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Ideen und Wirklichkeit in Asien

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DIE SUMME MEINES DENKENS. Von Jawaharlal Nehm. Herausgegeben und eingeleitet von K. T. N. C h a r. Übersetzt von P. B a u d i s c h. Kindler-Verlag, München, 1962. 364 Seiten. Preis 16.80 DM. - MAHATMA GANDHI, DER WEG ZUM FRIEDEN. Von Vincent Sheean. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien. 431 Seiten. Preis 12.80 DM. - MAO, CHINA UND DIE WELT VON HEUTE. Von Hans H e n I e. Union-Verlag, Stuttgart. 372 Seiten, 6 Karten. Preis 19.80 DM.

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DIE SUMME MEINES DENKENS. Von Jawaharlal Nehm. Herausgegeben und eingeleitet von K. T. N. C h a r. Übersetzt von P. B a u d i s c h. Kindler-Verlag, München, 1962. 364 Seiten. Preis 16.80 DM. - MAHATMA GANDHI, DER WEG ZUM FRIEDEN. Von Vincent Sheean. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien. 431 Seiten. Preis 12.80 DM. - MAO, CHINA UND DIE WELT VON HEUTE. Von Hans H e n I e. Union-Verlag, Stuttgart. 372 Seiten, 6 Karten. Preis 19.80 DM.

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Der jüngste Einfall und Eroberungsfeldzug chinesischer Truppen in bisher von Indien kontrollierte umstrittene Grenzgebiete haben den indischen Premierminister lawaharlal Nehru und seine Politik der Gewaltlosigkeit wieder in den Brennpunkt politischer Diskussionen gerückt. 1948, zur Unabhängigkeitserklärung Indiens, versprach Nehru seinem Volk: „Indien braucht keine Großmacht zu fürchten ... Wir sind nicht Bürger eines schwachen oder mittelmäßigen Landes. Ich finde es töricht, wenn wir, selbst unter militärischem Gesichtspunkt, auch die größten der heutigen Mächte fürchten.“ Heute, 14 Jahre darnach, mußte er seinem Volk eingestehen, daß Indien völlig unvorbereitet und ungerüstet den Angreifern gegenübersteht, daß die Ausrüstung der Truppen unzureichend, die Waffen veraltet und schlecht sind, und er muß vor dem Kongreß bekennen: „Wir hatten den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren.“

Nehru entstammt jener indischen Mittelschicht, die die Verbindung zu den englischen Kolonialherren aufrechterhielt und heute die Geschicke des Landes in Händen hat. In England erzogen, kann er sich mit Recht einen „Sohn Harrows und Cambridges“ nennen. Erfüllt von den Theorien des Sozialismus, der Humanität und dem mit dem wissenschaftlichen Fortschritt verbundenen Aufstieg der menschlichen Rasse kehrte er zurück nach Indien, um sich hier ganz der Verwirklichung dieser Ideen zu widmen. Sein geistiger Vater war Mahatma Gandhi: „Er war vielleicht das größte Symbol des vergangenen und, wenn ich es sagen darf, des künftigen Indien, das wir uns jemals hätten wünschen können.“ Und es war Gandhis Lehre und Idee vom Weltfrieden und der Gewaltlosigkeit, der sich Nehru in Denken und Handeln unterstellte und die er mit den Methoden europäischer Wissenschaftlichkeit durchzusetzen bestrebt war: „Die eigentlichen Probleme sind für mich nach wie vor die des individuellen und des kollektiven Lebens... das unablässige Streben nach etwas Edlerem und gesellschaftlicher Fortschritt. Bei der Lösung dieser Probleme sind wissenschaftliche Methoden anzuwenden: Beobachtung, präzises Wissen, klare Überlegung.“

Gandhi selbst war wiederum von — ans der abendländischen Tradition erwachsenen — Idealisten, wie Tolstoj, Lincoln und Ruskin stark beeinflußt. Er war ein großer Pazifist und hat Wesentliches zur Befreiung Indiens durch seine Methode des passiven Widerstandes beigetragen, obwohl man dabei nicht die taktischen Erwägungen der britischen Politiker unterschätzen sollte. Das befreite Indien und vor allem Nehru erblickten in der Gewaltlosigkeit eine große Philosophie, und sie versuchten sie zu ihrer Stärke zu machen: „Der Weg der Gewalt ist gefährlich. Wo Gewalt herrscht, wird die Freiheit selten lange leben ... Gewalt, ein Kind der heutigen Wirtschaftsstruktur! Unter einer sozialistischen Gesellschaftsform sollte dieses Übel verschwinden und in der gleichen Zeit das Gute zurückbleiben, das die großen Maschinen uns gebracht haben.“

Dieser „Weg der Wahrheit und des Friedens“, wie ihn Nehru darlegte und zum Teil auch beschritt, erwuchs aus den edelsten Motiven menschlichen Handelns. Es ist bewundernswürdig, wie weit Nehru diesen seinen Idealen treu geblieben ist, bedenkt man, gegen welche Schwierigkeiten er in seinem eigenen Land anzukämpfen hatte und hat. Eine dünne Mittelklasse europäisch geschulter Intelligenz mußte nicht nur versuchen, ihren Fortschrittsglauben auf die breiten Bevölkerungskreise auszubreiten, für die zum Teil heute noch die Arbeit als verachtungswürdig gilt, sondern sie mußte bemüht sein, ihre Wirtschaftsplanungen durchzusetzen, um wenigstens annähernd mit der immer größer werdenden Bevölkerungsexplosion fertig zu werden. Gegen sein eigenes Volk, das man in „Aberglauben und Rückschrittlichkeit“ verstrickt sieht, sich tolerant zu zeigen, weil man weiß, daß nur durch Uberzeugung und Überredung wahrer Fortschritt erzielt werden könne, zeugt von großem Verantwortungsbewußtsein und mitreißender Zuversicht in die Zukunft: „Dieser Tätigkeitsdrang, dieses Verlangen, das Leben tätig zu erfahren, hat mein ganzes Denken und Tun beeinflußt... Die Vergangenheit führt zum Heute, zu dem Augenblick der Tat, aus dem die Zukunft entspringt.“

Die von K. T. N. Char ausgewählten Stellen aus Reden und Schriften Nehrus zeigen uns einen großen Weltweisen mit einem unerschütterlichen Vertrauen in die Zukunft und zum Handeln, aber ob dies auch zu einer sicheren Staatsführung schon genügt, haben viele luder in der letzten Zeit zu bezweifeln gelernt. Für uns völlig unverständlich sind Diskussionen im indischen Parlament: „Hat Indien das Recht, Gewalt anzuwenden“, und Nehru, dessen Abneigung gegen das Militär im Kapitel „Gewaltlosigkeit“ deutlich zum Ausdruck kommt, betont dazu: „Die Methode der passiven Resistenz der Bevölkerung gegen eine Invasionsarmee ist bei weitem nicht absurd, sondern die einzige und eine sehr tapfere Methode, die der Bevölkerung übrigbleibt.“

Nehru und sein Freund Menon (bisheriger Verteidigungsminister) hatten Indien nicht vor der Möglichkeit eines Uberfalls bewahrt. Im Westen (Kaschmir) und Osten (Assam) haben die Chinesen in wenigen Tagen fast das ganze umstrittene Gebiet erobert. So ungeklärt die Frage der Rechte auf dieses Gebiet auch sein mag, die indische Bevölkerung hat den Rücktritt Menons erzwungen, und Nehru mußte eine radikale Änderung seiner Außenpolitik versprechen. Ob das wohl genügt?

Die beiden größten Staaten der Welt, Indien und China, sind nahezu zur gleichen Zeit zur Unabhängigkeit gelangt. Ihre neuere Geschichte ist mit den Namen zweier Männer verbunden: Mahatma Gandhi und Mao Tse-tung. Vincent Sheean hat im Jänner 1948 die Ermordung Gandhis miterlebt. Er sah, wie dieser Mann, der immer nur den Frieden und die Erringung eines Zieles durch Gewaltlosigkeit wollte, ein Opfer politischen Fanatismus wurde. Die persönliche Betroffenheit durch dieses Erlebnis durchzieht, wenn auch unausgesprochen, die Biographie, die Sheean von Gandhi gibt. Sheean ist selbst ein Besessener der Asinsa-Lehre, der Lehre der Gewaltlosigkeit, und deshalb gelingt ihm die Schilderung des Lebens- und Leidensweges Gandhis. Der kleine, zarte Rechtsanwalt, der vernarrt ist in die Idee der Gerechtigkeit, und der von dieser Aufgabe her eine solche Unerschrockenheit und Tapferkeit gegen die oft unsichtbaren Mächte der Unterdrückung entwickelt, bringt überall, wohin er auch kommt — in Südafrika und später in seiner Heimat Indien —, die Massen der Unterdrückten in Bewegung. Er bringt j“.n~, die ich bisher feig untet der Peitscic beugten, zum gleichen mutigen, gewaltlosen Widerstand, welcher Gandhis Leben kennzeichnet. Auf diese Art hat Gandhi für die Inder in Südafrika viele Rechte erzwingen können,und er hat mit seinem Aufruf zum passiven Widerstand dazu beigetragen, daß 1947 Indien die Unabhängigkeit erlangte. *

Völlig anders erreichte China 1949, nach fast hundertjähriger Bevormundung und Ausbeutung, durch eine Revolution seine Unabhängigkeit. Keine Nation dei Welt hat wohl je eine ähnliche Versklavung und Zerstörung erlebt, wie China das 19. und 20. Jahrhundert hindurch. Mao Tse-tung heißt hier der Fanatiker, dei Chinas Schicksal bestimmte. Er war begeistert von der Idee der Gleichheit der Menschen und erfüllt von der Aufgabe, den versklavten Bauern zu helfen, Blutig war hier der Weg, aber unaufhaltsam der Sieg der Roten Armee, da sie sich mit den Bauern verbündet hatte. Hans Henle, der den Entwicklungsgang Maos verquickt mit der Geschichte Chinas schildert, begeht nur den Fehler, daß er Erfolg und wirkliche Begeisterung, mit der sich die Befreiung in China vollzog, als kommunistische Leistungen wertet. Auch Mao Tse-tung ist nicht die eindrucksvolle Persönlichkeit, die er tatsächlich ist, weil er Kommunist ist, sondern weil er ein tiefes menschliches Anliegen verwirklichte. Viel eher scheint sich zu erweisen, daß die Befreiung, die im Mantel des Kommunismus kam, sich als neuer Käfig für die ehemals egeisterten erweist.

Beide Bücher treffen dort, wo sie biographisch sind, jedes auf seine Weise den richtigen Ton, um eine geschichtsmächtig gewordene Persönlichkeit zu schildern, dort aber, wo sie über die Zukunft Asiens Prognosen anstellen, zeigen sich die Autoren selbst als Betroffene jener Ideen, die sie nur referieren sollten — sie werden völlig ungeschichtlich. Sicherlich wird die Zukunft Asiens, die Entscheidung vieler noch unterentwickelter Länder, vom Erfolg und Mißerfolg dieser beiden asiatischen Gigantenstaaten abhängen. Aber der Sieg wird nicht durch eine Idee errungen, sondern von dem persönlichen Einsatz der Führer und der Geführten, der Funktionäre und der Uberzeugten. Darin liegt auch die letzte Chance und einzige Möglichkeit Europas, auf die Geschichte jener noch nicht oder kaum erwachten Staaten einzuwirken.

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