brauche Menschen um mich - und Mitarbeiter mit Humor. Mit Freude an der Arbeit kann man schließlich unendlich viel bewegen.“

Null Toleranz von Gewalt

Immer lustig ist der Job hier in der "JOSI“, dem Tageszentrum für Obdachlose und Straßensozialarbeit direkt in der U-Bahn-Station Josefstädter Straße, trotzdem nicht. Manchmal kommt es zu lautstarken Auseinandersetzungen, bisweilen sogar zu Handgreiflichkeiten. Vor allem jetzt im Winter, wo die Zahl der Besucher - rund 80 Prozent sind Männer - sprunghaft steigt und es an der langen Theke, auf der Saft, Tee, Brot und Butter zur freien Entnahme stehen und Kaffee um 40 Cent zu haben ist, ziemlich eng werden kann. "Wir haben uns deshalb eine Null-Toleranz-Grenze verpasst, um Eskalationen zu vermeiden“, sagt Nora Kobermann. Kommt es zu Beschimpfungen, wird ein Hausverbot ausgesprochen. Ebenso beim Konsumieren von Alkohol oder Drogen, bei Parasitenbefall oder - wie im Fall des Mannes draußen vor der Tür - beim Verdacht auf TBC. Spätestens bei der wöchentlichen Teamsitzung wird man klären, ob und wann sich für ihn wieder die "JOSI“-Pforten öffnen.

24 Leute arbeiten in der Tagesstätte, die Obdachlosen täglich von 9 bis 18 Uhr etwas Wärme und Ansprache bietet. Offiziell betrieben wird sie von der "wieder wohnen“ GmbH, einer Tochtergesellschaft des Fonds Soziales Wien. Während die Betreuerinnen und Betreuer hinter der Theke stehen, mit den Leuten ins Gespräch kommen oder ihnen beim Wäschewaschen helfen, unterstützen die Sozialarbeiterinnen die Klienten dabei, ihrem großen Ziel - einer eigenen Wohnung - einen Schritt näher zu kommen.

Nora Kobermann selbst hat vor drei Jahren erstmals ihren Fuß über die Schwelle der "JOSI“ gesetzt. "Ich wollte es einfach noch einmal wissen“, sagt sie rückblickend. Expertise hatte sie jedenfalls genug: Selbst als Schwester dreier Brüder am Wiener Laaer Berg aufgewachsen, war die ausgebildete Sozialarbeiterin bei der MA 12 (Sozialamt) tätig, bevor sie sich zehn Jahre lang ihrer Familie widmete. Als die vier Kinder sie zeitlich immer weniger in Anspruch nahmen, begann sie als Pfarrsekretärin zu arbeiten und managte bald Sozialprojekte in Bosnien, Rumänien und Albanien. Irgendwann, knapp vor ihrem 50er, reichte ihr auch das nicht mehr - und sie wagte den Sprung in die "JOSI“, ins Vollzeit-Engagement für Menschen, die fast alles verloren haben.

Ein paar Grundprinzipien sollen dafür sorgen, dass die Klienten hier zumindest ihre Würde bewahren: etwa die frische Unterwäsche, die man dank Spendengeldern neu kaufen kann und nicht gebraucht verteilen muss; oder die selbstverwaltete Küche, die - anders als eine Ausspeisung - zum eigenständigen Kochen anregen soll. "Manche leben auch nur von Marmeladebroten“, weiß die Sozialarbeiterin. "Aber das muss man akzeptieren, sie sind ja erwachsen.“

Nora Kobermann, die heute den Bereich Sozialarbeit leitet, kennt ihre Geschichten: die psychischen Erkrankungen und Abhängigkeiten, die zum Verlust von Job und Wohnung führen; oder die zerbrochenen Beziehungen, die manche vom Land in die Großstadt treiben, wo sie unter Brücken landen. Zugleich ist sie sich ihrer Grenzen bewusst: Sie kann zwar informieren und motivieren. Ob und wann ein Klient seine Dokumente zusammensucht und sich um eine Übergangswohnung bewirbt, entscheidet er jedoch selbst. "Ich sage den Leuten immer wieder: Nicht ich führe dein Leben, du führst dein Leben!“, stellt sie klar.

Diese Haltung gehört für die 52-Jährige unabdingbar zu ihrem Beruf. Ebenso freilich die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Not dieser Menschen. Und so führt Nora Kobermann mit Herzblut Schulklassen durch die "JOSI“, organisiert Spendenaktionen und brennt schon auf ihre nächste Aufgabe: das Implementieren des Freiwilligenmanagements in die "wieder wohnen“ GmbH. Egal ob junge, suchende Menschen, Pensionisten oder Erwachsene mit zusätzlichem Sinn-Bedarf: Sie alle sollen die Möglichkeit bekommen, sich zu engagieren.

Vielleicht werden sie dabei auch das erleben, was Nora Kobermann regelrecht ins Schwärmen bringt: das befruchtende Arbeiten in einem engagierten Team. "Wir reflektieren die Geschichten ziemlich gut. Und wir haben eine ausgeprägte Fehlerkultur“, sagt sie strahlend. Fehler zu machen - und aus ihnen zu lernen - gehöre schließlich immer und überall zum Menschsein dazu: im Beratungszimmer; vor der Theke; und erst recht da draußen vor der Tür.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung